Permalink

1

„Auf, zu, crapaud!“ – Pilgerfahrt in die Vergangenheit

„Damals in den 1970er Jahren war das Becken selbstverständlich nicht beheizt“

„Damals in den 1970er Jahren war das Becken selbstverständlich nicht beheizt“

„Die Dichter behaupten, daß wir für Augenblicke das in uns wiederfinden, was wir einst gewesen sind, wenn wir in ein bestimmtes Haus, einen bestimmten Garten treten, in denen wir unsere Jugend verbracht haben. Doch sind dies höchst gewagte Pilgerfahrten, in deren Verlauf man ebenso viele Enttäuschungen wie Erfüllungen erlebt.“

(Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 3, Guermantes)

Lange Zeit wussten wir dieses Jahr nicht, wohin wir in Urlaub fahren sollten. Klar war, wir mussten mal wieder raus, aber es fehlte uns schlicht die Übung, daher sollte es nicht zu weit weg und auch nicht zu fordernd sein. Andererseits sollte es uns Abwechslung zum Alltag bringen. Irgendwann haben wir dann doch gespürt, was uns schon länger am meisten fehlte: das Meer. Nicht kleine, romantische Buchten sollten es sein, sondern die große Weite von Himmel und Meer.

So kamen wir auf die Normandie, die wir von einigen Reisen schon kannten, die aber bisher immer verbunden war mit viel Familie und Gepäck und einem bereits klar strukturiertem Tagesablauf. Diesmal waren wir zu zweit, ohne Kinder und Hund. Da Corinna als Kind und Jugendliche viele Ferien im Sommerhaus ihrer französischen Großeltern an der normannischen Küste verbracht hatte, wählten wir bewusst einen anderen Ort, um nicht ständig Erinnerungen aufkommen zu lassen. Proust warnt ja zurecht vor den gewagten Pilgerfahrten an die Orte der eigenen Vergangenheit.

Schließlich fanden wir ein kleines Appartment direkt am Meer. Aus allen drei Fenstern sahen wir einzig das Meer und den Himmel. Es war zauberhaft. Aber natürlich haben wir dann doch ein paar der Orte aufgesucht, die vor allem Corinna aus ihrer Vergangenheit schon kannte. Und so fuhren wir an einem eher kühlen, wolkenverhangenen Morgen nach Villers-sur-Mer und fanden dort das alte Schwimmbecken an der Strandpromenade, in dem Corinna schwimmen gelernt hat. „Und mit einem Mal war die Erinnnerung da.“ Das ist ihre Geschichte:

„Auf, zu, crapaud!“

Die langen Sommerferien, die wir im kleinen Sommerhaus der französischen Großeltern in der Normandie verbrachten, boten allen Familienmitgliedern die Gelegenheit zu besonderen Freizeitbeschäftigungen und dem Erlernen mancher Sportarten. Als wir noch Kleinkinder waren, hatte sich Papa gar ein Segelboot gekauft. Es hieß „windflower“, hatte ein orangefarbenes „w“ auf dem weißen Segel, und wackelte gefährlich – klein und leicht wie es war, in den großen Wellen des Ärmelkanals. Keine Frage, solange wir nicht schwimmen konnten, durften wir Kinder nicht in das Boot.

Als meine Schwester Ninia neun und ich sechs Jahre alt waren, meldete uns unsere Mutter bei einem Schwimmkurs an. Ich nehme an, es hatte mit diesem Segelboot zu tun, dass ich ausnahmsweise zusammen mit Ninia etwas erlernen sollte. Normalerweise war Ninia als Älteste von uns drei Mädchen die erste, die ein neues Feld der Großen erkundete. Ich wurde regelmäßig später zusammen mit meiner um zwei Jahre jüngeren Schwester Alexandra zu einem Kurs angemeldet. Alexandra und ich bildeten daher lange Zeit ein Paar, wir waren die „Puzzeles“, was wohl auf das schwäbische „Butzele“ zurückging. Da Ninia das „B“ aber wie ein „P“ aussprach, dachte ich lange, wir seien kleine Puzzle-Teilchen, die einfach aus Sicht der Älteren, die über uns entschieden, für so Vieles noch zu klein schienen. Ninia mochte wohl diese Abgrenzung, denn sie wollte von der Gewohnheit, uns so zu bezeichnen, noch lange nicht Abstand nehmen. Vielleicht profitierte ich in diesem Sommer aber auch von Ninias Qualen unter einer strengen Schwimmlehrerin in der Grundschule. Wollte man mir, die ich bald zur Schule gehen sollte, das ersparen?

Das Schwimmbad befand sich unmittelbar an der Strandpromenade im Stadtzentrum des kleinen Städtchens. Es war ein reines Lehr-Schwimmbecken ohne Dach. Darüber befindliche Stufen luden Spaziergänger zum Verweilen ein. Damals in den 1970er Jahren war das Becken selbstverständlich nicht beheizt und zudem, weil Schutzwände fehlten, dem ständigen Wind in der Normandie ausgesetzt. Damit der Familien-Tagesablauf durch die Schwimmstunden nicht gestört wurde, hatte unsere Mutter die tägliche Lektion zudem für den frühen Vormittag vereinbart.

