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Lesen und Kochen: Der literarische Küchenkalender 2024

Bäume wachsen nicht in den Himmel, wusste schon Goethe, aber was ist mit den Kürbissen?

Bäume wachsen nicht in den Himmel, wusste schon Goethe, aber was ist mit den Kürbissen?

Im Herbst bekommen wir immer wieder Lust aufs Kochen und neue Rezepte. Gerade wenn es allmählich draußen schmuddeliger wird, und wir trotzdem mit dem Hund raus müssen. Dann sind wir hinterher gern in unserer Küche gemütlich mit Kochen beschäftigt.

Quittengelee: macht viel Arbeit, schmeckt aber ziemlich göttlich.

Quittengelee: macht viel Arbeit, schmeckt aber ziemlich göttlich.

Der Vorrat an Quittengelee muss dringend aufgefüllt werden, und die leider nicht schmackhaften Äpfel unserer alten Bäume werden zu Apfelmus oder einem Crumble verarbeitet. Gerne hören wir dabei einen guten Podcast an, zuletzt zum Beispiel ein Interview mit Milena Michiko Flašar vom 6. Oktober 2023 im Deuschlandfunk Kultur. Milena Michiko Flašar ist eine ebenso interessante wie sympathische österreichisch-japanische Autorin, deren neuesten Roman wir vor Kurzem hier besprochen haben.

Lesen und Kochen

Lesen und Kochen (und besagtes Spazierengehen) sind für uns auch die beste und einfachste Art, vom Beben und Zittern dieser Welt Abstand zu gewinnen. Das soll nicht bedeuten oder anraten, sich völlig zurückzuziehen, denn es ist unserer Meinung nach wichtig, sich genau und aktiv mit dem Rechtsruck in unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen. Aber es ist genauso wichtig, sich immer wieder um das richtige Maß zu kümmern: wieviel von dieser Welt lasse ich in mein privates Leben hinein?

Anregungen zum Lesen und Kochen

Literarischer Küchenkalender 2024, edition momenteWer selbst Anregungen sucht oder jemanden beschenken will, der gerne liest und gerne neue Rezepte ausprobiert, dem können wir den neuen Literarischen Küchenkalender 2024 empfehlen. Woche für Woche begegnen uns hier ausgesuchte, Appetit machende Textstellen aus neueren und älteren Romanen von lebenden und verstorbenen Autor*innen. Wir treffen so zum Beispiel auf Adriana Altaras („Besser allein als in schlechter Gesellschaft“), Yasmina Reza („Serge“), Hanns-Josef Ortheil („Das Verlangen nach Liebe“), Bonnie Garmus („Eine Frage der Chemie“) oder Benjamin Myers („Offene See“), was auch an viele schöne Lesestunden erinnert …

Es gibt jeweils eine kurze Inhaltsangabe des Romans und ein Rezept, passend zum jeweiligen Zitat. Das macht häufig Lust auf beides: den Roman (wieder) zu lesen und das Essen! Herausgegeben wurde dieser schön gestaltete Wochenkalender letztmalig von Sybil Gräfin Schönfeldt, die im Dezember 2022 im Alter von 95 Jahren verstorben ist.

Guten Appetit!

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Information

Der literarische Küchenkalender 2024
herausgegeben von Sybil Gräfin Schönfeldt im Verlag edition momente
Wochenkalender mit 60 Seiten
ISBN-13: 978-3840041013
Abmessungen: ‎ 19,2 cm x 1,3 cm x 31,5 cm

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Haiku für einen Quittenbaum

Die Früchte der Birnenquitte sind besonders schön und schmecken als Gelee oder Schnaps wunderbar

Die Früchte der Birnenquitte sind besonders schön und schmecken als Gelee oder Schnaps wunderbar

Herbst, und
wieder vermissen wir
den alten Quittenbaum

Dieses Haiku widmen wir unserem alten Quittenbaum, der im Herbst 2018 einfach umgefallen ist. Sein Anblick und seine Früchte werden schmerzlich vermisst.

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700 Quittenarten gibt es. Unser Quittenbaum mit den Birnenquitten war besonders schön und ergiebig.

700 Quittensorten gibt es. Unser Quittenbaum mit den Birnenquitten war besonders schön und ergiebig.

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John Lewis-Stempel klärt auf: Das geheime Leben der Eule

Die Waldohreule (Asio otus) ist ausschließlich nachaktiv

Die Waldohreule (Asio otus) ist ausschließlich nachtaktiv. Foto: Norbert Kraas

Ogygoptynx wetmorei

Hinter diesem fast unaussprechlichen Namen verbirgt sich das älteste Fossil einer Eule: es ist der früheste Nachweis einer Eule „mit einem Alter von ungefähr 58 Millionen Jahren“. Unglaublich, oder? Und noch viel unglaublicher ist, wie sich Eulen im Laufe von Jahrmillionen an ihr meist nachtaktives Dasein angepasst haben. Aber der Reihe nach.

Der englische Farmer und preisgekrönte Nature Writer John Lewis-Stempel hat ein Buch über Eulen geschrieben. „Das geheime Leben der Eule“ heißt der schmale, sehr schön aufgemachte Band, der bei DuMont erschienen ist. Das Buch ist ein kleiner Schatz und macht uns mit einem Vogel vertraut, den viele von uns wahrscheinlich noch nie in freier Wildbahn gesehen haben. Mir ist jedenfalls noch nie eine Eule im Wald vor die Linse geflogen. Aber nachdem ich das Buch gelesen habe, geht es mir wie Lewis-Stempel, der nach einer Begegnung mit Old Brown, einem Waldkauz in seinem Drei-Morgen-Wald schreibt:

„Ich hingegen hatte keinen dringenderen Wunsch, als Eulen zu beobachten.“

Aber was ist es, was uns so an Eulen fasziniert? Warum haben die Menschen in allen Zeiten und fast allen Kulturen ein ganz besonderes Verhältnis zu diesem Vogel entwickelt, der zum einen als Todesbote gefürchtet wird, zum anderen als Symbol für Klugheit steht?

