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Urlaub in Schottland: »Sommerwasser«

»Draußen geschieht nichts. Regen, der See, die Bäume, noch mehr Regen.«

»Draußen geschieht nichts. Regen, der See, die Bäume, noch mehr Regen.«

Beäugen, beobachten, urteilen

»Mit Regen muss man hier rechnen, aber so ist es normalerweise nicht. Es regnet Bindfäden, hätte sein Vater gesagt. Wenn das so weitergeht, ist die Straße unten bald überschwemmt. Es ist kein schottischer Regen, eher tropisch, nicht dass er mal in den Tropen gewesen wäre oder auch nur dort hingewollt hätte.«

Im Juli 2023 erschien im Unionsverlag der neue Roman »Sommerwasser« der britischen Autorin Sarah Moss. In dieser scharfsinnigen Sozialstudie geht es um Touristen, deren Urlaub an einem schottischen See komplett ins Wasser fällt. Denn es regnet fast ohne Unterbrechung. Was dazu führt, dass nur wenige Unternehmungen möglich sind, und die kleine, zufällige Gesellschaft von Urlaubern in den Hütten am Seeufer sich gegenseitig beäugt, beobachtet und zu ihren Schlüssen kommt. Wir alle kennen das und machen das, im Bus, am Strand oder im Restaurant: sich aus flüchtigen Eindrücken ein Urteil über andere bilden. Blitzschnell geht das mitunter, so dass man es kaum bewusst wahrnimmt.

Wanderung von Kopf zu Kopf

Das langsam voranschreitende Geschehen wird in 12 Kapiteln aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Die Autorin wandert sozusagen von Kopf zu Kopf. Erst langsam entsteht für den Leser ein zusammengesetztes Bild. Wahrscheinlich um die einzelnen Personen erstmal besser umreißen zu können, hat Sarah Moss den personalen Erzählstil gewählt. Wir lernen die Person also erstmal mit Namen in ihrem Umfeld kennen. Kurze Dialoge, die häufig um das Wetter, den Urlaub, häusliche Verrichtungen oder die eigene Langeweile kreisen, werden im Fließtext wiedergegeben. Richtig interessant wird es jedoch dann, wenn die Autorin – zu Beginn etwas unvermittelt – auch den Gedankenstrom der jeweiligen Person wiedergibt. Denn hier hört regelmäßig der zivilisierte Umgang auf und die menschlichen Abgründe erscheinen …

So beginnt der Roman mit Justine, einer gestressten Mutter um die 40, die bereits um 5 Uhr morgens aufsteht, um beim Laufen Abstand zu ihrer Familie, insbesondere ihrem Mann Steve zu finden. So gut tut ihr mental das Laufen, dass sie die Strecke immer wieder um ein kleines Stück verlängert, obwohl sie die leisen Signale der Überforderung ihres Körpers nicht gänzlich ignorieren kann.

»Licht rinnt übers Wasser durchs Geäst. Auf dem See liegt der Himmel (...)«

»Licht rinnt übers Wasser durchs Geäst. Auf dem See liegt der Himmel (…)«

Da ist David, Arzt im Ruhestand, dem die fortschreitende Demenz seiner Frau Mary Sorgen bereitet. Da sind Kinder, die trotz des Regens nach draußen geschickt werden, und sich striezen. Und Jugendliche, die so genervt von ihren Eltern und der öden Situation sind, dass sie waghalsige Dinge tun. Das junge Paar, Milly und Josh, in deren Köpfe wir nacheinander ebenfalls wandern, scheinen die einzigen zu sein, denen der Regen weniger ausmacht, denn sie sind hauptsächlich miteinander im Bett beschäftigt.

