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Freitagsfoto: Alles ganz eitel

Rabenkrähe auf dem Tübinger Stadtfriedhof, nachdenkend

Rabenkrähe auf dem Tübinger Stadtfriedhof, über die Eitelkeit nachdenkend …

„Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel.“ (Prediger 1,2)

In einer Welt, in der immer mehr Menschen so reden, als ob sie in ihrer eigenen Netflix-Serie eine Hauptrolle spielten und schon mal den Instagram-Feed mit dem echten Leben verwechseln, hat der Gang über einen Friedhof eine ungemein erdende Wirkung.

Kommt gut rüber!

NK | CK

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Frohe Weihnachten · Merry Christmas

„Es treibt der Wind im Winterwalde / die Flockenherde wie ein Hirt ...“ (Rainer Maria Rilke)

„Es treibt der Wind im Winterwalde / die Flockenherde wie ein Hirt …“ (Rainer Maria Rilke)

Am 30. November 2023 ist Shane MacGowan, irischer Sänger der Band The Pogues, im Alter von grade mal 66 Jahren gestorben. Das Lied „Fairytale of New York“ gilt vielen als eines der schönsten Weihnachtslieder überhaupt. Bei Wikipedia lesen wir:

„Der Song folgt den Gedanken eines irischen Immigranten, der nach einem Alkoholrausch in einer Gefängniszelle schläft. Während ein mit ihm eingesperrter Mann den Song The Rare Old Mountain Dew singt, beginnt der Protagonist, von der Frau im Lied zu träumen. Nach dem Einsetzen der Band in der Mitte des Songs wird das Call-and-Response-Prinzip verwendet, das hier den Dialog zwischen dem Paar darstellt, dessen Hoffnungen von Alkohol und Drogen zerstört wurden.“

So, jetzt ein Pint Guinness bitte und Lautstärke rauf:

Wir danken allen Leserinnen und Lesern für ihr Interesse, ihre Treue, ihre Kommentare und Anregungen.

Und wenn’s über die Feiertage arg rührselig oder anstrengend wird, immer dran denken, was die Iren sagen: „It could be worse!“

Merry Christmas!

NK | CK

PS: Eine der schönsten Weihnachtsgeschichten hat übrigens der walisische Dichter Dylan Thomas geschrieben und selbst höchst beeindruckend rezitiert. Gibt’s hier zum Nachhören.

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Schwimmen, Freibad, Sehnsucht

„die erste geschwommene Bahn an einem Tag im Mai“. Freibad Hechingen. Foto: Norbert Kraas

„die erste geschwommene Bahn an einem Tag im Mai“. Freibad Hechingen. Foto: Norbert Kraas

Wasserzeiten

„Oder – die erste geschwommene Bahn an einem Tag im Mai, wenn das Freibad nach der Winterpause gerade wieder geöffnet hat. Der Sommer steht noch bevor.“

Wie jetzt? Sommer? Freibad? Dabei hat der Winter noch nicht mal richtig begonnen, und ein Tag scheint trüber als der andere. Und trotzdem: heute geht’s hier um Freibäder, ums Schwimmen und um das kleine, manchmal auch das große Glück im Wasser.

Im Frühjahr, kurz vor Beginn der Freibad-Saison hat mir Teresa Welte von der gleichnamigen Buchhandlung am Hechinger Marktplatz ein schmales Buch mit dem Titel „Wasserzeiten“ empfohlen. Und weil diese Buchhändlerin nicht nur einen sehr guten Cappuccino macht, sondern auch eine leidenschaftliche und ausdauernde Freibad-Schwimmerin ist, habe ich das Buch gleich mitgenommen.

Corinna und ich haben es beide mit Begeisterung gelesen, und man kann es immer wieder mal aufschlagen und reinlesen. Gerade an diesen tristen Tagen, wenn einem die regenschweren Dezemberwolken auf den Kopf fallen, und man sich wundert, warum man eigentlich noch keine Schwimmhäute zwischen den Zehen hat.