„Dank ihrer aufrechten Haltung, der großen Augen und des breiten, homo-sapiens-ähnlichen Gesichts ist die Eule leicht zu vermenschlichen (oder in Kuscheltiere zu verwandeln).“

Die Eule ist uns ähnlich, so der Autor und weiter: „wir sind genetisch auf die Anteilnahme am Schicksal unserer Doppelgänger programmiert.“

Und da ist viel dran, wie man in Tübingen vor ein paar Jahren beobachten konnte. Da haben nämlich ein paar Waldohreulen auf einem Parkplatz in einem Wohngebiet auf Bäumen Quartier gemacht und sich tagsüber für ihre nächtlichen Beutezüge ausgeruht. Als sich das rumgesprochen hat, sind Eulenfans und ambitionierte Vogelfotografen von weit her angereist, um sich von den Eulen beobachten zu lassen.

Eulen-Biologie

In drei dicht geschriebenen Kapiteln gliedert sich dieses Buch, und mit jeder Seite lernen wir neue Dinge über diesen besonderen Vogel, der aktiv ist, wenn wir schlafen. Eulen gehören zu den drei Prozent unter den Vögeln, die nach Sonnenuntergang unterwegs sind. Was zugegeben, das Eulen-Watching nicht einfacher macht.

225 verschiedene Eulenarten gibt es weltweit, und sie wiegen zwischen grade mal 47 Gramm (Elfenkauz) und viereinhalb Kilo (Riesenuhu). Dementsprechend ernähren sich diese unterschiedlichen Eulen von unterschiedlichen Beutetieren, die sie praktisch ausschließlich im Zwielicht oder bei Nacht jagen. Und für diese nächtliche Jagd, schreibt der begnadete Naturerzähler Lewis-Stempel, sind sie phantastisch ausgerüstet: manche können ihren Kopf um bis zu 270 Grad drehen, dazu um 90 Grad nach oben oder unten schwenken.

In der Nacht sind Waldohreulen in der Lage, eine Maus zu erkennen, „wenn die Lichtstärke der einer Kerze in einem Fußballstadion entspricht.“ Man könnte neidisch werden, denn unsere eigene Nachtsichtfähigkeit ist dagegen nur als bemitleidenswert zu bezeichnen. Noch unglaublicher sind die Gehörleistungen der Eule, deren Ohren asymmetrisch am Schädel angebracht sind und mit denen sie jedes Geräusch exakt lokalisieren können.

„Beim Empfangen von Geräuschen können Eulen Zeitunterschiede von nur 30 Millionstel einer Sekunde wahrnehmen.“

Damit sind einige Eulen in der Lage, im Stockdunkeln zu jagen; fast lautlos fliegen können diesen wunderbaren Tiere ja sowieso.

Eulen-Arten

Von der Biologie kommt John Lewis-Stempel zur Beschreibung unserer einheimischen Eulenarten. Zehn Eulen stellt er uns vor, vorangestellt ist jeweils eine sehr schöne Zeichnung der jeweiligen Eulenart.

Der Steinkauz (Athena noctua) war Pallas Athene zugeordnet, der Göttin der Weisheit.

Der Steinkauz (Athena noctua) war Pallas Athene zugeordnet, der Göttin der Weisheit.

Mit einer Flügelspannweite von 160 cm steht dabei der Uhu (Bubo bubo) größenmäßig an der Spitze, entsprechend groß können seine Beutetiere sein: Katzen und Lämmer eingeschlossen. Der Steinkauz hingegen, der grade mal 55 cm Spannweite hat und maximal 190 g wiegt (Weibchen), ernährt sich hauptsächlich von Insekten, die er entweder im Flug erlebt oder am Boden zu Fuß jagt. Und wusstet ihr, dass die Sumpfohreule bis zu 6000 Wühlmäuse pro Jahr vertilgt? Das macht diese Eulenart zum Schädlingsbekämpfer und Helfer der Landwirtschaft, wo die Wühlmaus nicht gern gesehen ist.

Eulen und Mythen

Im letzten Kapitel beschäftigt sich der Autor ausführlich mit dem Verhältnis des Menschen zur Eule.

„Eulen tauchen seit der Steinzeit in jeder wichtigen Kultur auf“

Es geht um Mythen, Sagen, Literatur und den menschlichen Aberglauben, der die Eule seit Jahrtausenden begleitet. Die älteste bekannte Eulendarstellung im Tal der Ardèche wird auf 30000 Jahre datiert. Von Eulen lesen wir bei Shakespeare und in „Harry Potter“, wo uns die Schneeeule Hedwig ebenso verzückt wie die freundliche, kluge Eule in „Pu der Bär“. In der griechischen Antike galt die Eule als Glücksbringer, was auch amerikanische Präsidenten wussten:

„Athenische Eulen bringen Glück – dieser Glaube war so verbreitet, dass sogar US-Präsident Theodore Roosevelt einen Eulen-Talisman aus Athen bei sich trug.“

John Lewis-Stempel: Das geheime Leben der Eule. DuMont BuchverlagBleibt die Frage, warum man sich im Jahr 2023 mit einem Buch über Eulen befassen sollte? Nun: zum einen ist John Lewis-Stempel ein belesener, nie geschwätziger Autor, der erzählen kann; und zum anderen verschafft uns dieser schmale Band eine Verbindung zur Natur, die wir auch in Zeiten von Künstlicher Intelligenz tunlichst nicht verlieren sollten. Und vielleicht regt dieses von Sofia Blind sehr gut übersetzte Eulenporträt die eine oder andere Leserin ja an, selbst einmal im Zwielicht in einem nahen Wald nach Eulen Ausschau zu halten.