»Sie öffnet die Augen, nimmt die Schottenkarovorhänge wahr und die Kiefernwände, den Geruch nach Lufterfrischer, den sie nicht mehr ständig bemerkt. Eine Tasse Tee und ein Schinkenbrötchen wären wunderbar, denkt sie, aber sie sagt, küss mich, und greift nach hinten, um das Kopfteil hinter ihrem Kopf zu fassen, das sich als leicht klebrig erweist.«

Schwieriges Zusammenleben

Im Urlaub verbringen wir meist weitaus mehr Zeit miteinander als im Alltag. Diese Herausforderung übersieht man bei der Vorfeude auf den Urlaub leicht. Der andauernde Regen verschärft die Situation für die Menschen am schottischen Loch: das Zusammensein ist erzwungen, genauso wie die Isolation von der Außenwelt. Neben dem Regen vereint die Gruppe zusätzlich ein nach und nach anwachsender Ärger über eine weitere Familie, die dort ebenfalls eine Ferienhütte gemietet hat. Von dieser Familie lernen wir nur das Kind Violetta aus Sicht eines anderen Kindes kennen, sie bleibt auch dem Leser fremd, wie ihr merkwürdiger Nachname, der jedoch nicht genannt wird.  Dem Regen trotzend feiert diese Familie mit lauter Musik bis spät in die Nacht hinein. Alle anderen Uralauber fühlen sich mehr oder weniger gestört und denken daran, irgendwann dagegen etwas zu unternehmen…

Mal einfühlsam, mal entlarvend, mal scharfsinnig-witzig entführt uns Sarah Moss in fremde Gedankenwelten und offenbart uns dabei das ganze Spektrum menschlichen Daseins: feine Dissonanzen, Missverständnisse, wunde Punkte bis hin zu düsteren Abgründen. Trotz der ständig wechselnden Perspektiven hat der Roman eine gute Spannung, die in einem fulminanten Schluss endet, den wir hier natürlich nicht verrraten.

Wir wünschen spannende Unterhaltung!

CK | NK

Buchinformation

Sarah Moss
Sommerwasser
übersetzt von Nicole Seifert | Marie Isabel Matthews-Schlinzig, Auszüge aus: The Ballad of Semmerwater
gebunden, 192 Seiten, Unionsverlag, Zürich
ISBN: 978-3-293-00609-6

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Tübingen liest: Bücherfest 2023

Tübingen liest! Einlesen fürs Tübinger Bücherfest 2023

Tübingen liest! Einlesen fürs Tübinger Bücherfest 2023

Bücherfest 2023: 22. bis 24. September 2023

In diesem Jahr findet in Tübingen wieder das Bücherfest statt, das 1998 erstmals von den Buchhandlungen Osiander und Gastl ins Leben gerufen wurde. Es findet alle zwei Jahre statt und ist mittlerweile für Freundinnen und Freunde der Literatur weit über Tübingen hinaus ein gesetzter Termin im literarischen Kalender.

Programmheft Tübinger Bücherfest 2023

Programmheft Tübinger Bücherfest 2023

Kein Wunder, bringen doch auch ganz große Namen ihre Bücher in unsere »kleine große Stadt«. In diesem Jahr lesen unter anderem: Doris Dörrie, Robert Seethaler, Adriana Altaras, Arno Geiger, Kateryna Mishchenko, Navid Kermani, Angelika Overath und der Shooting Star der Saison: Caroline Wahl. Letztere wird zwar nicht mit uns ein paar Bahnen schwimmen, dafür aber aus ihrem wunderbaren Debütroman »22 Bahnen« vorlesen.

Die Macherinnen und Macher des Tübinger Bücherfestes* haben ein reichhaltiges und bereicherndes Literaturmenü zusammengestellt, das großen Genuss verspricht. Das Programmheft liegt ab sofort in den Tübinger Buchhandlungen aus und kann hier als pdf runtergeladen werden. Karten für die einzelnen Veranstaltungen können auf der Bücherfest-Website gekauft werden.

NK | CK

* Das Bücherfest-Team

Monika Fridrich (Stadtbücherei Tübingen), Ulrike Geist (Lyrikhandlung am Hölderlinturm), Nancy Hünger (Studio Literatur und Theater), Helge Noack (Buchhandlung Wekenmann), Ulrike Sander und Heinrich Riethmüller (Osiandersche Buchhandlung), Frieda Ennen, Michael Raffel

Schöne Postkarte Nr. 230 · Das Foto für diese Postkarte entstand beim Tübinger Bücherfest 2017

Das Foto für diese Postkarte entstand beim Tübinger Bücherfest 2017. © Schöne Postkarten

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Haiku für eine Fichte

Nur 30 Jahre alt wurde die Fichte, jetzt haben ihr Trockenheit und ein Sommersturm den Garaus gemacht

