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Kabbeleien zum Tee

Es gibt sogar Messlöffel, um die richtige Menge Tee abzumessen. Der Löffel ist aus England, der Irish Breakfast von Hinrichs Teehus

Ja, es gibt Messlöffel, um die richtige Menge Tee abzumessen; der hier ist aus England, der Irish Breakfast von Hinrichs

Eigentlich ist Tee ein simples Getränk. Man nimmt heißes Wasser und gießt dieses über eine gewisse Menge Teeblätter. Klingt einfach, oder? Ist es aber nicht! Wer sich etwas intensiver mit dem Thema Tee beschäftigt, kommt aus dem Lesen, Staunen, auch Kopfschütteln nicht mehr raus. Schaut man sich etwa die strengen Teezeremonien in Japan an, wird schnell klar, dass man buchstäblich alles falsch machen kann. Aber wir müssen nicht erst ins ferne Japan reisen: Zeuge einer morgendlichen Teekabbelei kann man auch in der eigenen Küche werden, wie die nun folgende Geschichte von Corinna beweist.

Morgendlicher Streit

Seit Jahr und Tag streiten mein Mann und ich uns regelmäßig um die Teezubereitung. Während das Frühstücksei zu hart oder zu weich geraten darf, ohne dass dem anderen dafür der Kopf abgerissen wird, kommt es bereits beim Zubereiten des Tees zu kontrollierenden Blicken, manch spitzen Bemerkungen oder gar zu Diskussionen, die Wellen auslösen, welche sich erst im Laufe des späten Vormittags wieder glätten.

Wer jetzt denkt, das dies kaum zu glauben ist, weil Tee nun mal nicht kompliziert zu kochen sei, der irrt gewaltig. Beginnen wir damit: ich trinke meinen Tee gerne bei trinkbarer Temperatur. Ich hasse es, mir minutenlang die Lippen zu verbrennen, was geschieht, wenn man das Wasser vor dem Aufbrühen noch einmal hochkocht, obwohl es das bereits getan hat. Damit der Tee nicht einmal die Chance hat, danach etwas abzukühlen, wärmt mein lieber Gatte – der altmodische Ausdruck ist hier angebracht, weil er es in seiner Nettigkeit wahrscheinlich aus reinster Fürsorge macht – die Kanne selbst vorher mit extra heißem Wasser eigens auf. Er selbst kann den von ihm zubereiteten Tee auch nicht wirklich trinken, es handelt sich bei dem Vorgang eher um ein langgezogenes lautes Schlürfen, das sich, weil sich die Teetemperatur in der vorgewärmten Kanne wie gesagt ja kaum verändert, minutenlang hinziehen kann.

Und morgens bin ich sehr empfindlich, was Geräusche betrifft. Ähm, höre ich meinen Mann sagen. Stimmt, du hast recht, nicht nur, was Geräusche betrifft. Ich bin morgens empfindlich, Punkt. Ich werde am Frühstückstisch am besten gar nicht angesprochen, ich kann morgens nicht so viele Worte vertragen. Ich befinde mich da einfach in einem anderen Modus. Die Nacht mit ihren Verirrungen hängt mir noch nach. Ich brauche eine Weile, um in den Tag zu kommen – leider, ich hätte es auch gerne anders. Mein Mann ist ein gefürchteter früher Vogel, der selbst nach schlechter Nacht ein Liedchen unter der Dusche trällert.

Aber wir waren beim Tee. Die Dosierung – ein wahrlich heikler Punkt. Darf man den Herstellerangaben oder den überaus freundlichen und gewiss kundigen Teeverkäuferinnen vertrauen, die angeben, ein Teelöffel pro Tasse sei das richtige Maß? Natürlich nicht, meine ich, schließlich leben sie von dem Verkauf, eine gesunde Skepsis ist also angebracht. Insbesondere meine ich, dass man bei größeren Teevolumina, die es vorzubereiten gilt, auf keinen Fall einfach hochrechnen darf, also etwa sechs Tassen, sechs Teelöffel. Das sieht selbst mein Mann ein, aber ob und wie lange sich diese mathematische Kurve nun proportional verhalten darf, darüber können wir ewig diskutieren, zumal die Teeart hier auch noch eine gewisse Rolle spielt. Mein Mann liebt starken Irisch Breakfast, ich bevorzuge den aromatischeren Earl Grey.

