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Lesen und schreiben: Budbill, Buson, Haiku

Selten sind die Blätter so spät gefallen wie in diesem Jahr 2022

Selten sind die Blätter so spät gefallen wie letztes Jahr

Vor ein paar Monaten hat mir der amerikanische Dichter Jack Ridl, einen anderen US-amerikanischen Lyriker empfohlen: David Budbill. Ich hatte vorher noch nie eine Zeile von Budbill gelesen und auch den Namen noch nie gehört. Das ist nicht weiter verwunderlich, gibt es doch in den USA so viele interessante Dichterinnen und Dichter, die es nie in den deutschen Literaturmarkt schaffen, und Lyrik, wir wissen es alle, hat es sowieso schwer.

Dichter einfacher Leute

Nun, ich habe Budbill gegoogelt und bin auf der Homepage dieses leider schon verstorbenen Dichters auf ein Buch gestoßen, das meine Neugier geweckt hat. „After the Haiku of Yosa Buson“ heißt der schmale, fadengeheftete Band mit gerade mal 86 Seiten. Davon gleich.

Zunächst ein paar Worte zu David Budbill, der am 13. Juni 1940 in Cleveland, Ohio als Kind einfacher Arbeiter zur Welt kam und am 25. September 2016 in Montpelier, Vermont starb. Budbill lebte mehr als 40 Jahre mit seiner Frau, der Künstlerin Lois Eby in einem abgelegenen Dorf in den Bergen Vermonts, bewirtschaftete ein kleines Stück Land, hackte Holz und schrieb: Gedichte, Prosa, Essays, Bücher für junge Leser und Libretti. Trotz seines zurückgezogenen Lebens hat Budbill etliche Auszeichnungen bekommen und sogar eine Ehrendoktorwürde, obwohl ihm die akademische Welt stets fremd war. Budbills Thema war das Leben der einfachen, rauhen Leute in seiner unmittelbaren Nachbarschaft in den Bergen. Die meisten seiner Lyrikbände sind bei Copper Canyon Press erschienen.

Im Nachruf der New York Times wird Budbill so zitiert:

„Ich interessiere mich für die übersehenen Menschen, die Unterdrückten, die Bedrängten und die Vergessenen. Ich möchte Kunst machen, die das einfache Volk verstehen, nutzen, sinnvoll finden und genießen kann.“ (NYT, 30.9.2016)

Wie David Budbill zum Haiku kam

Nun zu Budbill und Buson, dem großen japanischen Haiku-Dichter und Künstler, der von 1716 bis 1784 lebte und leider immer noch ein wenig im Schatten von Bashō steht. Das meint auch der Haiku-Dichter, Essayist und Literaturkritiker Masaoko Shiki (1867 – 1902), der in seinem Buch über Buson diesen sogar über Bashō stellt.

David Budbill bekommt jedenfall eines Tages von einem guten Freund einen Band mit Haiku von Yosa Buson. Die Haiku von Buson, meisterhaft ins Englische übersetzt von United States Poet Laureate W. S. Merwin und Takako Lento (Copper Canyon Press, 2013), begeistern Budbill derartig, dass er beschließt ein Jahr lang auf den Spuren von Buson zu dichten. Dabei hat er Buson nicht einfach imitiert, sondern als konkrete Inspiration für seine eigenen dreizeiligen Kurzgedichte (Budbill nennt sie explizit nicht Haiku) genommen. Er schreibt im Vorwort zu „After the Haiku of Yosa Buson“:

„Meine Gedichte sind Anspielungen auf Busons Gedichte. Sie sind keine Haiku. Zu meiner großen Überraschung stellte ich fest, dass ich über Dinge schrieb, über die ich noch nie zuvor geschrieben hatte, die aber hier und da vorkommen – Dorschfischer, Kuckuck, Laubfrösche, das Dorf Wolcott, Hacken im Garten usw.“

 