Die Hamburger Autorin Kristine Bilkau widmet sich in ihrem Essayband „Wasserzeiten“ dem Thema Schwimmen in 12 teils sehr persönlichen und anregenden Texten. Dabei geht es Bilkau nicht um die perfekte Technik oder darum, bessere Zeiten zu schwimmen. Sie geht dem Gefühl nach, das bei uns auslöst wird, wenn wir schwimmen.

„Schwimmen, der Körper, die Gedanken, der Ort. Was hat es damit auf sich? Woraus genau setzt sich dieses großartige, erhebende, erfüllende Erlebnis zusammen?“

Die schwimmbegeisterte Autorin nimmt uns mit ins Wasser, lässt uns an ihren ersten Schwimmerinnerungen mit ihrem Vater teilhaben, zitiert Gedichte und verweist auf Kurzgeschichten, die sich mit dem Schwimmen auseinandersetzen; und sie reist mit uns zu ganz besonderen Orten, an denen Menschen schwimmen.

Sehnsuchtsorte

Einer diese Sehnsuchtsorte sind die Hampstead Heath Ponds in London. Das sind natürliche Teiche, in denen Männer und Frauen schwimmen, getrennt versteht sich: es gibt den Highgate Men’s Bathing Pond und den Kenwood Ladies’ Bathing Pond. Bilkau schreibt, dass sie bei ihren Recherchen über diese Teiche auf etliche Filme und Erzählungen gestoßen ist, die immer wieder das „Miteinander“ betonen.

„Menschen, die diesen Glücksmoment teilen, einfach dort zu sein, durch das weiche, trübe Wasser zu gleiten, über sich die mal sommerlich grünen, mal winterlich kahlen Bäume …“

Sehnsuchtsort Freibad: Kurzurlaub in nächster Nähe. Freibad Hechingen. Foto: Norbert Kraas

Sehnsuchtsort Freibad: Kurzurlaub in nächster Nähe. Freibad Hechingen. Foto: Norbert Kraas

An schönen Tagen, wenn man beim Schwimmen das Gefühl hat, das Wasser ist freundlich und lässt einen einigermaßen gut gleiten, dann kann man solche Glücksmomente nicht nur in London, sondern auch im schönen Hechinger Freibad am Fuß der Schwäbischen Alb erleben. Und es ist gut möglich, dass man dann Menschen am Beckenrand trifft, die grade dieselben Glücksmomente genießen: man sieht es ihnen an. Ein schönes Gefühl ist das, kurz und kostbar.

Gemeinschaft und Unterstützung: Swimming Through

Um das Gefühl der Gemeinschaft und der gegenseitigen Unterstützung geht es auch in dem sehenswerten Dokumentarfilm „Swimming Through“, den die US-amerikanische Filmemacherin Samantha Sanders (Green River Films) für das Magazin The New Yorker gedreht hat. Sanders begleitet darin drei Frauen beim Freiwasserschwimmen im Lake Michigan in Chicago. Für Jennifer Hoffmann, Deirdre Hamill-Squiers und Helen Wagner wird das tägliche Schwimmen bei jedem Wettter (!), zu einem lebenswichtigen Ritual während der Isolation der Corona-Pandemie. „Swimming Through“ ist ein bewegendes, exzellent gefilmtes Meisterwerk. Der Film dauert 15 Minuten und kann mit deutschen Untertiteln (Einstellungen) abgespielt werden. Es lohnt sich!

Wasserglück

„Im Element Wasser entsteht diese ideale Verbindung, die sich oft im Tempo des Alltags nicht so leicht einstellt. Ganz und gar verbunden zu sein, mit dem Ort und dem Moment.“

So schreibt Kristine Bilkau am Ende von „Wasserzeiten“. Ein schmales Buch, das lesenden Schwimmerinnen und Schwimmern die Wartezeit bis zum Beginn der Freibadsaison etwas erträglicher machen kann.