Aber lassen wir die Teesorte jetzt mal der Einfachheit halber beiseite. Viel hilft nicht immer viel, obwohl ich meinen Mann wohl in den uns noch verbleibenden Ehejahren bis zum Greisenalter wohl davon nicht mehr überzeugen werde. Ob milchige Sonnenschutzcreme, Samba Olek oder Tee, ich ahne, er ist früh im Leben mal deutlich zu kurz gekommen. Natürlich sieht er das ganz anders und interpretiert meine, in seinen Augen allzu vorsichtige Dosierung als kleinkrämerischen Geiz. Dabei verdanken wir meiner Sparsamkeit durchaus so manches im Leben.

Schließlich die Ziehdauer. Man ahnt es, es deutet sich ein Gleichnis mit sexueller Symbolkraft an. Kurz und heftig oder etwas länger und dafür abgerundeter? Nun ja, meine Vorliebe dürfte klar sein.

Zur Teatime am Nachmittag haben wir uns übrigens beide wieder beruhigt, jeder bereitet ihn dann nach seiner Art zu, und er wird – ein Wunder – umstandslos vom anderen so getrunken. Ist ja schließlich nur Tee, oder?

Enjoy your tea!

CK | NK

Anmerkung: Der Mann macht übrigens phantastische Scones zum Afternoon Tea.

Nr. 221 · I like pouring your tea. aus „Tea“, ein Gedicht von Carol Ann Duffy | © Schöne Postkarten

Nr. 221 · I like pouring your tea. aus: „Tea“, ein Gedicht von Carol Ann Duffy | © Schöne Postkarten

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Wenn Erinnerungen wie Blätter fallen: Demenz

Rund 900 Mal pro Tag wird in Deutschland die Diagnose Demenz gestellt

Rund 900 Mal pro Tag wird in Deutschland die Diagnose Demenz gestellt

Demenz

Demenz, in welcher Form auch immer sie sich manifestiert, ist eine furchtbare Krankheit – für die Betroffenen und für die Angehörigen. In Deutschland sind aktuell rund 1,8 Millionen Menschen an einer Form von Demenz erkrankt. 60 Prozent aller Demenzkranken leiden an der Alzheimer-Demenz. Die vaskuläre Demenz, die auf Durchblutungsstörungen des Gehirns zurückgeführt wird, ist die zweithäufigste Form.

Alois Alzeimer wohnte während seiner Tübinger Zeit in der Tübinger HafengasseBenannt ist die Krankheit nach Alois Alzheimer (14.6.1864 – 19.12.1915), der die Nervenkrankheit erstmals am 3. November 1906 in Tübingen bei einer Fachtagung vorgestellt hat. Alois Alzheimer hat 1886/87 auch kurz in Tübingen studiert. Eine Gedenktafel in der Hafengasse erinnert an den Arzt, der 1915 im Alter von nur 51 Jahren starb, vier Jahre nachdem erstmals der Begriff „Alzheimersche Krankheit“ von Alzheimers Vorgesetztem, Dr. Emil Kraeplin, erwähnt wurde.

Auch wenn immer wieder mit neuen Medikamenten-Studien Hoffnungen aufkeimen, ist die Krankheit bis heute nicht heilbar; auch die Ursachen sind längst nicht komplett erforscht. Klar ist, dass zu wenig Geld in die Alzheimer-Forschung investiert wird, und dass die Krankheit alle Beteiligten (Patienten, Angehörige, Pflegepersonal) vor große Herausforderungen stellt. Und evident ist auch, dass das Problem nicht geringer werden wird, und dass wir als Gesellschaft nicht ausreichend darauf vorbereitet sind.

Wenn Erinnerungen wie Blätter fallen

Jedes Jahr im September ist der Internationale Alzheimer-Monat; Welt-Alzheimer-Tag ist der 21. September. Ziel solcher Aktionen ist es, die weltweite Aufmerksamkeit zumindest für einen Tag lang auf diese Krankheit zu lenken. Ich bin im letzten Jahr im Zuge einer Recherche auf Twitter/X auf ein Gedicht gestoßen, dass mich sofort angesprochen und sehr berührt hat. Der Autor ist Tony Husband, ein leider letztes Jahr verstorbener, berühmter englischer Karikaturist, dessen Vater an Alzheimer erkrankt war. Einen Nachruf auf Tony Husband kann man im Guardian lesen.