Buson und Budbill im Dialog über die Jahrhunderte

Buson und Budbill im Dialog über die Jahrhunderte

Ich habe mir zu Budbills Band auch die gesammelten, ins Englische übersetzten Haiku von Buson besorgt. Budbill stellt nämlich seinen Haiku immer die Nummer des jeweiligen Haiku von Buson voran. Es macht wirklich Freude und ist sehr interessant, zu sehen, wie sich ein anerkannter Dichter von einem japanischen Klassiker inspirieren lässt. Und: es hat mich selbst dazu gebracht, mich an eigenen Haiku „nach Budbill, nach Buson“ zu versuchen. Hier ein Beispiel, zu dem auch der Dichter Jack Ridl seinen Beitrag geleistet hat:

1.

Buson #767

The first snow falls
then it melts
into dew on the grass

hatsu-yuki ya
kiyureba zo mata
kusa no tsuyu

2.

Snowing barely

Snowing barely then it melts
It’s only the beginning of winter
There’s more to come

David Budbill after Buson #767

3.

The first snow
covers the last leaves
before it melts

Norbert Kraas, after Budbill, after Buson

4.

All snow has melted.
The leftover leaves lie brown.
The moment needs this coffee.

Jack Ridl, after Budbill, after Buson

David Budbill hat sein Buch aufgebaut wie ein klassisches Haiku-Buch: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Dort, wo er direkt Buson zitiert, verwendet er kursive Schrift. Budbills Dreizeiler sind reizvoll und entsprechen durchaus der klassischen Haiku-Tradition, wobei immer wieder Zitate von anderen japanischen oder chinesischen Dichtern 1:1 oder als Anspielungen vorkommen.

Old Age

On the night we watch the old year out
we treat our old age
with reverence

– David Budbill, after Buson #863

On the night we watch the old year out
age is treated
with reverence

– Yosa Buson

Wer Freude an kurzen Gedichten hat und vielleicht Inspiration für sein eigenes Schreiben sucht, dem seien diese beiden Bücher empfohlen. Beide Bücher sind leider nur in Englisch verfügbar, aber das ist kein allzu großes Hindernis, da das Englisch gut verständlich ist. Sowohl Budbill als auch Buson schrieben für normale Leute, „common people“ wie Budbill sagte. Für mich waren sowohl David Budbill als auch Yosa Buson eine echte Entdeckung!

Graue Schönheit in eisiger Umgebung: Graureiher im Tübinger Norden

Graue Schönheit in eisiger Umgebung: Graureiher am Tübinger Schönbuchrand

In seinem Haiku #811 schreibt Buson

Here ist perfect beauty
mandarin ducks
under winter trees

Meine Variante:

Here is perfect beauty
a grey heron
on the barren field

Norbert Kraas nach Buson

Haiku sind übrigens, aber das wisst ihr ja alle längst, eine wunderbare Möglichkeit, Abstand zur Hektik des Alltags zu gewinnen.

NK | CK

Buchinformation

David Budbill
After the Haiku of Yosa Buson
FootHills Publishing, 2015
ISBN: 978-0-921053-62-2

Yosa Buson
The Collected Haiku of Yosa Buson
translated by W.S. Merwin & Takako Lento
Copper Canyon Press, 2013
ISBN: 978-1-55659-426-7

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Blume auf dem Neckar

Nicht nur Hölderlin hat die Schwäne besungen

Nicht nur Hölderlin hat die Schwäne besungen

Auf dem Wasser
eine große Blume:
ein Schwan.

Ein Haiku von Kusatao Nakamura, der am 27. Juli 1901 in Xiamen (China) zur Welt kam und am 5. August 1983 in Tōkyō starb.

Schönes Wochenende!