Nur 30 Jahre alt wurde diese Fichte, Trockenheit und ein Sommersturm haben ihr den Garaus gemacht

Sommersturm –
der alten Fichte Tage
sind gezählt

Sommerstorm –
counted are the days
of the old spruce

Haiku für eine Fichte

Bis zu 300 Jahre alt können Fichten bei optimalen Bedingungen in unseren Breiten werden. Die ältesten Exemplare sind sogar über 8000 Jahre alt. Sie stehen in der mittelschwedischen Provinz Dalarna, wo Wissenschaftler das Alter einer einzelnen Fichte sogar auf fast 10.000 Jahre bestimmt haben. Mehr Informationen zu dieser »Methusalem-Fichte« gibt’s hier.

Fichten, der deutsche Wirtschaftsbaum schlechthin, leiden besonders unter dem Klimawandel: Hitze, Trockenheit und Schädlinge setzen ihr mächtig zu. Auch die schöne Fichte hinter dem ehemaligen Hühnerstall meiner Oma wurde jetzt ein Opfer der Trockenheit. Als Flachwurzler kann dieser Baum nicht genügend Wasser aus den Tiefen des Bodens ziehen (wenn es denn ausreichend Bodenfeuchte hat) und ist auch deutlich windanfälliger. Im letzten Sommersturm hatte sie sich deutlich geneigt und musste jetzt aus Sicherheitsgründen leider gefällt werden.

Ein schönes Buch über seinen Wald hat der Engländer John Lewis-Stempel geschrieben.: »Im Wald – Mein Jahr in Cockshutt Wood«. Wir haben es vor einer Weile hier im Blog besprochen.

NK | CK

Schöne Postkarte Nr. 133 · Der Trost der Bäume · © Schöne Postkarten, Tübingen

Schöne Postkarte Nr. 133 · Der Trost der Bäume · © Schöne Postkarten, Tübingen

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Sommermelancholie

Bank an der Wegkreuzung »Quatre Chemins« bei Ecussols im südlichen Burgund

Bank an der Wegkreuzung »Quatre Chemins« bei Ecussols im südlichen Burgund

The peonies gone
summer’s melancholy
starts to bloom

Haiku for our dear friends Julie and Jack Ridl who sure know about peonies, poetry and kindness.

Die Päonien verwelkt
jetzt blüht die
Sommermelancholie

Schönes Wochenende!

NK | CK

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Tempi Passati · Robert Gernhardt

Das Leben kann auch ohne Waschbrettbauch ziemlich cool sein. Foto: Norbert Kraas

Das Leben kann auch ohne Waschbrettbauch ziemlich cool sein. Foto: Norbert Kraas

Tempi Passati

Blütenfrohe Jugendzeit,
als mein Bauch ein Brett war,
weil die Folge guter Kost
Wachstum und nicht Fett war.
Seit sich das geändert hat,
was nicht gerade nett war,
seufz ich der Verlornen nach,
golden, doch unrettbar

Robert Gernhardt

Hund und Sisyphos

Jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe rolle ich meine Gymnastikmatte aus und mache, unter den mitleidigen Blicken unseres Hundes, meine Übungen. Primär bringe ich diese Disziplin für meinen unteren Rücken auf, aber ein bisschen gönne ich mir an manchen Tagen die naive Hoffnung, ich könne so den Alterungsprozess, wenn nicht stoppen, so doch zumindest verlangsamen. Wenn unsere Hündin sprechen könnte, würde sie mir wahrscheinlich sagen, dass man sich den Mann auf der Matte, der da so komische Verrenkungen macht, als glücklichen Menschen vorstellen muss.

Einer der Besten

Vor ein paar Tagen hat mich ein Bekannter auf Twitter mal wieder auf Robert Gernhardt aufmerksam gemacht, der am 13. Dezember 1937 in Tallinn (Estland) zur Welt kam und am 30. Juni 2006 in Frankfurt am Main zu früh verstarb. Volker Weidermann hat den wunderbaren Gernhardt in einem Artikel am 2.7.2006 in der F.A.Z. „als Künstler des hohen Tons und leichten Witzes“ bezeichnet und: „Als einen der besten Dichter, die wir je hatten.“

Dem ist ist nichts hinzuzufügen – außer vielleicht, dass wir alle, gerade in diesen verbissenen, herausfordernden Zeiten, in denen Häme und Hass zu leichtes Spiel haben, viel öfter Gernhardt lesen sollten. Sein Humor und seine klugen Worte, sie fehlen!