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Buchinformation

John Lewis-Stempel
Das geheime Leben der Eule
aus dem Englischen von Sofia Blind
112 Seiten, gebundene Ausgabe
DuMont Buchverlag, Köln
ISBN 978-3-8321-8207-6
mit einem Verzeichnis deutscher und internationaler Eulenschutz-Organisationen

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„Sprechen lernen“ – Hilary Mantel erzählt Erinnerungen

„Die Geschichte meiner Kindheit ist ein komplizierter Satz, den ich ständig zu beenden versuche.“ Hilary Mantel

„Die Geschichte meiner Kindheit ist ein komplizierter Satz, den ich ständig zu beenden versuche.“ Hilary Mantel

Zum ersten Todestag der britischen Schriftstellerin Hilary Mantel am 22. September 2023 hat der Dumont Verlag das Buch „Sprechen lernen“ der zweifachen Booker-Preisträgerin herausgeben. Auf Englisch erschien dieser Band bereits vor 20 Jahren. Wer bisher nur die historischen Romane von Hilary Mantel kennt, wird die sprachlich brillante Erzählerin noch einmal neu entdecken.

Sechs Erzählungen

Hilary Mantel beschreibt in sechs Erzählungen mit sechs verschiedenen Protagonisten das kindliche und jugendliche Erleben ihres Alltags. Als quasi siebte Erzählung ist ein Ausschnitt ihrer Autobiografie „Von Geist und Geistern“ angehängt.

Kindheiten in England während der 50er und 60er Jahre

Alle Erzählungen spielen im Nordwesten Englands der 50er und 60er Jahre. Es sind Leben in prekären Verhältnissen, in denen die vernachlässigten, kindlichen Ich-Erzähler, Jungs und Mädchen, von ihren Wahrnehmungen erzählen. Es geht um das Anderssein der eigenen Familie, wechselnde Bezugspersonen, die Qualen der Schulzeit, den Tratsch und die Kontrolle durch die Nachbarschaft:

„Die Kinder hatten dem Klatsch ihrer Eltern gelauscht. Sie stellten mir, besonders die Mädchen, bohrende Fragen nach den Schlafmodalitäten in unserem Haus. Ich sah nicht, was die Fragen sollten, war aber dennoch nicht so dumm, sie zu beantworten.“

Die Inhalte sind oft tough und bedrückend, aber die kindliche Wahrnehmung berührt einen durch ihre natürliche Leichtigkeit immer wieder. Ob es die falsche Religion ist (eine irisch-katholische Familie im anglikanischen Umfeld) oder die Mutter, die ihren Liebhaber ins Haus holt, das Verschwinden des Vaters oder der mühsame Versuch, für eine Abschlussprüfung den eigenen Dialekt abzulegen und neu sprechen zu lernen: immer haben die Kinder das Gefühl, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, egal, wie sich bemühen.

„Schon mit vier Jahren hatte ich angefangen zu glauben, etwas Falsches getan zu haben. Da gab es eine grundlegende Sünde, an die das Beichten nicht rühren konnte. Da war etwas in mir, das sich nicht in Ordnung bringen ließ und für das es keine Erlösung gab.“

Gefühle der Kindheit

Die Autorin weckt mit der Betrachtung einzelner Details bekannte Gefühle aus der Kindheit: das Leiden, weil man Außenseiter ist, die ständige Verwirrung wegen fehlender Fähigkeit, Dinge und Gesagtes einordnen zu können, das Gefühl realer Bedrohungen sowie die Qualen durch nicht zu bändigende Ängste. Dabei sind der Autorin die Fragen, die sich für ein Kind stellen, wichtiger als die (späteren) Antworten, die man im Laufe eines Lebens vermeintlich findet:

„Erst später, als ich auszog, verstand ich die unbeschwerte Sorglosigkeit eines durchschnittlichen Lebens – wie frei die Leute reden, wie frei sie leben. Sie haben keine Geheimnisse, da ist kein Gift an der Wurzel. Ich lernte Menschen mit einer Unschuld und Offenheit kennen, wie sie meiner eigenen Natur fremd waren.“

Hilary Mantel, Sprechen lernenMan ist als Leser immer wieder versucht, die sechs Erzählungen von „Sprechen lernen“ als sechs Kapitel einer Geschichte zu lesen, da alle Erzählungen mit dem Leben von Hilary Mantel (6. Juli 1952 – 22. September 2022) verwoben sind. Im Vorwort gibt Hilary Mantel Erklärungen hierzu. Die zweimalige Trägerin des renommmierten Booker Prize nennt ihre Erzählungen „nicht autobiografisch, sondern autoskopisch“. Es geht ihr nicht um die getreue Wiedergabe ihres eigenen Lebens, sondern um die ganz genaue (mikroskopische) Betrachtung ihr wichtiger Details, die sie in einzelnen Erzählungen literarisch besser herausgearbeitet sieht.

So sagt die Autorin denn auch: „Die Geschichte meiner Kindheit ist ein komplizierter Satz, den ich ständig zu beenden versuche.“

Dieser Erzählband ist eine anpruchsvolle, aber lohnende Lektüre!

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Buchinformation

Hilary Mantel
Sprechen lernen. Erzählungen
Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence
160 Seiten, gebunden, Dumont-Verlag, 2023
IISBN: 978-3-8321-6816-2

Einen ausführlichen Nachruf in englischer Sprache kann man hier im Guardian nachlesen.