In zwei sehr engen Kabinen zogen wir uns um, um gleich wieder einen Pullover über den Badeanzug anzuziehen, da wir erst auf ein Zeichen des Schwimmlehrers warten mussten, bevor wir ins Becken steigen durften. Ich konnte die violett-blauen Lippen der anderen Kinder im Wasser sehen, und es war schwer zu sagen, ob ich diese wegen der Tortur bemitleidete oder sie vielmehr beneidete, weil deren Ende nahte. Bei sonnigem Wetter hätte die hellblaue Farbe des Wassers vielleicht noch etwas Einladendes haben können. Da der normannische Himmel jedoch oft gänzlich von Wolken bedeckt ist, wirkte das Blau kalt und abweisend. Die Beckenwände fühlten sich rau an und hatten unangenehme Kanten. Ich wäre in diesen Minuten des Wartens wohl viel lieber ein Puzzele gewesen, um nicht ins Becken steigen zu müssen.

Über viele Jahre waren es immer dieselben zwei Schwimmlehrer, die dort unterrichteten, an ihre Namen erinnere ich mich nicht. Wir unterschieden sie als Kinder ohnehin nur an der immer selben Farbe ihrer Badehosen. Ninia hatte den mit der roten Badehose als Lehrer bekommen, ich den mit der blauen; beide schienen sie uns gleich streng. Nein, heimlich dachte ich, der mit der roten Hose sei vielleicht noch etwas strenger, denn er hatte die Angewohnheit, scharf und kurz zu pfeifen, wenn seine Schüler nicht folgten.
Die ersten Stunden waren die schlimmsten, denn mit all dem, was ich noch außerhalb des Beckens anzulegen hatte, konnte ich mich kaum mehr bewegen. Um den Bauch bekam ich einen Schwimmgurt, der aus einem schwarzen Gürtel mit einigen abnehmbaren, harten, gelben Luftdosen bestand. Darüber wurde ein breiter, schwarzer Ring um die Brust gestülpt, und mit den Armen musste ich mich an einem Brett festhalten. Dieses Brett hatte ein Loch, durch welches der Schwimmlehrer seine lange Metallstange führte und einen so durch das Wasser zog.

Verstehen konnte ich seine Anweisungen nicht, dazu genügte mein Französisch damals nicht. Ich war auf Mama als Übersetzerin angewiesen. Daher war es besonders schlimm, wenn Mama noch etwas in der Stadt erledigen wollte und sich vom Schwimmbad entfernte. Ich wollte nicht den Unmut des Schwimmlehrers auf mich ziehen, indem ich seinen Anweisungen nicht nachkam. Deshalb ließ ich meinen Schwimmlehrer nicht aus den Augen, damit mir keine seiner Gesten entging.

Von Anfang an, also ohne dass ich schwimmen konnte, musste ich den Kopfsprung üben. In voller Montur ließ mich der Lehrer aus dem Becken steigen und mich auf dem mit nassem Tuch bedeckten Brett am tieferen Ende des Beckens niederknien. Dann waren die Arme nach oben auszustrecken und hinter die Ohren zu legen. So galt es, zunächst die übereinander gelegten Hände, dann den Kopf und schließlich den Oberkörper langsam zum Wasser hinzubewegen, bis man nach vorne überkippte. Alle paar Tage wurde die Aufgabe schwieriger, denn dann musste ich das Ganze aus der Hocke und anschließend im Stehen ausführen. Gelangte nicht der Kopf als erstes ins Wasser, musste man die Übung so lange wiederholen, bis er es tat.

Die Schwimmstunde dauerte wahrscheinlich nicht länger als 20 Minuten, aber diese erschienen mir unendlich lang. Wenn das ersehnte Handzeichen zum Ende des Unterrichts vom Lehrer kam, konnte ich, einmal dem Becken entstiegen, mich kaum mehr bewegen. Sowohl beim Ablegen der Schwimm-Montur als auch beim Anziehen musste mir meine Mutter helfen. Sie flösste uns heißen Tee ein, an dem wir uns Lippen und Zunge verbrannten. Eingehüllt in sämtliche Kleidung, die zur Verfügung stand, begannen Ninia und ich zu schlottern. Ein paar Mal, erinnere ich mich, kam Opa Michel zum Zuschauen, und er kaufte uns heiße Crêpes mit viel Zucker und zerlaufener Butter.

Den ganzen Tag übte ich meine Schwimmbewegungen – im Trockenen, versteht sich, wahlweise auf dem rosafarbenen Teppich des Wohnzimmers oder auf der Schaukel. Dazu wiederholte ich mir immer wieder die von Mama beschriebene Abfolge der Beinbewegungen: Auf – zu – crapaud, auf – zu – crapaud. „Crapaud“ heißt auf französisch Kröte, und noch heute kann ich keine Krötenbeine betrachten, ohne an meine ersten Schwimmstunden zu denken.

Fast jeden Tag entfernte der Lehrer eine der gelben Luftdosen vom schwarzen Gürtel, und immer hatte ich sogleich das Gefühl, wieder stärker nach unten zu sinken. Auf einem alten Film, den Papa gedreht hat, ist zu sehen, wie ich den Kopf weit in den Nacken lege, um wenigstens mein Gesicht aus dem Wasser zu halten.

Zehn unendlich lange Tage dauerte es, dann hieß es, sämtliche Schwimmhilfen abzulegen, die Handflächen wie zum Gebet vor die Brust zu nehmen und das Becken hin und zurück zu durchqueren. So haben wir schwimmen gelernt.

Corinna Kern

Der wolkenverhangene Charme der Nachsaison

Der wolkenverhangene Charme der normannischen Nachsaison

Print Friendly, PDF & Email

1 Kommentar

  1. Was für eine herrliche Geschichte, man bibbert beim Lesen richtig mit; die Menschen und die Atmosphäre sind sehr anschaulich beschrieben. Vielen Dank!

GDPR Cookie Consent mit Real Cookie Banner