NK | CK

Buchempfehlung

Robert Gernhardt
Gesammelte Gedichte 1954 – 2006
FISCHER Taschenbuch, 2017
ISBN: 978-3-596-90659-8

Sonderseite Robert Gernhardt

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Westsplaining: „Alles ist teurer als ukrainisches Leben“

„Debattenwolken, die sich aus Ignoranz, Relativierung und Überheblichkeit speisen“

„Debattenwolken, die sich aus Ignoranz, Relativierung und Überheblichkeit speisen“

Vor ein paar Tagen waren wir bei einer Podiumsdiskussion an der Universität Tübingen. Diskutiert wurde unter der Leitung des Tübinger Osteuropa-Historikers Professor Klaus Gestwa darüber, wie es in der Ukraine jetzt weitergehen kann nach der Meuterei der russischen Privatarmee Wagner.

Auf dem Podium saß auch die ukrainische Wissenschaftlerin Dr. Oksana Huss. Ihre Spezialgebiete sind u.a. Anti-Korruption, Korruptionsforschung, hybride Regime, Transparenz in Regierungen. Zum Ende gab es eine lebendige Diskussion mit dem Publikum, und da kam die Frage auf, wie es denn sein könne, dass der Westen (und besonders Deutschland) vom völkerrechtswidrigen Einmarsch der russischen Armee am 24. Februar 2022 so dermaßen überrascht sein konnte. Und überhaupt, setzte der Fragesteller nach, warum wir denn so wenig wussten über dieses große Land Ukraine, das im Dezember 1991 seine staatliche Unabhängigkeit erlangt hat. Oksana Huss auf dem Podium blieb äußerlich ruhig, aber ihre Antwort war – sinngemäß – ziemlich eindeutig: Die Ukraine und ihre Geschichte hat die Deutschen schlicht nicht interessiert. Stattdessen war die Bundesregierung an billiger Energie interessiert und an einem guten Verhältnis zu Putin.

Schaut man sich vor diesem Hintergrund des deutschen Nichtwissenwollens die belehrenden Auftritte nicht weniger deutscher Intellektueller seit dem Ausbruch des russisches Angriffskrieges an, dann versteht man sehr gut, dass nicht nur Intellektuelle in der Ukraine genug von der Besserwisserei haben. Und damit sind wir beim heutigen Buch, dass sich mit der Ignoranz und der Besserwisserei des Westens gegenüber der Ukraine befasst.

„Alles ist teurer als ukrainisches Leben – Texte über Westsplaining und den Krieg“

So heißt der Band, der in chronologischer Reihenfolge 35 Texte ukrainischer, aber auch mittel- und osteuropäischer Autorinnen und Autoren, versammelt, die sich mit den Belehrungen westlicher Intellektueller und Politiker*innen auseinandersetzen. Wir erinnern uns noch an die offenen Briefe von Schwarzer, Wagenknecht und Co., oder etwa an den denkwürdigen Auftritt Harald Welzers, als dieser den damaligen ukrainischen Botschafter bei Anne Will wie einen Schüler abgekanzelt hat.

Herausgegeben wurde das Buch von den Tübinger Wissenschaftlerinnen Professorin Schamma Schahadat und Dr. Aleksandra Konarzewska und Dr. Nina Weller von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder.

In den unbedingt lesenswerten, teils wütenden, meist furchtbar enttäuschten Texten geht es um Kultur, Geschichte, Literatur, Imperialismus, Erinnerungskultur, Erinnerungspolitik. Praktisch jeder Text, der erste datiert vom 2. März 2022, der letzte vom 2. Dezember 2022, ist ein Augenöffner und zwingt den Leser zum demütigen Nachdenken über das eigene Wissen oder Nichtwissen und über die eigenen Vorurteile.