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Kein schöner Land (4): Exzellenz auf Abwegen

„Wegeleitsytem“ bei den Naturwissenschaften, Morgenstelle, Universität Tübingen

„Wegeleitsytem“ bei den Naturwissenschaften, Morgenstelle, Universität Tübingen

Exzellenz auf typographischen Abwegen

Vor ein paar Tagen musste ich ein Fachbuch in der Unibibliothek der Universität Tübingen im Hörsaalzentrum Morgenstelle abgeben. Dort oben auf dem Berg von Tübingen sind die Naturwissenschaften zuhause. Und da ist mir dieser typgraphische Auswuchs eines Wegeleitsystems vor die Linse gekommen. Für einen Moment war ich sprachlos. Kaum zu glauben, dass sich eine Hochschule, in der man die Worte „Exzellenzuniversität“ und „Drittmittelantrag“ zu jeder Tag- und Nachtzeit in allen Sprachen der Welt rauf- und runterbuchstabieren kann, so eine Hässlichkeit leistet.

Der große Gestalter, Typograph und Autor Erik Spiekermann hat in dem Buch „Hallo, ich bin Erik“ auf die Bemerkung, dass Schrift am Ende doch funktional sein müsse, dieses geantwortet:

„Die Schönheit selbst ist ja eine Funktion. Schönheit ist nicht funktionsfrei. Banal gesagt, braucht man Schönheit. Hässlichkeit verkauft sich schlecht.“

Erik Spiekermann, Jahrgang 1940, hat unter anderem die Schriften FF Meta und FF Officina entworfen, die schon heute als Klassiker gelten. Neben vielen anderen Projekten hat er das Fahrgastinformationssystem der Berliner Verkehrsbetriebe entwickelt, das Wegeleitsystem des Flughafen Düsseldorf und das Erscheinungsbild der Stadt Glasgow als UK City of Architecture and Design.

Das Buch „Hallo, ich bin Erik“ sollte ganz dringend in den Bestand der Unibibliothek Tübingen aufgenommen werden.

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Buchinformation

Hallo, ich bin Erik. Erik Spiekermann: Schriftgestalter, Designer, Unternehmer
Herausgeber: Johannes Erler
Gestalten Verlag, Berlin 2014
ISBN: 978-3-89955-527-1

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Leonard und Paul – Feelgoodbuch aus Irland

Wie viel sollte man von der Welt in sein Leben lassen? Auch darum geht’s in „Leonard und Paul“

Wie viel sollte man von der Welt in sein Leben lassen? Auch darum geht’s in „Leonard und Paul“

Ich erinnere mich an eine Diskussion in unserem Lesezirkel, bei der es darum ging, wie originell ein Leben sein sollte, um (aufgeschrieben und dann) gelesen zu werden. Ich habe, weil wir so unterschiedlicher Meinung waren, hinterher recherchiert, ob die Originalität eines Textes eine Bedingung für die Bezeichnung als Literatur ist. Literatur natürlich im engeren Sinn als schöngeistiges Schrifttum verstanden. Tatsächlich ist die Originalität ein Kriterium neben vielen anderen wie z. B. Stimmigkeit, Expressivität durch sprachliche Stilmittel, Komplexität, Ambiguität oder Grenzüberschreitung. In der Regel werden von vielen literarischen Texten aber nicht alle Kriterien (gleichermaßen) erfüllt, und zwar ohne dass ihnen gleich ihr litarischer Wert abgesprochen wird.

Vielleicht ist unsere Diskussion damals auch in die verkehrte Richtung gelaufen, weil nicht (unbedingt) der Romanstoff selbst, also das Was, sondern vielmehr (auch) die Betrachtungs- und Darstellungsweise, also das Wie, originell sein kann.

Leonard und Paul

So gesehen würde ich dem Debütroman des Iren Rónán Hession (48) „Leonard und Paul“ eindeutig Originalität bescheinigen. Der im Eigenverlag Woywod & Meurer erschienene Roman erzählt von zwei besten Freunden, Leonard und Paul, die beide Anfang der 30 sind. Beide Männer entsprechen zunächst so gar nicht dem Klischee einer interessanten Hauptfigur, sondern eher ihrem Gegenteil: beide sind schüchtern, introvertiert, sanftmütig und freundlich, aber eher antriebslos. Paul lebt noch bei seinen Eltern, Leonard trauert um seine kürzlich verstorbene Mutter. Auch in ihrer Berufstätigkeit ist zunächst kein Glanz zu erkennen: Leonard ist als Ghostwriter für Kinderenzyklopädien in einem Verlag tätig, und Paul arbeitet gelegentlich als Aushilfspostbote. Und was tun die Freunde, wenn sie sich treffen? Sie spielen Gesellschaftsspiele! Wer sich also vom Romanstoff selbst, dem Was, leiten lässt, der braucht diesen Roman nicht lesen. Allen anderen Lesern, denen das Wie das Wichtige ist, sei dieser Roman jedoch wärmstens empfohlen!

Die Nebenstraßen des Lebens

Wie interessant die Betrachtung der Nebenstraßen des Lebens sein kann und dass diese Nebenstraßen mit unserem eigenen Leben viel mehr zu tun haben als die Wege und Aufgaben der großen Romanhelden, zeigt sich in den vielen unscheinbaren, und doch so klugen Sätzen wie:

… aber die Kunst besteht darin, genau zu erkennen, wie viel von der Welt man in sein Leben lassen kann, ohne davon überwältigt zu werden.

oder:

Geduld gehörte zu seinen (Pauls) Stärken. Geduldig sein hieß, den Dingen ihren Lauf zu lassen und darauf zu vertrauen, dass sich die Dinge ergaben, wie sie sollten, nicht, weil man es so wollte, sondern weil es der natürlichen Ordnung entsprach.