NK | CK

Buchinformation

Weisse Tautropfen: 300 Haiku zu Regen, Nebel und Meer …
ausgewählt und übertragen von Ute Guzzoni und Michiko Yoneda
Taschenbuch, Parerga Verlag, Berlin, 2006
ISBN: 3937262423
leider nur noch antiquarisch erhältlich

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Neues Jahr, alte Geister

So viele Feuerwerkskörper wie nie wurden 2023 nach Baden-Württemberg importiert

So viele Feuerwerkskörper wie nie wurden 2023 nach Baden-Württemberg importiert

Neujahrstag
trotz der ganzen Knallerei
sind alle Geister noch da

Haiku zum neuen Jahr

Leitkultur aus China

Auch wenn’s den Leitkultur-Predigern nicht gefallen wird: weder hat Silvester einen Bezug zur biblischen Tradition, noch stammt der Brauch, Raketen und Böller in der Silvesternacht krachen zu lassen, aus Deutschland. Die Chinesen, die so viele Dinge erfunden haben, sollen vor mehr als 1000 Jahren erstmals eine Mischung aus Salpeter, Holzkohle und Schwefel zur Explosion gebracht haben. 1379 war dann in Italien das erste Feuerwerk zu bewundern, bevor es 1506 erstmals in Deutschland gekracht hat. Meist war es der Adel, der es sich leisten konnte, mit einem Feuerwerk Hochzeiten und Geburten krachend zu feiern.

Und weil die Menschen schon im Mittelalter mit Töpfen, Rasseln, Trommeln und Trompeten versucht haben, die bösen Geister zu vertreiben, hat man sich wohl gedacht, dass laute Böller und Raketen an Silvester zur Geistervertreibung auch ganz gut geeignet sind. Heute ist dieser heidnische Brauch aus dem christlichen Abendland, ja selbst aus dem Sauerland nicht mehr wegzudenken. Und ein Riesengeschäft ist es obendrein – für die Chinesen.

Wir wünschen Ihnen / euch alles Gute für 2024!

NK | CK

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Freitagsfoto: Alles ganz eitel

Rabenkrähe auf dem Tübinger Stadtfriedhof, nachdenkend

Rabenkrähe auf dem Tübinger Stadtfriedhof, über die Eitelkeit nachdenkend …

„Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel.“ (Prediger 1,2)

In einer Welt, in der immer mehr Menschen so reden, als ob sie in ihrer eigenen Netflix-Serie eine Hauptrolle spielten und schon mal den Instagram-Feed mit dem echten Leben verwechseln, hat der Gang über einen Friedhof eine ungemein erdende Wirkung.

Kommt gut rüber!

NK | CK

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Frohe Weihnachten · Merry Christmas

„Es treibt der Wind im Winterwalde / die Flockenherde wie ein Hirt ...“ (Rainer Maria Rilke)

„Es treibt der Wind im Winterwalde / die Flockenherde wie ein Hirt …“ (Rainer Maria Rilke)

Am 30. November 2023 ist Shane MacGowan, irischer Sänger der Band The Pogues, im Alter von grade mal 66 Jahren gestorben. Das Lied „Fairytale of New York“ gilt vielen als eines der schönsten Weihnachtslieder überhaupt. Bei Wikipedia lesen wir:

„Der Song folgt den Gedanken eines irischen Immigranten, der nach einem Alkoholrausch in einer Gefängniszelle schläft. Während ein mit ihm eingesperrter Mann den Song The Rare Old Mountain Dew singt, beginnt der Protagonist, von der Frau im Lied zu träumen. Nach dem Einsetzen der Band in der Mitte des Songs wird das Call-and-Response-Prinzip verwendet, das hier den Dialog zwischen dem Paar darstellt, dessen Hoffnungen von Alkohol und Drogen zerstört wurden.“

So, jetzt ein Pint Guinness bitte und Lautstärke rauf:

Wir danken allen Leserinnen und Lesern für ihr Interesse, ihre Treue, ihre Kommentare und Anregungen.

Und wenn’s über die Feiertage arg rührselig oder anstrengend wird, immer dran denken, was die Iren sagen: „It could be worse!“

Merry Christmas!

NK | CK

PS: Eine der schönsten Weihnachtsgeschichten hat übrigens der walisische Dichter Dylan Thomas geschrieben und selbst höchst beeindruckend rezitiert. Gibt’s hier zum Nachhören.