Einfach mal die Klappe halten

Aber was genau heißt „Westsplaining“, und woher kommt dieses Wort? Der polnische Erfolgsautor Szcepan Twardoch klärt uns auf. „Men Explain Things to Me“ ist ein Buch der US-Autorin Rebecca Solnit, das sich mit dem weitverbreiteten Phänomen befasst, das viele Männer überzeugt sind, dass sie Frauen die Welt erklären müssen. Der Begriff „mansplaining“ bringt diese Haltung in einem Kunstwort auf den Punkt. Doch zurück zum „Westsplaining“ (West + explaining); Twardoch schreibt:

„Liebe westeuropäische Intellektuelle: Ihr habt keine Ahnung von Russland. Niemand im Westen kann verstehen, was es heisst, im russischen Machtbereich leben zu müssen. (…) Ihr versteht es nicht und noch weniger versteht ihr Osteuropa – denn während Russland euch faszinieren mag, unsere Zubrowkas und Ruritaniens bleiben für euch immer eine terra nulliss. Da ihr nichts versteht, ist es höchste Zeit, dass ihr in Fragen Russlands und Osteuropas einfach mal die Klappe haltet.“

Klingt hart, was Twardoch da am 6. April 2022 in der NZZ schrieb. Aber wenn ich mich ehrlich frage, was ich bis zum 24. Februar 2022 über die Ukraine wusste, muss ich ihm Recht geben. Ich wusste kaum etwas. Es ist traurig, dass erst dieser Krieg dazu führte, sich intensiver mit der ukrainischen Geschichte und Literatur zu befassen.

Aber noch beschämender und unverständlicher ist es, dass es immer noch Politiker und Intellektuelle in Deutschland gibt, deren Empathie gegenüber den Menschen in der Ukrainie bis gegen Null geht. Da ist man lieber bereit, Putin ein wenig von der Ostukraine abzugeben (die Krim sowieso), um den angeschlagenen Diktator nicht weiter zu reizen. Und dann, wenn er bekäme, was er will, hätte man ja auch wieder seine Ruhe, und das Gas würde vielleicht auch wieder fließen.

Verklärung der russischen Kultur

Es ist diese Konzentration auf die eigene westliche Befindlichkeit gepaart mit der Besserwisserei, die die Menschen in der Ukraine enttäuscht und wütend macht. Denn sie sind es, die diesen Krieg kämpfen und ertragen müssen.

Die Texte in diesem Buch beleuchten das Phänomen „Westsplaining“ aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln, angefangen bei der weit verbreiteten Verklärung der russischen Literatur und Kunst, wo wir lange die kolonialen Großmachtsansprüche Russlands übersehen haben oder nicht sehen wollten. Stattdessen schwärme man von der russischen Seele, den endlosen Weiten, von Omar Sharif als Doktor Schiwago, und wenn im Hintergrund die Balalaika erklang, dann bekamen wir feuchte Augen.

Ich weiß nicht, ob allen Verehrern der russischen Literatur klar ist, was der Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn trotz „Archipel Gulag“ für ein überzeugter Nationalist war, der gegen Ende seines Lebens Putin ausdrücklich gelobt hat. Und wer von uns wusste schon, dass der große Dichter Joseph Brodsky, auch er Nobelpreisträger und Exilrusse, ein ganz furchtbares, ekliges Schmähgedicht auf die Ukraine geschrieben hat?

„An Joseph Brodsky oder Alexander Solschenizyn sieht man, dass die russische Überheblichkeit und imperialen Ideen selbst das Bewusstsein bedeutender Autoren verseuchen. Brodsky und Solschenizyn waren Gegner des Sowjetregimes und wurden ausgewiesen, entwickelten sich aber im Westen zu russischen Nationalisten.“

So der ukrainische Literaturwissenschaftler Petro Rychlo im Interview mit Michael Martens.