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PS: Zu Weihnachten wünschen wir uns, dass alle Verantwortlichen in Bund, Ländern und Gemeinden die zentrale Bedeutung der öffentlichen Schwimmbäder für ein Gemeinwesen erkennen und entsprechend handeln. Und natürlich bedanken wir uns bei allen Rettungsschwimmer*innen und und Badermeister*innen für ihren Einsatz!

Buchinformation

Kristine Bilkau
Wasserzeiten. Über das Schwimmen
Arche Literatur Verlag, 2023
ISBN: 978-3-7160-2819-3

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Schöne Postkarte Nr. 130 · Winterbad der Schwäne · © Schöne Postkarten, Tübingen

Winterbad der Schwäne am Tübinger Stauwehr · © Schöne Postkarten Nr. 130

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Freitagsfoto: Melancholie

Skulptur auf dem Tübinger Stadtfriedhof

Skulptur auf dem Tübinger Stadtfriedhof

Melancholie,
meine Beschützerin,
süchtig nach Grenzen
und verbündet mit Verlusten.
In welcher Sprache
kann ich dich lesen?
Immer sind es die unerwarteten
Wörter,
aus denen die Trauer bricht

Peter Härtling, Kivisaari-Gedichte

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Buchinformation

Peter Härtling
Horizonttheater
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1997
ISBN: 3-462-02635-6

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Carlo Masala: „Bedingt abwehrbereit“

Holzgewehre, wenn’s drauf ankommt? Eher keine gute Idee!

Holzgewehre, wenn’s drauf ankommt? Eher keine gute Idee!

Wer es am Herz hat, geht zur Kardiologin. Wer Hautprobleme hat, geht zum Dermatologen. Aber wohin geht man, wenn einem die politische „Weltunordnung“ mit ihren ganzen Kriegen und Konflikten immer mehr zu schaffen macht? Wie wäre es mit einem informativen, faktenfundierten Sachbuch, geschrieben von einem Experten, der etwas von seinem Metier versteht und niemandem nach dem Mund redet?

„Wenn Sie optimistische Szenarien hören wollen, müssen Sie mit jemand anderem reden …“

Zeitenwende oder Zeitlupenwende?

Dieses Zitat stammt von Carlo Masala, einem wirklichen Experten für politische Krisen, Konflikte und Kriege, der selbst intellektuelle Scharmützel nicht scheut. Masala, der an der Universität der Bundeswehr in München als Professor Internationale Politik ist lehrt, ist dem deutschen Publikum vor allem seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 bekannt. Vor wenigen Wochen ist Masalas neues Buch bei C. H. Beck erschienen: „Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende“

200 Seiten umfasst der Gesprächsband, in dem sich Masala den Fragen von Sebastian Ullrich (Cheflektor bei C.H. Beck) und Matthias Hansl (Programmleiter bei C.H. Beck) stellt. Und ein bisschen fühlt es sich beim Lesen so an, als würde man selbst Gelegenheit haben, diesen Experten mit Fragen zu löchern.

Masala gilt in der Politikwissenschaft als Neorealist. Die gehen, vereinfacht gesagt, davon aus, dass die internationalen Beziehungen der Staaten durch die Dominanz ihrer eigenen Sicherheitsinteressen geprägt sind. Der Selbsterhaltungstrieb geht dabei über alles, und sie schrecken auch vor einer Verweigerung der Zusammenarbeit mit anderen Staaten nicht zurück. Bis vor gut einem Jahr konnte ich mit dem Etikett „Neorealist“ noch nichts anfangen. Nach fast zwei Jahren Krieg in der Ukraine, Ende nicht absehbar, und dem brutalen Massaker der Hamas in Israel, kann Deutschland froh sein, einen Experten wie Carlo Masala zu haben, der die Welt realistisch analysiert und sich nach eigener Aussage in Wolkenkuckucksheimen nicht wohlfühlt.