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Schwimmen, Freibad, Sehnsucht

„die erste geschwommene Bahn an einem Tag im Mai“. Freibad Hechingen. Foto: Norbert Kraas

„die erste geschwommene Bahn an einem Tag im Mai“. Freibad Hechingen. Foto: Norbert Kraas

Wasserzeiten

„Oder – die erste geschwommene Bahn an einem Tag im Mai, wenn das Freibad nach der Winterpause gerade wieder geöffnet hat. Der Sommer steht noch bevor.“

Wie jetzt? Sommer? Freibad? Dabei hat der Winter noch nicht mal richtig begonnen, und ein Tag scheint trüber als der andere. Und trotzdem: heute geht’s hier um Freibäder, ums Schwimmen und um das kleine, manchmal auch das große Glück im Wasser.

Im Frühjahr, kurz vor Beginn der Freibad-Saison hat mir Teresa Welte von der gleichnamigen Buchhandlung am Hechinger Marktplatz ein schmales Buch mit dem Titel „Wasserzeiten“ empfohlen. Und weil diese Buchhändlerin nicht nur einen sehr guten Cappuccino macht, sondern auch eine leidenschaftliche und ausdauernde Freibad-Schwimmerin ist, habe ich das Buch gleich mitgenommen.

Corinna und ich haben es beide mit Begeisterung gelesen, und man kann es immer wieder mal aufschlagen und reinlesen. Gerade an diesen tristen Tagen, wenn einem die regenschweren Dezemberwolken auf den Kopf fallen, und man sich wundert, warum man eigentlich noch keine Schwimmhäute zwischen den Zehen hat.

Die Hamburger Autorin Kristine Bilkau widmet sich in ihrem Essayband „Wasserzeiten“ dem Thema Schwimmen in 12 teils sehr persönlichen und anregenden Texten. Dabei geht es Bilkau nicht um die perfekte Technik oder darum, bessere Zeiten zu schwimmen. Sie geht dem Gefühl nach, das bei uns auslöst wird, wenn wir schwimmen.

„Schwimmen, der Körper, die Gedanken, der Ort. Was hat es damit auf sich? Woraus genau setzt sich dieses großartige, erhebende, erfüllende Erlebnis zusammen?“

Die schwimmbegeisterte Autorin nimmt uns mit ins Wasser, lässt uns an ihren ersten Schwimmerinnerungen mit ihrem Vater teilhaben, zitiert Gedichte und verweist auf Kurzgeschichten, die sich mit dem Schwimmen auseinandersetzen; und sie reist mit uns zu ganz besonderen Orten, an denen Menschen schwimmen.

Sehnsuchtsorte

Einer diese Sehnsuchtsorte sind die Hampstead Heath Ponds in London. Das sind natürliche Teiche, in denen Männer und Frauen schwimmen, getrennt versteht sich: es gibt den Highgate Men’s Bathing Pond und den Kenwood Ladies’ Bathing Pond. Bilkau schreibt, dass sie bei ihren Recherchen über diese Teiche auf etliche Filme und Erzählungen gestoßen ist, die immer wieder das „Miteinander“ betonen.

„Menschen, die diesen Glücksmoment teilen, einfach dort zu sein, durch das weiche, trübe Wasser zu gleiten, über sich die mal sommerlich grünen, mal winterlich kahlen Bäume …“

Sehnsuchtsort Freibad: Kurzurlaub in nächster Nähe. Freibad Hechingen. Foto: Norbert Kraas

Sehnsuchtsort Freibad: Kurzurlaub in nächster Nähe. Freibad Hechingen. Foto: Norbert Kraas

An schönen Tagen, wenn man beim Schwimmen das Gefühl hat, das Wasser ist freundlich und lässt einen einigermaßen gut gleiten, dann kann man solche Glücksmomente nicht nur in London, sondern auch im schönen Hechinger Freibad am Fuß der Schwäbischen Alb erleben. Und es ist gut möglich, dass man dann Menschen am Beckenrand trifft, die grade dieselben Glücksmomente genießen: man sieht es ihnen an. Ein schönes Gefühl ist das, kurz und kostbar.