Auslöschung ukrainischer Kultur

Die Schriftstellerin Victoria Amelina, die vor ein paar Tagen ihren Verletzungen nach dem russischen Angriff auf ein Restaurant in Kramatorsk erlegen ist, wunderte sich in ihrem Beitrag darüber, dass man im Westen noch im Frühjahr 2022 lieber über den Umgang mit der russischen Kultur und russischen Künstler*innen debattiert hat, anstatt sich damit zu befassen, was die russischen Besatzer in der Ukraine mit der ukrainischen Kultur machen: vernichten, auslöschen, ausradieren. Für Amelina war die zentrale Frage:

„Wird es Russland gelingen, die ukrainische Kultur ein weiteres Mal hinzurichten? Vor der großflächigen Invasion, als die Bedrohung schon in der Luft lag, dachte ich immer wieder an die Hingerichtete Renaissance der Ukraine. In den 1930er Jahren ermordete das sowjetrussische Regime die Mehrheit der ukrainischen Schriftsteller:innen und Intellektuellen.“

Es ist mehr als bitter, dass mit Victoria Amelina jetzt wieder eine ukrainische Schriftstellerin und Intellektuelle Opfer brutaler russischer Aggression wurde. Sie hat sich zuletzt in einer Initiative aktiv mit der Dokumentation russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine befasst. Ein Interview mit der Übersetzerin Claudia Dathe im Deutschlandfunk zum Tod von Victoria Amelina kann man hier anhören.

Die Liste der Autorinnen und Autoren, die in diesem Band versammelt sind, ist beeindruckend lang und vielfältig. Die meisten davon sind hier im Westen wahrscheinlich noch nicht allzu bekannt; mir ging es jedenfalls so. Ausnahmen bilden hier sicher: Friedenspreisträger Zerhij Zhadan, die Historikerin Franziska Davies oder der US-Historiker Timothy Snyder. Zu allen Autor*innen gibt in einem Verzeichnis eine kurze Beschreibung, genaue Angaben zur Erstveröffentlichung der Texte stehen jeweils am Ende der Aufsätze.

Wichtiges Aufklärungsbuch

„Westsplaining“ ist ein wichtiges und lehrreiches Debatten- und Aufklärungsbuch, das, in chronologischer Reihenfolge gelesen, sowohl den furchtbaren Krieg als auch die Debatten um unsere Haltung dazu nochmal glasklar vor Augen führt. Es ist ein großes Verdienst der Herausgeberinnen und des Verlags edition.fotoTAPETA, das sie dieses Werk so schnell zusammengestellt und produziert haben. Diesem Buch sind neue Auflagen und viele Leserinnen und Leser zu wünschen!

NK | CK

PS: Im Rahmen der Reihe „Brennpunkt Ukraine“ des Slavischen Seminars und des Seminars für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen findet am 12. Juli 2023 eine Veranstaltung mit zwei Autorinnen des Buches statt: Natalka Sniadanko (Leipzig) und Kateryna Mishchenko (Berlin) sprechen über Westsplaining:
Hörsaal 001, Altes Oberschulamt, Keplerstraße 2, Tübingen. Alle Infos auch hier.

Buchinformation

Alles ist teurer als ukrainisches Leben. Texte über Westsplaining und den Krieg
Herausgegegen von Aleksandra Konarzewska, Schamma Schahadat, Nina Weller
edition.fotoTAPETA, Berlin 2023, broschiert
ISBN 978-3-949262-29-6

Interview mit Prof. Dr. Schamma Schahad im DLF

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Lange Wellen, lässige Musik

Der Blick auf Meer und Wellen hat, so Studien, entspannende Wirkung

Der Blick auf Meer und Wellen hat, so Studien, entspannende Wirkung

Meer

Wenn man ans Meer kommt
soll man zu schweigen beginnen
bei den Grashalmen
soll man den Faden verlieren

und den Salzschaum
und das scharfe Zischen des Windes einatmen
und ausatmen
und wieder einatmen

Wenn man den Sand sägen hört
und das Schlurfen der kleinen Steine
in langen Wellen
soll man aufhören zu sollen
und nichts mehr wollen wollen nur Meer
Nur Meer

Ein Gedicht von Erich Fried (1921 – 1988) zum Thema Meer, das uns die belesene Frau S., die am Schwäbischen Meer wohnt, empfohlen hat.

Wir empfehlen euch heute noch den Singer-Songwriter, Filmemacher und ehemaligen Profisurfer Jack Johnson, der 1975 auf Hawaii das Licht der Welt erblickt hat. Johnson macht ziemlich entspannte Musik, die man nicht nur mit dem Blick auf die Wellen anhören kann. Von seinem fünften Album „To the Sea“ ist dieser Song:

Nicht so weit rausschwimmen!