Dass in der Zurückgezogenheit in das Private und in ein paar wenige innige Beziehungen jedoch auch eine Gefahr lauern kann, erkennt Leonard, als er sich für eine Frau ernsthaft zu interessieren beginnt, und dies zu Missverständnissen zwischen den Freunden führt:

Alleinsein und Frieden sind nichts Besonderes mehr, wenn sie keinen Gegenpol haben. In einem hektischen – oder zumindest hektischeren – Alltag bietet die stille Reflexion dem Erleben einen Resonanzraum. Aber das Leben absichtlich vom Erleben abzukoppeln und sich vor seinen Realitäten zu verstecken, nein, das war nichts Besonderes. Das war einfach eine Form der Angst, die zur lebensbeschränkenden Einsamkeit führte, die immer weiter anwuchs, bis sie so groß war, dass sie die Haustür blockierte, Gespräche erstickte und sich wie eine Schallschutzscheibe vor die anderen schob.

Beziehungen sind nie ohne Reibung

Neben Leonard und Paul lernen wir auch noch Pauls Familie kennen, seine sympathischen Eltern, Peter und Helen, und die Schwester Grace, die dabei ist, ihre Hochzeit neben einer fordernden Berufstätigkeit vorzubereiten. Grace ist die Figur, die sicher am meisten dem heutigen Bild eines erfolgreichen Menschen entspricht und die in gewisser Weise einen Gegenpol zu ihrem Bruder bildet. Und natürlich geht es auch in einem von Freundlichkeit und Sanftmut geprägten Umgang nicht ohne Reibung einher. Vielleicht ist es sogar gerade der Umgang mit Kränkungen, der diese Charaktere alle so besonders macht, dass man sie nicht mehr missen möchte.

Humorvoll, witzig, warmherzig

Ähnlich wie in dem von uns besprochenen Roman „Dagegen die Elefanten!“ von Dagmar Leupold betrachtet auch der irische Autor Hession seine Figuren immer liebevoll, auch wenn sie sich aus eigener Sicht lächerlich gemacht haben. Urkomisch ist die Szene mit Paul, der sich im Supermarkt über das abgelaufene Haltbarkeitsdatum einer Pralinendose beschwert.

Dass dieses warmherzige, schön übersetzte Buch zum Liebling der Buchhändler*Innen aus Irland und England wurde, können wir absolut nachempfinden! Dieses Buch ist wohltuend wie ein guter heißer irischer Tee an einem regnerischen Tag draußen an der irischen Westküste.

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Leonard und Paul, Ein FeelgoodbuchPS: Das Buch erscheint in Deutschland in einem bis dato unbekannten Verlag, da Rónán Hession, der in Irland auch als Musiker erfolgreich ist, das Buch unbedingt in einem Independent Verlag veröffentlicht haben wollte und nicht bei einem der großen Publikumsverlage. Also haben Frauke Meurer und Torsten Woywood flugs ihren eigenen Verlag gegründet und gemeinsam mit der erfahrenen Übersetzerin Andrea O’Brien das Projekt gestemmt. Der Einsatz hat sich ausgezahlt. Auch deutsche Leserinnen und Leser lieben dieses Feelgoodbuch!

Buchinformation

Rónán Hession
Leonard und Paul
aus dem Irischen English von Andrea O’Brien
WOYWOD & MEURER (Imprint Torsten Woywod Verlag)
ISBN-13: 978-3-00-073756-5

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Die Ukraine klarer sehen: »Aus dem Nebel des Krieges«

Die Autorinnen und Autoren versuchen sich »Aus dem Nebel des Krieges« (Carl von Clausewitz) rauszuschreiben

Schreibend Zeugnis geben: ein Weg »Aus dem Nebel des Krieges« (Carl von Clausewitz)

Im Spiegel der Seele

»Wenn man in den Geflüchteten oder den Ukrainern in ihrer Heimat nicht nur Opfer sieht, die man zutiefst bedauert, sondern Zeugen, dann wird auch dieser Krieg nicht als große Naturkatastrophe, sondern als kalkulierter Genozid wahrgenommen. Auch wenn das global gesehen nichts an der Tatsache ändert, dass mein Land ein Schlachtfeld ist und die Welt dieses schreckliche Sterben von Menschen innerhalb seiner Grenzen zugelassen hat.« (Kateryna Mishchenko)

Im Spiegel der Seele, so heißt der Essay der ukrainischen Essayistin, Übersetzerin und Verlegerin Kateryna Mishchenko. Es ist der Auftakttext des von ihr und der Suhrkamp-Lektorin und Spezialistin für Osteuropäische Literatur Katharina Raabe herausgegebenen Buches »Aus dem Nebel des Krieges«, erschienen im Frühjahr 2023 bei Suhrkamp.

Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine. Hg. Kateryna Mishchenko und Katherina Raabe

Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine. Hg. Kateryna Mishchenko und Katherina Raabe

18 Aufsätze versammelt dieser Band, und jeder einzelne hat das Potenzial, uns zu erschüttern und aufzurütteln. Die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren stammt aus der Ukraine. Es sind Schriftsteller, Künstlerinnen, Dokumentarfilmer, Fotografen, Aktivisten und Wissenschaftler. Sie alle sind Mishchenkos Bitte gefolgt, aufzuschreiben, was sie ganz persönlich seit dem Einmarsch der russischen Truppen am 24. Februar 2022 erlebt haben. In ihren bewegenden Texten beschreiben sie als Protagonisten ihre Situation und reflektieren gleichzeitig ihr Erleben – und das während russische Soldaten ihr Leben zerstören oder schon zunichte gemacht haben. Es ist ein Anschreiben gegen den Schrecken, gegen die Angst, gegen die Entwurzelung und die Vernichtung. Die Arbeit an ihren Texten ist für die Autorinnen und Autoren die wichtigste Möglichkeit, die Deutungs- und Verarbeitungshoheit in der Hand zu behalten. Wie Mishchenko schreibt, geht es darum, nicht Opfer zu sein, sondern Zeuge und daraus Stärke zu ziehen.