Gemeinschaft und Unterstützung: Swimming Through

Um das Gefühl der Gemeinschaft und der gegenseitigen Unterstützung geht es auch in dem sehenswerten Dokumentarfilm „Swimming Through“, den die US-amerikanische Filmemacherin Samantha Sanders (Green River Films) für das Magazin The New Yorker gedreht hat. Sanders begleitet darin drei Frauen beim Freiwasserschwimmen im Lake Michigan in Chicago. Für Jennifer Hoffmann, Deirdre Hamill-Squiers und Helen Wagner wird das tägliche Schwimmen bei jedem Wettter (!), zu einem lebenswichtigen Ritual während der Isolation der Corona-Pandemie. „Swimming Through“ ist ein bewegendes, exzellent gefilmtes Meisterwerk. Der Film dauert 15 Minuten und kann mit deutschen Untertiteln (Einstellungen) abgespielt werden. Es lohnt sich!

Wasserglück

„Im Element Wasser entsteht diese ideale Verbindung, die sich oft im Tempo des Alltags nicht so leicht einstellt. Ganz und gar verbunden zu sein, mit dem Ort und dem Moment.“

So schreibt Kristine Bilkau am Ende von „Wasserzeiten“. Ein schmales Buch, das lesenden Schwimmerinnen und Schwimmern die Wartezeit bis zum Beginn der Freibadsaison etwas erträglicher machen kann.

NK | CK

PS: Zu Weihnachten wünschen wir uns, dass alle Verantwortlichen in Bund, Ländern und Gemeinden die zentrale Bedeutung der öffentlichen Schwimmbäder für ein Gemeinwesen erkennen und entsprechend handeln. Und natürlich bedanken wir uns bei allen Rettungsschwimmer*innen und und Badermeister*innen für ihren Einsatz!

Buchinformation

Kristine Bilkau
Wasserzeiten. Über das Schwimmen
Arche Literatur Verlag, 2023
ISBN: 978-3-7160-2819-3

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Schöne Postkarte Nr. 130 · Winterbad der Schwäne · © Schöne Postkarten, Tübingen

Winterbad der Schwäne am Tübinger Stauwehr · © Schöne Postkarten Nr. 130

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Freitagsfoto: Melancholie

Skulptur auf dem Tübinger Stadtfriedhof

Skulptur auf dem Tübinger Stadtfriedhof

Melancholie,
meine Beschützerin,
süchtig nach Grenzen
und verbündet mit Verlusten.
In welcher Sprache
kann ich dich lesen?
Immer sind es die unerwarteten
Wörter,
aus denen die Trauer bricht

Peter Härtling, Kivisaari-Gedichte

NK | CK

Buchinformation

Peter Härtling
Horizonttheater
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1997
ISBN: 3-462-02635-6

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Carlo Masala: „Bedingt abwehrbereit“

Holzgewehre, wenn’s drauf ankommt? Eher keine gute Idee!

Holzgewehre, wenn’s drauf ankommt? Eher keine gute Idee!

Wer es am Herz hat, geht zur Kardiologin. Wer Hautprobleme hat, geht zum Dermatologen. Aber wohin geht man, wenn einem die politische „Weltunordnung“ mit ihren ganzen Kriegen und Konflikten immer mehr zu schaffen macht? Wie wäre es mit einem informativen, faktenfundierten Sachbuch, geschrieben von einem Experten, der etwas von seinem Metier versteht und niemandem nach dem Mund redet?

„Wenn Sie optimistische Szenarien hören wollen, müssen Sie mit jemand anderem reden …“

Zeitenwende oder Zeitlupenwende?