Das Gedicht beschreibt, aus der Sohn des Patienten, eine Situation, die wohl die meisten Angehörigen von Demenz-Patienten kennen.

A POEM FOR ALZHEIMERS MONTH (September)

As memories fall like autumn leaves
from even the mightiest of the trees
I think I know who you may be
and why you mean so much to me
So in my mind I try to stir
thought of what we once were
and yes we were, I think I know,
that in my arms I watched you grow
my boy, of course, it’s you!

memories may fade
but love … is true

Schönes Wochenende!

NK | CK

A POEM FOR ALZHEIMER’S MONTH

A POEM FOR ALZHEIMER’S MONTH. Screenshot: Norbert Kraas

Information

Deutsche Alzheimer Gesellschaft
Nationale Demenzstrategie
Alzheimer Forschung Initiative
Alzheimer Selbsthilfe-Gruppen

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Verwaist

Das in Mitteleuropa heimische Schneeglöckchen (Galanthus nivalis) ist ein Vorbote des Frühlings

Das in Mitteleuropa heimische Schneeglöckchen (Galanthus nivalis) ist ein Vorbote des Frühlings

Verwaist
der Garten der Eltern –
wie der Sohn nun

Orphaned
the parents’ garden –
like the son now

Kranō | Kō

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SCHLAFLOS: Ukrainische Kriegsillustrationen · Ausstellung in Tübingen

Anton Abo ist Grafikdesigner, Illustrator und Lehrer. Er lebt in Kyjiv. SCHLAFLOS: Ukrainische Kriegsillustrationen

© Anton Abo ist Grafikdesigner, Illustrator und Lehrer. Er lebt und arbeitet in Kyjiv.

SCHLAFLOS: Ukrainische Kriegsillustrationen

Seit dem 24. Februar 2022 überzieht Russland die Ukraine mit einem völkerrechtswidrigen, brutal geführten Angriffskrieg, dem sich die Bewohnerinnen und Bewohner dieses Landes mutig entgegenstellen. Jeden Tag sterben dabei in der Ukraine Frauen, Kinder, Männer, deren einziger Wunsch es ist, in Freiheit zu leben. Diese Menschen leiden unter einem Krieg, den sie nicht wollten und wollen. Ein normales Leben ist praktisch nicht möglich, ständig muss mit russischen Drohnen- oder Raketenangriffen gerechnet werden. Am Tag und in der Nacht. Schlaflosigkeit ist nur eine der schrecklichen Folgen dieses Krieges und sehr zermürbend. Ständig muss die Warn-App aktiv sein, die die Ukrainer*innen vor russichen Angriffen warnt. Man kann sich das hier im friedlichen Tübingen nicht vorstellen.

„Ich kann mich nicht vor dem Gedanken schützen, dass die Kyjiwer Kriegsnächte schwer zu ertragen sind. Mit der Dunkelheit kommt der Krieg näher, geht unter die Haut. (…) Jede Nacht wache ich gegen drei Uhr auf, prüfe mein Telefon auf schreckliche Nachrichten und Neuigkeiten und schlafe wieder ein.“ (Oksana Karpovych, Verfinsterte Orte)

Victoria Krokhina ist Studentin; sie lebt und arbeitet in Poltawa. SCHLAFLOS: Ukrainische Kriegsillustrationen

© Victoria Krokhina ist Studentin; sie lebt und arbeitet in Poltawa.

Noch bis 23. Februar 2024 gibt es im Café Haag in Tübingen eine sehenswerte Ausstellung zum Krieg in der Ukraine zu sehen: SCHLAFLOS: Ukrainische Kriegsillustrationen. Ukrainische Illustrator*innen zeigen in beeindruckenden, bedrückenden, nachdenklich machenden Werken die Folgen des Kriegs für Menschen, Tiere und die Natur in der Ukraine. Die Künstlerinnen und Künstler wollen mit ihren Werkzeugen an den Krieg in unserer Nachbarschaft erinnern und zum Handeln aufrufen.