»Wenn ich könnte, würde ich jede abgefeuerte Kugel, jede Granate, jede Haubitze, jeden Schützenpanzerwagen, jeden Panzer, jede Drohne und jeden toten und lebenden russischen Soldaten auf unserem Gebiet aufzeichnen und beschreiben.« (Oksana Karpovych)

Nur exemplarisch und kurz können hier manche Texte skizziert werden. Man sollte sie alle lesen, sich anrühren und erschüttern lassen!

Kämpfen für ein gewöhnliches Leben

Artem Chapeye ist 1981 in Kolomyia in der Westukraine geboren und hat vor dem Krieg, der für die Ukrainer bereits vor 9 (!) Jahren mit der russischen Annexion der Krim begonnen hat, als Schriftsteller, Übersetzer und Reporter gearbeitet. Seine Bücher standen mehrfach auf der BBC-Liste für das beste ukrainische Buch des Jahres. Bis zum Einmarsch der russischen Truppen im Februar 2022 war der Dienst in der Armee für den Pazifisten Chapeye undenkbar.

»Es schien mir unmöglich und absurd, freiwillig an einem Krieg teilzunehmen. Ich hielt mich für einen Pazifisten. Vor allem nach der Revolution auf dem Maidan von 2014, als ich sah, wie Menschen wirklich sterben. Ungerechtigkeit sollte ausschließlich mit friedlichen Mitteln bekämpft werden.«

Noch am Vorabend des 24. Februar hat der Familienvater mit seinen beiden Söhnen in einem selbstgebastelten Zelt im heimischen Wohnzimmer übernachtet, alle eng aneinander gekuschelt. Die Idylle endet jäh am Morgen mit den ersten Explosionen in Kyiw. Chapeye, seine Frau Oksana und die beiden Kinder versuchen, mit ihrem gepackten »Notfall-Rucksack« die Stadt Richtung Westen zu verlassen. Ein Taxi muss organisiert, Checkpoints passiert werden. Beim Zwischenaufenthalt in einem Dorf westlich von Kyiw wird aus dem überzeugten Pazifisten Chapeye der Soldat Chapeye. Er meldet sich freiwillig zur Armee.

Wie es zu dieser existenziellen Entscheidung kam, schildert Chapeye anschaulich, gleichzeitig reflektiert er sein eigenes Denken und Handeln. Sartre, Jaspers, Kurt Vonnegut, Heinrich Böll und Ernest Hemingway haben ihre Auftritte. In dessen Klassiker »Wem die Stunde schlägt« erkennt der Protagonist, dass seine Stunde geschlagen hat, zu kämpfen. Chapeyes Schilderung ist erschütternd, vor allem, wenn man im friedlichen Tübingen sitzt und sich fragt, ob man selbst in so einer Situation stark genug wäre, richtig zu handeln. Dabei sieht sich Artem Chapeye nicht als Held. Er gibt zu, noch nie so viel geweint zu haben, wie nach der Trennung von Frau und Kindern, die ins Ausland flüchten mussten.

»Wofür kämpfen wir? Natürlich nicht für das absolut Gute. Wir sind keine „Krieger des Lichts“, sondern ganz gewöhnliche Menschen mit all ihren Unzulänglichkeiten. Wir kämpfen für ein gewöhnliches, unvollkommenes Leben, zu dem ich einfach nur zurückkehren möchte.« (Artem Chapeye)

Mitleiden, Mitempfinden

Es geht nicht ohne Mitleiden und Mitempfinden, wenn wir die Ukraine und ihre Menschen verstehen wollen. Und dazu bietet dieses Buch Gelegenheit.

Zum Beispiel, wenn der Journalist Stanislaw Assejew über seine schreckliche Leidenszeit im russischen Foltergefängnis Isoljazija in Donezk berichtet. Er schreibt, wie er der Opferrolle und dem Wahnsinn entkam, indem er (unter schwierigsten Bedingungen) anfing zu schreiben und sich nach seiner Gefangenschaft persönlich für die strafrechtliche Verfolgung seiner Peiniger eingesetzt hat.

Oder wenn wir den Bericht der mehrfach prämierten Journalistin Angelina Kariakina über das Drama der Zerstörung von Mariupol lesen. Auch sie nehmen wir nicht als Opfer war, wenn sie für das Netzwerk »The Reckoning-Project – Ukraine Testifies« gegen das Vergessen der russischen Kriegsverbrechen anschreibt.