Masalas neues Buch ist zum einen eine schonungslose Analyse deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, vor allem in Bezug auf Russland und China. Zugleich ist der Band ein deutlicher Weckruf, der hoffentlich auch im politischen Berlin Gehör findet. Das wäre nämlich dringend nötig, denn nach dem 27. Februar 2022, als Bundeskanzler Olaf Scholz die Zeitenwende-Rede gehalten ist, ist viel zu wenig passiert, was diesen Namen wirklich verdient hätte. Masala spricht eher von „Zeitlupenwende“. Deutschland ist, man liest es ernüchtert bis erschrocken: „Bedingt abwehrbereit“.

Bequemlichkeit und falsche Prioritäten

Wäre Deutschland und nicht die Ukraine Opfer eines russischen Überfalls geworden, so Masala, „hätte die Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr in diesem Fall zwischen drei Tagen und zweieinhalb Wochen betragen, nicht länger.“ Wie er zu diesem Urteil kommt, und warum die Bundeswehr in ihrem jetzigen Zustand das Territorium der Bundesrepublik Deutschland nicht verteidigen könnte, ist Gegenstand des ersten von drei großen Kapiteln dieses Buchs.

Carlo Masala im Gespräch mit Marc Mausch und Rudi Bachmann (v.l.n.r.) am 27.9.2023 in Tübingen.

Carlo Masala im Gespräch mit Marc Mausch und Rudi Bachmann (v.l.n.r.) am 27.9.2023 in Tübingen.

In diesem ersten Teil geht es um die Frage, warum Deutschland nur bedingt abwehrbereit ist, und warum wir in den letzten Jahrzehnten so bequem geworden und dabei sehenden Auges in diesen gefährlichen Zustand hineingerutscht sind. Masala nimmt kein Blatt vor den Mund und wirft den Deutschen Bequemlichkeit und falsche Prioritätensetzung nach 1990 vor. Wir hätten davon profitiert, dass wir das Geld, das wir nicht für die Bundeswehr und die Verteidigung ausgegeben haben, anderweitig einsetzen konnten. Warum? Weil andere, allen voran die USA, für unsere Sicherheit gesorgt haben. Dazu kommt:

„Der deutsche Staat hat eine seiner Kernfunktionen, nämlich die Organisation der Sicherheit nach außen, der neoliberalen Agenda geopfert.“

Masala meint damit, dass die Bundeswehr viele Aufgaben im Zuge einer neoliberalen Privatisierung an Privatunternehmen vergeben hat. Das beginnt bei der Verpflegung und endet beim Fuhrpark und dessen Instandhaltung. Im V-Fall, also dem Verteidigungsfall, von dem in meiner Wehrdienstzeit Anfang der 1980er ständig die Rede war, wäre dies ziemlich hinderlich. Denn wie soll man etwa einen Panzer vom Typ Leopard II in kürzester Zeit vom Schlachtfeld zu einer privaten Instandhaltung bringen? Und was wenn diese private Werkstatt grade keine Zeit hat, weil sie, sagen wir, mit anderen Aufträgen mehr Geld verdienen kann?

Ganz ehrlich, es klingt alles nicht gut, was Masala da an dichten Fakten verständlich präsentiert, und es wirft ein ganz schlechtes Licht auf die verantwortlichen Politiker*innen, die, wie wir alle (!), von der „Friedendividende“ nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion profitiert haben.

Offensichtlich hat unser Land nicht nur Brücken, Straßen und Schulen kaputt gespart, sondern auch die Bundeswehr, die jetzt nach der Zeitenwende im Deutschlandtempo (was immer der Bundeskanzler darunter versteht) auf Vordermann gebracht werden soll: mit einem Sondervermögen und vereinfachten Strukturen. Reicht alles nicht, sagt Masala, der auch ein paar Jahre am NATO-Defense College in Rom gelehrt hat. Wir brauchen nicht nur bessere Ausrüstung, sondern auch mehr technische Aufrüstung, um wieder wehrhaft zu werden. Und Wehrhaftigkeit wiederum ist eine der Grundbedingungen, um sowohl in der NATO als auch im weltweiten Kräftespiel einigermaßen ernst genommen zu werden.