Dieses Zitat stammt von Carlo Masala, einem wirklichen Experten für politische Krisen, Konflikte und Kriege, der selbst intellektuelle Scharmützel nicht scheut. Masala, der an der Universität der Bundeswehr in München als Professor Internationale Politik ist lehrt, ist dem deutschen Publikum vor allem seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 bekannt. Vor wenigen Wochen ist Masalas neues Buch bei C. H. Beck erschienen: „Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende“

200 Seiten umfasst der Gesprächsband, in dem sich Masala den Fragen von Sebastian Ullrich (Cheflektor bei C.H. Beck) und Matthias Hansl (Programmleiter bei C.H. Beck) stellt. Und ein bisschen fühlt es sich beim Lesen so an, als würde man selbst Gelegenheit haben, diesen Experten mit Fragen zu löchern.

Masala gilt in der Politikwissenschaft als Neorealist. Die gehen, vereinfacht gesagt, davon aus, dass die internationalen Beziehungen der Staaten durch die Dominanz ihrer eigenen Sicherheitsinteressen geprägt sind. Der Selbsterhaltungstrieb geht dabei über alles, und sie schrecken auch vor einer Verweigerung der Zusammenarbeit mit anderen Staaten nicht zurück. Bis vor gut einem Jahr konnte ich mit dem Etikett „Neorealist“ noch nichts anfangen. Nach fast zwei Jahren Krieg in der Ukraine, Ende nicht absehbar, und dem brutalen Massaker der Hamas in Israel, kann Deutschland froh sein, einen Experten wie Carlo Masala zu haben, der die Welt realistisch analysiert und sich nach eigener Aussage in Wolkenkuckucksheimen nicht wohlfühlt.

Masalas neues Buch ist zum einen eine schonungslose Analyse deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, vor allem in Bezug auf Russland und China. Zugleich ist der Band ein deutlicher Weckruf, der hoffentlich auch im politischen Berlin Gehör findet. Das wäre nämlich dringend nötig, denn nach dem 27. Februar 2022, als Bundeskanzler Olaf Scholz die Zeitenwende-Rede gehalten ist, ist viel zu wenig passiert, was diesen Namen wirklich verdient hätte. Masala spricht eher von „Zeitlupenwende“. Deutschland ist, man liest es ernüchtert bis erschrocken: „Bedingt abwehrbereit“.

Bequemlichkeit und falsche Prioritäten

Wäre Deutschland und nicht die Ukraine Opfer eines russischen Überfalls geworden, so Masala, „hätte die Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr in diesem Fall zwischen drei Tagen und zweieinhalb Wochen betragen, nicht länger.“ Wie er zu diesem Urteil kommt, und warum die Bundeswehr in ihrem jetzigen Zustand das Territorium der Bundesrepublik Deutschland nicht verteidigen könnte, ist Gegenstand des ersten von drei großen Kapiteln dieses Buchs.

Carlo Masala im Gespräch mit Marc Mausch und Rudi Bachmann (v.l.n.r.) am 27.9.2023 in Tübingen.

Carlo Masala im Gespräch mit Marc Mausch und Rudi Bachmann (v.l.n.r.) am 27.9.2023 in Tübingen.

In diesem ersten Teil geht es um die Frage, warum Deutschland nur bedingt abwehrbereit ist, und warum wir in den letzten Jahrzehnten so bequem geworden und dabei sehenden Auges in diesen gefährlichen Zustand hineingerutscht sind. Masala nimmt kein Blatt vor den Mund und wirft den Deutschen Bequemlichkeit und falsche Prioritätensetzung nach 1990 vor. Wir hätten davon profitiert, dass wir das Geld, das wir nicht für die Bundeswehr und die Verteidigung ausgegeben haben, anderweitig einsetzen konnten. Warum? Weil andere, allen voran die USA, für unsere Sicherheit gesorgt haben. Dazu kommt:

„Der deutsche Staat hat eine seiner Kernfunktionen, nämlich die Organisation der Sicherheit nach außen, der neoliberalen Agenda geopfert.“