Von großer Kraft zeugt auch der Text der Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin Kateryna Iakovlenko, die in ihrer ausgebombten Wohnung in Irpin im August 2022 für einen Tag eine Ausstellung eröffnet. Się schreibt:

»Wir leben in einer visuellen Epoche, wir verfolgen den Krieg online, wir sehen den Tod fast in Echtzeit – da ist eine Ausstellung in einem ausgebrannten Raum an sich schon ein starkes emotionales und visuelles Statement.«

Bemerkenswert ist auch der Aufsatz des Osteuropahistorikers Karl Schlögel, der sich selbst eingestehen muss, die Ukraine lange Zeit durch die russische Brille betrachtet zu haben. Für ihn ist ganz klar, wo die Ukraine ab sofort zu stehen hat:

»Der Weg zu einem neuen Russlandbild führt über die Ukraine, die aufgehört hat, der Hinterhof, die Peripherie, die Provinz Russlands zu sein und die ins Zentrum Europas gerückt ist.«

»Aus dem Nebel des Krieges« ist eine herausgeberische Meisterleistung von Kateryna Mishchenko und Katharina Raabe. Das Buch ist ein Glücksfall für deutsche Leserinnen und Leser, weil es uns mehr als jeder Nachrichtenfilm oder Zeitungsartikel eine authentische, gleichzeitig reflektierte Bestandsaufnahme der aktuellen Situation der Ukraine liefert. Geschrieben inmitten der Trümmer ist jede Seite voll und ganz auf der Höhe der Zeit und zerreißt für uns den Nebel des Krieges. Mitherausgeberin Katharina Raabe gibt uns am Schluss diesen Satz mit auf den Weg:

»Die Gegenwart der Ukraine zu teilen, bedeutet, sich dem bisher Unvorstellbaren zu konfrontieren: dass der große Krieg in Europa ein Faktum ist, dem wir nicht ausweichen können.«

Wer über die Ukraine mitreden möchte, sollte dieses Buch lesen!

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Buchinformation

Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine.
Herausgegeben von Kateryna Mishchenko und Katherina Raabe
edition suhrkamp, Suhrkamp Verlag Berlin, 2023
ISBN: 978-3-518-02982-4

Kateryna Mishchenko, geboren 1984, Essayistin, Übersetzerin und Verlegerin aus Kiew. Foto: Suhrkamp Verlag

Kateryna Mishchenko

Lesung in Tübingen

Kateryna Mishchenko wird am 23. September 2023, 13.00 Uhr beim Tübinger Bücherfest über ihr neues Buch sprechen. Das Gespräch wird die Tübinger Slavistik-Professorin Schamma Schahat moderieren. Infos hier.

Ein längeres Interview mit Kateryna Mishchenko kann man hier im SWR 2 Radio nachhören.

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»Oben Erde, unten Himmel« – ein außergewöhnlicher Roman

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Wenn ich einen Roman beendet habe, der mich gefesselt hat, muss ich normalerweise eine kurze Lesepause machen. Oder ich schiebe ein Sachbuch dazwischen. Ich bin innerlich noch mit dem Abschied von den Figuren beschäftigt, und das Gelesene braucht Zeit zum Nachwirken. Beginne ich zu früh für meine Leseseele einen neuen Roman, drückt sich das häufig darin aus, dass ich mich noch nicht auf die neuen Charaktere einlassen kann. Es ist durchaus vergleichbar mit Beziehungen im echten Leben.

Oben Erde, unten Himmel

Nun ja, dieser Sommer scheint anders zu sein. Ich lese einen tollen Roman nach dem anderen. Nach »Sommerwasser« bin ich abgetaucht in »Oben Erde, unten Himmel«, ein Roman von Milena Michiko Flašar, der 2023 im Verlag Klaus Wagenbach erschienen ist. Suzu, die 25jährige Hauptfigur, lebt allein mit einem Hamster. Sie ist keine extreme Eigenbrötlerin, aber sie ist gerne allein:

Schuld daran war vielleicht mein Phlegma. Kontakt zu pflegen oder überhaupt zu knüpfen empfand ich als lästig. Es erschöpfte mich, jemanden kennenzulernen. All die Gespräche, die man führen musste, um auf eine gemeinsame Schnittmenge zu kommen! All die Missverständnisse und Verstrickungen, die sich dabei ergeaben! Wozu die Mühe? Es war schon anstrengend genug, ich selber zu sein.

Nachdem sie ihr Studium abgebrochen hat, jobbt sie als Aushilfskellnerin. Das Leben in einer japanischen Großstadt, in der so leicht die Grenze zwischen Desinteresse und Diskretion verschwimmt, kommt Suzu entgegen. Suzu wird jedoch alsbald gekündigt, und ihr Chef legt ihr nahe, sich eine Arbeit zu suchen, bei der sie möglichst wenig Kontakt zu Menschen hat, was Suzu sich zu Herzen nimmt.

In einer Zeit, in der »vernetzt zu sein« beständig als lohnenswertes Ziel ausgegeben wird, erscheint Suzu immer wieder als Außenseiterin, manchmal gar als unnahbar oder nicht teamfähig. Dabei macht sie sich durchaus viele Gedanken um andere, fühlt sich selbst aber oft nicht zugehörig. Manchmal ist sie auf Dating-Sites unterwegs, aber nach einer kurzen Beziehung mit Kôtarô067, der sie ohne Erklärung wie eine Mücke verscheucht hat, baut Suzu ihren Schutzwall wieder um sich auf.

Sie findet eine neue Arbeit – und die hat es in sich! Ich will hier nicht zu viel verraten. Aber so viel sei gesagt, dass es um die »letzten Dinge« geht. Eine Arbeit, bei der es um körperliche Überwindung, aber auch um Respekt und sogar Ehrfurcht geht. Und um ein Feingefühl, das die empfindsame Suzu ohne jeden Zweifel hat.

Widerwillig nimmt Suzu an einem Kirschblütenpicknick ihres neuen Arbeitgebers teil und lernt dabei Menschen kennen.

Widerwillig nimmt Suzu an einem Kirschblütenpicknick ihres neuen Arbeitgebers teil und lernt dabei Menschen kennen.