Verteidigungsbereitschaft heißt für Masala aber nicht nur Waffensysteme oder warme Winterunterwäsche für unsere Soldatinnen und Soldaten. Die Verteidigung ist eine Sache, die den gesamten Staat und die ganze Gesellschaft betrifft. Das leuchtet ein und führt zu weiteren Fragen: Wie wehren wir massive Cyberangriffe und Desinformationskampagnen ab? Wie gut oder schlecht ist unsere kritische Infrastruktur geschützt? Wie resilient sind wir als Gesellschaft im Falle eines Angriffs? Masala bescheinigt Deutschland auch hier kein gutes Zeugnis. Für ihn sind die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine, der baltischen Staaten oder Polen Vorbild. Dort lebt man schon länger mit einem bedrohlichen Nachbarn an der Ostgrenze und lässt sich von diesem nicht einlullen.

Kalt erwischt am langen Tisch

Deutschland hingegen wurde am 24. Februar 2022 im wahrsten Sinne des Wortes kalt erwischt. Die Regierungen der letzten Jahre sind aus Naivität und weil russisches Gas und russisches Öl so billig waren, einfach nicht von einem russischen Angriff auf die Ukraine ausgegangen.

Damit sind wir im zweiten erhellenden Gesprächsblock, der deutschen Russland- und Ukrainepolitik vor und nach dem 24. Februar 2022. Auch hier lässt Masala in seiner kühlen und knallharten Analyse kaum ein gutes Haar an deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Wir sind Putin, dem alten KGB-Geheimdienstler auf den Leim gegangen. Wir sind einfach davon ausgegangen, dass man Putin vor dem 24. Februar 2022 noch hätte bremsen können. Die völkerrechtswidrige Besetzung der Krim 2014? Haben wir ignoriert und stattdessen Nord Stream 2 auf den Weg gebracht. Wie naiv und optimistisch kann man sein? denkt man ein ums andere Mal.

„Strategisch sollte man immer davon ausgehen, dass nicht die optimistische, sondern die pessimistische Annahme eintritt.“

Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft sind halt lieber davon ausgegangen, dass schon alles gut gehen wird und haben nicht bemerkt (oder um der Geschäfte willen nicht merken wollen), dass der imperial denkende Fuchs Putin sie ein ums andere Mal über seinen langen, hässlichen Tisch gezogen hat. Die Gründe liegen für Masala auf der Hand:

„Man hätte die Logik, die Putins Verhalten zugrunde liegt, früher erkennen können. Man wollte sie nicht erkennen, weil es einen dazu gezwungen hätte, die eigene Logik zu ändern und den Zusammenhang zwischen militärischer Macht und Diplomatie viel enger zu sehen. Dies widersprach unserem Selbstverständnis und unserer Tradition.“

Masala geht auch Kapitel auch auf Kritiker der Waffenlieferungen an die Ukraine ein, die immer behaupten, die NATO und der Westen hätten Russland förmlich zum 24. Februar 2022 gedrängt. Und er geht auch auf die Fehler der EU, des Westens und der NATO ein (Irak, Afghanistan, Syrien, Libyen) ein, um dann, argumentativ schlüssig, klar zu stellen, dass die Russlandversteher eben gerade Russlands wahre, imperiale Motive nicht verstanden haben. Länder, die näher an Russland dran sind, sehen da offensichtlich klarer:

„Die Polen zum Beispiel haben immer vor der Fehlwahrnehmung gewarnt, Russland sei eine saturierte Macht, die nur ökonomische und Sicherheitsinteressen verfolge, und darauf gepocht, es handele sich um eine revisionistische Macht mit expansionistischen Zielen. Sie haben recht behalten.“

Dies wird übrigens, so Masala, auf lange Sicht so bleiben, ganz gleich wie der Krieg in der Ukraine ausgehen wird. Mit diesem expansionslüsternen Russland werden wir lange Sicht leben müssen. Entsprechend muss die Sicherheitspolitik Deutschlands in Zukunft ausgerichtet werden.