Masala meint damit, dass die Bundeswehr viele Aufgaben im Zuge einer neoliberalen Privatisierung an Privatunternehmen vergeben hat. Das beginnt bei der Verpflegung und endet beim Fuhrpark und dessen Instandhaltung. Im V-Fall, also dem Verteidigungsfall, von dem in meiner Wehrdienstzeit Anfang der 1980er ständig die Rede war, wäre dies ziemlich hinderlich. Denn wie soll man etwa einen Panzer vom Typ Leopard II in kürzester Zeit vom Schlachtfeld zu einer privaten Instandhaltung bringen? Und was wenn diese private Werkstatt grade keine Zeit hat, weil sie, sagen wir, mit anderen Aufträgen mehr Geld verdienen kann?

Ganz ehrlich, es klingt alles nicht gut, was Masala da an dichten Fakten verständlich präsentiert, und es wirft ein ganz schlechtes Licht auf die verantwortlichen Politiker*innen, die, wie wir alle (!), von der „Friedendividende“ nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion profitiert haben.

Offensichtlich hat unser Land nicht nur Brücken, Straßen und Schulen kaputt gespart, sondern auch die Bundeswehr, die jetzt nach der Zeitenwende im Deutschlandtempo (was immer der Bundeskanzler darunter versteht) auf Vordermann gebracht werden soll: mit einem Sondervermögen und vereinfachten Strukturen. Reicht alles nicht, sagt Masala, der auch ein paar Jahre am NATO-Defense College in Rom gelehrt hat. Wir brauchen nicht nur bessere Ausrüstung, sondern auch mehr technische Aufrüstung, um wieder wehrhaft zu werden. Und Wehrhaftigkeit wiederum ist eine der Grundbedingungen, um sowohl in der NATO als auch im weltweiten Kräftespiel einigermaßen ernst genommen zu werden.

Verteidigungsbereitschaft heißt für Masala aber nicht nur Waffensysteme oder warme Winterunterwäsche für unsere Soldatinnen und Soldaten. Die Verteidigung ist eine Sache, die den gesamten Staat und die ganze Gesellschaft betrifft. Das leuchtet ein und führt zu weiteren Fragen: Wie wehren wir massive Cyberangriffe und Desinformationskampagnen ab? Wie gut oder schlecht ist unsere kritische Infrastruktur geschützt? Wie resilient sind wir als Gesellschaft im Falle eines Angriffs? Masala bescheinigt Deutschland auch hier kein gutes Zeugnis. Für ihn sind die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine, der baltischen Staaten oder Polen Vorbild. Dort lebt man schon länger mit einem bedrohlichen Nachbarn an der Ostgrenze und lässt sich von diesem nicht einlullen.

Kalt erwischt am langen Tisch

Deutschland hingegen wurde am 24. Februar 2022 im wahrsten Sinne des Wortes kalt erwischt. Die Regierungen der letzten Jahre sind aus Naivität und weil russisches Gas und russisches Öl so billig waren, einfach nicht von einem russischen Angriff auf die Ukraine ausgegangen.

Damit sind wir im zweiten erhellenden Gesprächsblock, der deutschen Russland- und Ukrainepolitik vor und nach dem 24. Februar 2022. Auch hier lässt Masala in seiner kühlen und knallharten Analyse kaum ein gutes Haar an deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Wir sind Putin, dem alten KGB-Geheimdienstler auf den Leim gegangen. Wir sind einfach davon ausgegangen, dass man Putin vor dem 24. Februar 2022 noch hätte bremsen können. Die völkerrechtswidrige Besetzung der Krim 2014? Haben wir ignoriert und stattdessen Nord Stream 2 auf den Weg gebracht. Wie naiv und optimistisch kann man sein? denkt man ein ums andere Mal.