NK | CK

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Sanfte Spiegelungen des Meeres

Gibt es eine Tagezeit, eine Jahreszeit, wo das Meer nicht fasziniert?

Gibt es eine Tageszeit, eine Jahreszeit, wo das Meer nicht fasziniert?

Für Marcel Proust war das Meer, vor allem das Meer der Normandie, nicht einfach nur Wasser und Wellen, für ihn war es ein Mysterium, das auch nachts zu uns spricht. Proust war, wie viele von uns, verzaubert vom Meer.

„Es ist nicht wie die Erde vom Himmel geschieden, ist immer im Einklang mit seinen Farben, erregt antwortet es schon seinen zartesten Tönen. Es erstrahlt unter der Sonne und jeden Abend scheint es mit ihr zu sterben. Und wenn sie verschwunden ist, fährt es fort, ihr nachzutrauern, etwas von ihrer lichten Erinnerung zu bewahren, vor dem Angesicht der eintönig finsteren Erde. Es ist der Augenblick seiner melancholischen und so sanften Spiegelung, das man bei ihrem Anblick spürt, wie das Herz schmilzt.“

Man spürt bei diesen Zeilen förmlich, wie das geliebte Meer Prousts geschmolzenes Herz hinwegträgt. Wer mag, kann das nachlesen in „Freuden und Tage“, übersetzt von Luzius Keller, erschienen bei Suhrkamp.

Lasst euch verzaubern!

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Es erfrischt unsere Einbildungskraft

Erfahrene Schwimmerinnen wissen um die elektrisierende Kraft des Meeres

Erfahrene Schwimmerinnen wissen um die elektrisierende Kraft des Meeres

Auch wenn sein berühmter Vater, Adrien Proust, Professor für Medizin an der Sorbonne, es gerne anders gehabt hätte, Marcel war nicht sportlich, sondern kränklich. Mit neun soll der kleine Marcel den ersten Asthmaanfall gehabt haben. Er starb mit 51 Jahren kurz nach Vollendung der „Recherche“. Aber auch der Nichtsportler Proust wusste um die belebende Kraft des Meeres.

„Es erfrischt unsere Einbildungskraft, denn es läßt uns nicht an das Leben der Menschen denken, und es erfreut unsere Seele, denn es ist wie sie unendliches und ohnmächtiges Streben, auch aufschwingende und immer wieder gebrochen herniedersinkende Kraft, ewige und sanfte Klage. So bezaubert es uns wie die Musik, die nicht wie die Sprache die Spur der Dinge trägt, uns nichts von den Menschen sagt, aber die Bewegungen unserer Seele nachahmt. Wenn unser Herz sich in diesen Wellen aufschwingt und mit ihnen zurückfällt, dann vergißt es seine eigene Schwäche und tröstet sich mit der innigen Harmonie zwischen seiner Traurigkeit und der des Meeres, die sein Geschick mit dem der Dinge vereint.“

Ist das nicht wunderbar, was Proust da in „Freuden und Tage“ über das Meer schreibt? Die deutsche Übertragung stammt von Luzius Keller, das Buch ist bei Suhrkamp oder antiquarisch erhältlich.

Lasst euch elektrisieren!

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Ans Meer gehen, sich um nichts kümmern

Kontemplative Ruhe am Strand von Trouville-sur-Mer, wo Proust mehrere Sommer verbracht hat

Kontemplative Ruhe am Strand von Trouville-sur-Mer, wo Proust mehrere Sommer verbracht hat

Liebe Freundinnen und Freunde,

der Reklamekasper macht eine kleine Pause und hält es mit Marcel Proust:

„Man müßte in die Normandie zurückkehren, sich um nichts kümmern, einfach zum Meer hingehen.“

Proust schrieb diese und viele andere schöne Zeilen in seinem ersten Buch „Freuden und Tage“, das 1896 erstmals unter dem Titel „Les plaisirs et les jours“ erschienen ist. Die deutsche Ausgabe ist in der Übersetzung von Luzius Keller bei Suhrkamp erhältlich.

À bientôt !

NK | CK

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