Die Ausstellung entstand auf Initiative der Heinrich-Böll-Stiftung Büro Kyjiw und wurde unter anderem von Kateryna Mishchenko organisiert, die beim Tübinger Bücherfest 2023 aus ihrem Essayband „Aus dem Nebel des Krieges“ gelesen hat. Die Finissage findet am 23. Februar um 18.30 Uhr im Café Haag statt.

„Die Arbeiten sind im andauernden Krieg entstanden. Mit dem Anspruch, die Zeit zu verlangsamen, beabsichtigen sie, Erinnerungen und Erfahrungen festzuhalten, die riskieren, verloren zu gehen, während die unermüdlich vernichtende Kriegsmaschine die Geschehnisse weiter beschleunigt. In ihrer Intensität sprechen diese Bilder die Betrachter sofort an und bauen Kommunikationswege in die Solidarität. Es sind Bilder gegen den Krieg, die dazu aufrufen, zu erinnern und jetzt zu handeln.“ (Kateryna Mishchenko)

Es ist sehr schade, dass diese bewegenden Kunstwerke nicht in einer größeren Galerie in Tübingen, zum Beispiel in der dafür prädestinierten Kulturhalle, gezeigt werden. Diese Bilder hätten mehr Publikum und einen größeren Rahmen verdient!

NK | CK

Informationen

Yulia Danylevska ist Künsterlin und Illustratorin; sie lebt und arbeitet in Cherson. SCHLAFLOS: Ukrainische Kriegsillustrationen

© Yulia Danylevska ist Künsterlin und Illustratorin; sie lebt und arbeitet in Cherson.

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Vergessen im Nebel

Fast so selten wie ein weißer Elephant, ein weißer Kran im morgendlichen Nebel

Fast so selten wie ein weißer Elephant, ein weißer Kran im morgendlichen Nebel

Vergessen auf Zeit
im sich lichtenden Nebel
die alten Fragen

Ein sehr schönes Haiku von Georges Hartmann, das er uns letzte Woche in den Kommentar reingeschrieben hat – worüber wir uns sehr gefreut haben. Wir sagen herzlich Danke!

Regelmäßige Leserinnen und Leser des Reklamekasper kennen diesen bescheidenen Haiku-Dichter aus dem Westerwald schon. Wir haben ihn vor längerer Zeit ausführlich hier vorgestellt.

Schönes Wochenende!

NK | CK

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Auf dem „Jahrmarkt der Wunder“

„Ein erstbestes Wunder: / Kühe sind Kühe“. Foto:  Norbert Kraas, Ecussols, Burgund.

„Ein erstbestes Wunder: / Kühe sind Kühe“. Foto:  Norbert Kraas, Ecussols, Burgund.

JAHRMARKT DER WUNDER

Ein Alltagswunder:
dass es so viele Alltagswunder gibt.

Ein gewöhnliches Wunder:
das Bellen unsichtbarer Hunde in einer stillen Nacht.

Ein Wunder von vielen:
eine kleine und flüchtige Wolke,
aber sie kann den grossen und harten Mond verschwinden lassen.

Mehrere Wunder in einem:
eine Erle, die sich im Wasser spiegelt,
und dass sie von links nach rechts gewendet ist
und dass sie mit der Krone nach unten wächst
und überhaupt nicht bis auf den Grund reicht,
obwohl das Wasser seicht ist.

Ein Wunder an der Tagesordnung:
Recht schwache und milde Winde,
doch in der Sturmzeit böig.

Ein erstbestes Wunder:
Kühe sind Kühe.

Ein zweites, nicht geringeres:
dieser und kein anderer Garten
in diesem und keinem anderen Obstkern.

Ein Wunder ohne schwarzen Frack und Zylinder:
ausschwärmende weisse Tauben.

Ein Wunder, denn was sonst:
die Sonne ging heute um drei Uhr vierzehn auf
und sie wird untergehen null Uhr eins.

Ein Wunder, das nicht so verwundert, wie es sollte:
die Hand hat zwar weniger Finger als sechs,
dafür mehr als vier.

Ein Wunder, so weit man schauen kann:
die allgegenwärtige Welt.

Ein beiläufiges Wunder, beiläufig wie alles:
was undenkbar ist – ist denkbar.