„Strategisch sollte man immer davon ausgehen, dass nicht die optimistische, sondern die pessimistische Annahme eintritt.“

Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft sind halt lieber davon ausgegangen, dass schon alles gut gehen wird und haben nicht bemerkt (oder um der Geschäfte willen nicht merken wollen), dass der imperial denkende Fuchs Putin sie ein ums andere Mal über seinen langen, hässlichen Tisch gezogen hat. Die Gründe liegen für Masala auf der Hand:

„Man hätte die Logik, die Putins Verhalten zugrunde liegt, früher erkennen können. Man wollte sie nicht erkennen, weil es einen dazu gezwungen hätte, die eigene Logik zu ändern und den Zusammenhang zwischen militärischer Macht und Diplomatie viel enger zu sehen. Dies widersprach unserem Selbstverständnis und unserer Tradition.“

Masala geht auch Kapitel auch auf Kritiker der Waffenlieferungen an die Ukraine ein, die immer behaupten, die NATO und der Westen hätten Russland förmlich zum 24. Februar 2022 gedrängt. Und er geht auch auf die Fehler der EU, des Westens und der NATO ein (Irak, Afghanistan, Syrien, Libyen) ein, um dann, argumentativ schlüssig, klar zu stellen, dass die Russlandversteher eben gerade Russlands wahre, imperiale Motive nicht verstanden haben. Länder, die näher an Russland dran sind, sehen da offensichtlich klarer:

„Die Polen zum Beispiel haben immer vor der Fehlwahrnehmung gewarnt, Russland sei eine saturierte Macht, die nur ökonomische und Sicherheitsinteressen verfolge, und darauf gepocht, es handele sich um eine revisionistische Macht mit expansionistischen Zielen. Sie haben recht behalten.“

Dies wird übrigens, so Masala, auf lange Sicht so bleiben, ganz gleich wie der Krieg in der Ukraine ausgehen wird. Mit diesem expansionslüsternen Russland werden wir lange Sicht leben müssen. Entsprechend muss die Sicherheitspolitik Deutschlands in Zukunft ausgerichtet werden.

Gekommen, um zu bleiben: Weltunordnung

Die „Weltunordnung“, so der Titel von Masalas letztem, ebenfalls lesenswerten Buch, wird bleiben.Und auf diese Weltunordnung müssen wir uns konsequent einstellen, und zwar in allen Bereichen unseres Staates. Sehr deutlich fordert Masala auch von der Wirtschaft, die bisher Profit über alles stellt, ein Umdenken. Hier stößt ihm vor allem die rein profitorientierte Haltung zu China auf, einem extrem machtbewussten Akteur, den wir bitteschön nicht unterschätzen sollten.

„Was in Deutschland fehlt, ist ein großer strategischer Dialog zwischen Wirtschaft und Politik in geopolitischen bzw. geoökonomischen Kategorien.“

Ob es dazu kommen wird? Gut wär’s. Denn die Herausforderungen der Zukunft sind enorm. Als Stichworte seien genannt: China, Taiwan, Trump, die autoritären BRICS-Staaten

„Die politischen Eliten und öffentlichen Intellektuellen müssen die Herausforderungen der Weltunordnung im 21. Jahrhundert klar benennen und ein Bewusstsein für die daraus resultierende Verletzlichkeit unserer Gesellschaft schaffen.“

Und weil wir nicht mehr davon ausgehen können, dass wir angesichts der bleibenden Weltunordnung in aller Ruhe mit Demokratien und Diktaturen gleichermaßen tolle Geschäfte machen können, wird es höchste Zeit, dass möglichst viele Menschen dieses kluge, klarsichtige Buch lesen.

Ich für meinen Teil wünsche mir jedenfalls in Zukunft eine „Masala-basierte Außen- und Sicherheitspolitik“ statt des wolkigen Wortgeklingels aus Kanzleramt und Außenministerium.

NK | CK

Buchinformation

Carlo Masala
Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende
Broschur, 207 Seiten
Verlag C.H. Beck, München, 2023
ISBN: 978-3-406-80039-9

Carlo Masala ist regelmäßig Mitgastgeber des Podcast „Sicherheitshalber“

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