Gekommen, um zu bleiben: Weltunordnung

Die „Weltunordnung“, so der Titel von Masalas letztem, ebenfalls lesenswerten Buch, wird bleiben.Und auf diese Weltunordnung müssen wir uns konsequent einstellen, und zwar in allen Bereichen unseres Staates. Sehr deutlich fordert Masala auch von der Wirtschaft, die bisher Profit über alles stellt, ein Umdenken. Hier stößt ihm vor allem die rein profitorientierte Haltung zu China auf, einem extrem machtbewussten Akteur, den wir bitteschön nicht unterschätzen sollten.

„Was in Deutschland fehlt, ist ein großer strategischer Dialog zwischen Wirtschaft und Politik in geopolitischen bzw. geoökonomischen Kategorien.“

Ob es dazu kommen wird? Gut wär’s. Denn die Herausforderungen der Zukunft sind enorm. Als Stichworte seien genannt: China, Taiwan, Trump, die autoritären BRICS-Staaten

„Die politischen Eliten und öffentlichen Intellektuellen müssen die Herausforderungen der Weltunordnung im 21. Jahrhundert klar benennen und ein Bewusstsein für die daraus resultierende Verletzlichkeit unserer Gesellschaft schaffen.“

Und weil wir nicht mehr davon ausgehen können, dass wir angesichts der bleibenden Weltunordnung in aller Ruhe mit Demokratien und Diktaturen gleichermaßen tolle Geschäfte machen können, wird es höchste Zeit, dass möglichst viele Menschen dieses kluge, klarsichtige Buch lesen.

Ich für meinen Teil wünsche mir jedenfalls in Zukunft eine „Masala-basierte Außen- und Sicherheitspolitik“ statt des wolkigen Wortgeklingels aus Kanzleramt und Außenministerium.

NK | CK

Buchinformation

Carlo Masala
Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende
Broschur, 207 Seiten
Verlag C.H. Beck, München, 2023
ISBN: 978-3-406-80039-9

Carlo Masala ist regelmäßig Mitgastgeber des Podcast „Sicherheitshalber“

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Bach: Trost und Freude

Das Bachhaus in Eisenach zeigt eine der bedeutendsten Ausstellungen zu Bachs Leben

Das Bachhaus in Eisenach zeigt eine der bedeutendsten Ausstellungen zu Bachs Leben

ERMUTIGUNG NACH 200 JAHREN
(auf dem Heimweg von einem Orgelkonzert)

Zu füßen gottes, wenn
gott füße hat,

zu füßen gottes sitzt
Bach,

nicht

der magistrat von Leipzig

Reiner Kunze

Herr F. lebte bis zu seinem Tod vor ein paar Monaten im selben Pflegeheim wie meine Mutter in einer Kleinstadt am Fuß der Schwäbischen Alb. Während seines Berufslebens war er Professor für Musikwissenschaften und hat bis zu seiner Emeritierung an verschiedenen deutschen Universitäten gelehrt. Trotz seiner fortschreitenden Erkrankung machte Herr F. immer einen freundlichen und offenen Eindruck, wenn ich ihn bei meinen Besuchen im Heim getroffen habe.

Besonders haben seine Augen geleuchtet, wenn ich ihm von meinem Smartphone ein Stück von Johann Sebastian Bach vorgespielt habe. Auszüge aus den „Goldberg-Variationen“ etwa oder den Choral „Jesus bleibet meine Freude“ gespielt von Dinu Lipatti. Bach-Experten, wie Herr F. einer war, sagen, Lipattis Interpretation sei einer der schönsten.