Die Ich-Erzähler-Perspektive, die die Autorin gewählt hat, bringt uns Suzu schnell sehr nahe. Flašar zeigt, dass introvertierte, kontaktscheue Menschen schnell in eine falsche Schublade gesteckt werden.

Das Verbindende zwischen Kulturen

Milena Michiko Flašar entführt uns mit ihrem Roman in die fremde Welt der japanischen Großstadt, ohne dass wir uns fremd fühlen. Das allein ist großartig gemacht. Flašar, 1980 im österreichischen St. Pölten als Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters geboren, verwendet immer wieder japanische Ausdrücke, durch die für uns Leser ein detailreiches Bild der gegenwärtigen Atmosphäre in einer japanischen Großstadt entsteht. Worterklärungen am Ende des Buches helfen uns bei den japanischen Ausdrücken sehr gut weiter. Und als Autorin, die mit zwei so unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen ist, schafft sie es, dem Leser immer wieder das Verbindende zwischen den Kulturen vor Augen zu führen:

Leben probiert man nicht aus. Man lebt es einfach. Es gibt keine Generalprobe. Keine Wiederholungen.

»Oben Erde, unten Himmel« ist ein tiefgründiger und zugleich heiterer Roman über schwierige Themen unserer Zeit, ein frisches, wunderbares Buch, dem wir viele Leser wünschen!

CK | NK

Buchinformation

Milena Michiko Flašar
Oben Erde, unten Himmel
304 Seiten, gebunden
Verlag Klaus Wagenbach Berlin, 2023
ISBN 978-3-8031-3353-3

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Oben Erde, unten Himmel. Ein wunderbarer Roman von Milena Michiko Flašar

Oben Erde, unten Himmel. Ein wunderbarer Roman von Milena Michiko Flašar

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Die Fotografin Doris Rosenkranz und ihr subjektives Objektiv

Photographien von Doris Rosenkranz. Hg. Burkhard Baltzer, Rechteinhaber

Photographien von Doris Rosenkranz. Hg. Burkhard Baltzer, Rechteinhaber

Mein subjektives Objektiv

So hat die Fotografin Doris Rosenkranz (14.5.1927 – 24.10.2014) die Sammlung von 24 Fotos genannt, die ich vor ein paar Tagen per Zufall in der Buchhandlung Wekenmann in Tübingen entdeckt habe. Neugierig gemacht auf die Box mit den 24 Schwarzweiß-Postkarten und einem kleinen Beiheft hat mich die Aussage der Buchhändlerin Helge Noack, Doris Rosenkranz sei unter anderem in Hechingen aufgewachsen. Da spitzt man als gebürtiger Hechinger die Ohren.

Gerade mal zehn Jahre hat Doris Rosenkranz, die 1927 in Tübingen als Doris Rosenfeld zur Welt kam, als Fotografin gearbeitet: von 1950 bis 1960. Viel zu kurz! So schreibt kein geringerer als Wolf Biermann in seiner kurzen Einführung zum Werk von Rosenkranz, der als Tochter assimilierter Juden 1939 mit ihrer Mutter die Flucht in die Schweiz gelang. Dort in der Schweiz macht sie nach dem Abitur eine Lehre als Fotografin, die sie 1955 als Beste abschloss. Schaut man sich heute ihre Fotos an, verwundert es nicht, dass die junge Frau die Ausbildung mit Auszeichnung bestand. Rosenkranz hat ein Auge für Situation und Komposition und besaß die Fähigkeit im »rechten Augenblick« (Cartier-Bresson) auf den Auslöser zu drücken. Wer selbst fotografiert, weiß, dass sich dieser Vorgang in wenigen Sekunden, manchmal nur Sekundenbruchteilen abspielt.

Mein subjektives Objektiv. Photographien 1950 – 1960 von Doris Rosenkranz. Texte von Wolf Biermann und Burkhard BaltzerBiermann sieht Doris Rosenkranz in der Tradition von August Sander und ostdeutschen Fotokünstlern wie Roger Melis oder Helga Paris bzw. Thomas Höpker und Barbara Klemm im Westen. Mich erinnern ihre ausdrucksstarken Fotografien (etwa die Aufnahmen des berühmten Theologen Karl Rahner oder der Ehefrau von Hermann Hesse, Ninon Hesse) auch an die Bilder der schweizerischen Foto- und Verlegerlegende Ernst Scheidegger.

Das Humane berührt

»Die Bilder von Doris Rosenkranz stehen heute für das Humane, das wir vermissen und das uns wohl deshalb so berührt.« So schreibt der in Tübingen lebende Journalist und Kulturveranstalter Burkhard Baltzer, dem wir die Wiederentdeckung der Fotokünstlerin Doris Rosenkranz zu verdanken haben. Schade, dass die Karriere der Künstlerin Doris Rosenkranz nur gut zehn Jahre dauerte. Ab 1961 hat sie als Lehrerin im Hochschwarzwald gearbeitet, wo sie mit ihrem Mann, dem Dichter Moses Rosenkranz, gewohnt hat.

Und falls jetzt hier Hechingerinnen und Hechinger mitlesen: Wäre es nicht schön, man könnte die Postkarten-Box auch in Hechingen im Buchladen erwerben? Und eine Ausstellung mit den Fotos der zum Teil in Hechingen aufgewachsenen Doris Rosenkranz im Weißen Häusle oder in der Villa Eugenia oder in der schönen Hechinger Synagoge würde bestimmt auf reges Interesse stoßen.

NK | CK

Buchinformation

Mein subjektives Objektiv:
Photographien 1950 bis 1960 von Doris Rosenkranz
24 Postkarten in stabiler Box
Texte von Wolf Biermann und Burkhard Baltzer (Hg.)
erhätlich in der Buchhandlung Wekenmann, Tübingen

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