An Herrn F. und an Dinu Lipatti musste ich sofort denken, als ich vor ein paar Wochen das Gedicht von Reiner Kunze in seinem Band „auf eigene hoffnung“ (S. Fischer Verlag, 1981) entdeckt habe. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Herr F. und Dinu Lipatti (1917 – 1950) neben Bach zu Füßen Gottes sitzen – wenn Gott denn Füße hat.

Euch allen ein erholsames Wochenende!

NK | CK

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Die letzten Gartenarbeiten

Nass war er, der Oktober, gut für die Natur.

Viel zu warm war er, der Oktober, aber wenigstens hat es mal wieder richtig geregnet

Kalter Dauerregen
die letzten Gartenarbeiten
müssen warten

Cold steady rain
the last chores of fall
have to wait

Dieses Haiku nimmt Bezug auf das schöne Gedicht „Last Chores of Fall“ (Die letzten Arbeiten im Herbst) des Freundes und Dichters Jack Ridl:

Last Chores of Fall

The trace of November lingering
along the ridge behind our house,
the exhale of yellow-gold
within the stagger of oaks.
tells us it is time to move inside,
let our blood return to its quiet
wander, the year now browning
toward a sudden frost. This
afternoon I will slowly uproot
the impatiens, tossing
their gasps of pink, white,
and salmon into the dark
of the compost pile. Remembering
to bend at the knees, I’ll carry
the cracked and chipped pots
back to the garden’s shed,
stack them, letting the clay
of one pot settle into the dirt
in another. I’ll bring in
the geraniums, their twisted,
leggy stems nearly leafless
and cut them down to hopeful
nubs, then set them on the sill.
The dogs will watch as I wash
and dry the trowel my father
used for thirty years. Each
year he added another row
or two of flowers. I’ll hang
the trowel on its rusty nail.
The dogs will lift their mysterious
noses into the changing air, into
the smells of mud, moldering
leaves, the scent of approaching
snow along the stream below
the barren ridge. Then I will
turn back to the house, the sun
burning down early into its setting.

Jack Ridl

Used here with kind permisson of the author.

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Buchinformation

Jack Ridl
broken symmetry
Wayne State University Press, Detroit, USA
ISBN: 9780814335208

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„Solange wir schwimmen“ · Roman von Julie Otsuka

„Im Schwimmbad gelingt es uns an den meisten Tagen, unsere Landsorgen hinter uns zu lassen.“

„Im Schwimmbad gelingt es uns an den meisten Tagen, unsere Landsorgen hinter uns zu lassen.“

Solange wir schwimmen

„Solange wir schwimmen“ heißt der neue Roman der US-amerikanischen Autorin Julie Otsuka, erschienen im August 2023 im mare-Verlag. Es geht, wie der Titel sagt, ums Schwimmen, aber vor allem auch um das allmähliche Verschwinden eines geliebten Menschen: Alice.

Im ersten Teil dieses außergewöhnlichen Romans begegnen wir Alice jedoch noch nicht als Protagonistin, sondern als Teil einer verschworenen Gemeinschaft von Schwimmerinnen und Schwimmern. Es ist eine Gruppe völlig unterschiedlicher Menschen, die sich regelmäßig in einem Bad tief im Souterrain irgendwo in L.A. zum Schwimmen trifft:

Vielesser, Nichtskönner, Hundesitter, Crossdresser, Strickverrückte (Nur noch eine Reihe), heimliche Hamsterer, unbedeutende Dichter, nachziehende Ehepartner, Zwillinge, Veganerinnen …

Und diese Gemeinschaft hat sich Regeln auferlegt zum Umgang miteinander, eine von diesen lautet: nett zu Alice zu sein. Weil Alice manches nicht mehr versteht oder einordnen kann. Alices beginnende Demenz wird hier nur kurz erwähnt.

Dieser erste Romanteil hat etwas Heiter-Komisches, es geht um Typen und Schwimmgewohnheiten, wie sie jeder kennt, der regelmäßig im Hallen- oder Freibad seine Bahnen zieht. Ungewöhnlich, aber interessant ist die Wir-Erzählperspektive, die die Autorin dabei wählt. Eines Tages wird die Schwimmgemeinschaft auf einen Riss, später auf mehrere Risse, auf dem Grund des Beckens aufmerksam. Was als Irritation beginnt, bereitet immer mehr Sorgen (der Roman spielt in Kalifornien, wo das große Beben immer passieren kann) und endet nach etlichen Verzögerungen, für manche sehr schmerzhaft, in der Schließung des Schwimmbads.

Der anfänglich nur kleine Riss hat große Folgen

Der anfänglich nur kleine Riss hat große Folgen

Metaphorisch kann man die Risse als Brüche des Lebens verstehen oder hier als Übergang in die nächste Krankheitsphase von Alice betrachten. Solange Alice schwimmen konnte, gab das Wasser ihr Auftrieb, folgte Alice dem Automatismus ihrer Schwimmbewegungen.

Zahlen malen statt Bahnen ziehen

Der zweite Teil beginnt mit der Aufnahme von Alice in das Pflegeheim „Belavista“. Und nun hat der Roman einen völlig anderen Ton. Für Leserinnen und Leser, die diese Erfahrung bereits mit einem geliebten Menschen gemacht haben, sind einige dieser Seiten sehr schmerzhaft zu lesen. Denn Julie Otsuka beschreibt jede Beobachtung, jedes Detail in einer kompromisslosen Schärfe. Die direkte Ansprache des Lesers in der Höflichkeitsform verstärkt diese Wirkung nochmals und macht uns klar, dass es jeden treffen kann:

Sie sind heute hier, weil Sie den Test nicht bestanden haben. Vielleicht ist es Ihnen nicht gelungen, alle Zahlen auf das Ziffernblatt zu malen oder das Wort „Welt“ rückwärts zu buchstabieren oder sich auch nur an eins der fünf unzusammenhängenden Wörter zu erinnern, die Ihnen soeben, vor nur wenigen Minuten, von einer unserer professionell geschulten Prüferinnen vorgelesen wurden.

In einem dritten Teil steht die Tochter der dementen Alice im Fokus: wie hat sie das allmähliche Verschwinden der Mutter erlebt? Hier wählt die Autorin die Du-Perspektive, vielleicht auch um mehr Distanz zu den eigenen Empfindungen zu gewinnen.

Natürlich hatte es die üblichen ersten Anzeichen gegeben, die du aber nicht wahrhaben wolltest. (…) Das leicht fahrige Lächeln. Der zusätzliche Sekundenbruchteil – so kurz, dass es fast nicht auffiel, aber in diesem kurzen Moment wusstest du, dass es dich nicht gab –, den sie brauchte, um am Telefon deine Stimme zu erkennen.

Dadurch wird jedoch auch der Leser sehr direkt angesprochen: Wie gehen wir um mit der Erkenntnis des Versäumten, wie gehen wir um mit den Irrtümern unseres Lebens?

Du bist nie mit ihr nach Paris oder Venedig oder Rom gefahren, an all die Orte, von denen sie immer geträumt hatte –

AJulie Otsuka: Solange wir schwimmenber selbst hier, im schwierigen zweiten und dritten Teil des Romans, blitzt Otsukas Sinn für das Witzig-Komische manchmal auf. Überhaupt zeichnet dieser Roman die besondere Beobachtungsgabe von Julie Otsuka aus, genauso ihr unglaublich gutes Gespür für Phrasen und Floskeln.

Ein sprachlich wie inhaltlich sehr interessantes Buch!

CK I NK

Buchinformation

Julie Otsuka
Solange wir schwimmen
aus dem Englischen von Katja Scholtz
gebunden, 160 Seiten, Lesebändchen
mare Verlag, 2023
ISBN: 978-3-86648-691-1

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