Ein Gedicht von Wisława Szymborska, die große polnische Dichterin, die 1996 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Sie wurde am 2. Juli 1923 in Kórnik, Polen geboren und starb am 1. Februar 2012 in Krakau. Für Wisława Szymborska, die auf Deutsch bei Suhrkamp verlegt wird, konnte alles in Gedichten verarbeitet werden. Alles war willkommen auf dem „Jahrmarkt der Wunder“. Denn über alles lässt sich staunen und schreiben, aber bitte ohne künstliches Pathos. Sie sagte selbst in ihrer Rede zum Literaturnobelpreis:

„In der Sprache der Poesie ist nichts gewöhnlich und nichts normal. Nicht ein einziger Stein und nicht eine einzige Wolke darüber. Nicht ein einziger Tag und nicht eine einzige Nacht. Und vor allem kein einziges Leben.“

Willkommen auf dem Jahrmarkt der Wunder!

NK | CK

Buchinformation

Wisława Szymborska
Hundert Freuden. Gedichte
Suhrkamp Taschenbuch, 2023, 18. Auflage
ISBN: 978-3-518-39089-4

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Anpassen, auswandern, aussterben: Klimawandel trifft alle

Auch viele Stare kehren früher wieder aus ihren Winterquartieren zu uns zurück

Auch viele Stare kommen mittlerweile früher aus ihren Winterquartieren zu uns zurück

„Von schrumpfenden Tintenfischen und windfesten Eidechsen“

„In Sachen Klimawandel ist die Kluft zwischen unserem Wissen und unserer Bereitschaft und Fähigkeit zu handeln eklatant“

Das geht nicht nur uns Normalbürgern so, die wir uns gerne mal fragen, ob es überhaupt was bringt, wenn wir als einzelne Verbraucher weniger Fleisch essen oder das Auto öfter stehen lassen? Auch Wissenschaftler wie der amerikanische Naturschutzbiologe und Wissenschaftsautor Thor Hanson, kennen die Widersprüchlichkeit des eigenen Handeln in Bezug auf den Klimaschutz.

Hanson bekennt dies freimütig gleich zu Beginn seines Buches „Von schrumpfenden Tintenfischen und windfesten Eidechsen“. Darin zeigt uns der Biologe, dass die Auswirkungen des Klimawandels buchstäblich überall mess- und sichtbar sind. Der Klimawandel hat längst Einfluss auf das Leben unzähliger Tiere und Pflanzen genommen und tut dies weiter, mit großer Geschwindigkeit und teils dramatischen Folgen. Höchste Zeit also, dass auch wir unser Verhalten anpassen.

“Migrate, adapt or die“ sind die drei Optionen, die Pflanzen und Tiere, ob im Wasser oder an Land, haben, wenn es darum geht, sich den Folgen des Klimawandels zu stellen. Aus allen drei Reaktionsmöglichkeiten – Migration, Adaption, Aussterben – präsentiert uns der Autor beeindruckende Beispiele, die er entweder selbst beobachtet hat, oder die ihm Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den verschiedenen Bereichen schildern.

„Wir erleben gerade die größte Artenwanderung seit der letzten Eiszeit.“

Sagt zum Beispiel Gretta Pecl, eine australische Wissenschaftlerin, die Hanson vom Lebenszyklus und den Veränderungen von Tintenfischen, Oktopussen und Sepien berichtet. Bereits dreißigtausend klimabedingte Verschiebungen von Verbreitungsgebieten sind erforscht. Das ist aber, so die Australierin nur die Spitze des Eisbergs. Pecl und andere Wissenschaftler gehen davon aus, dass nach vorsichtiger Schätzung bereits ein Viertel allen Lebens auf der Erde auf dem Weg der Migration ist. Das kann nicht ohne Folgen bleiben.

„Vom Ackerbau über die Forstwirtschaft bis zur Fischerei, überall werden durch den Wegfall einheimischer oder das Hinzukommen neuer Arten alte Traditionen über den Haufen geworfen, und die Menschen wüssten gerne wie es weitergeht.“

Bären und ihre Liebe zu Beeren

Als ein Beispiel für die Anpassung des Verhaltens einer Art führt Hanson das Fressverhalten von Grizzlybären auf der Kodiakinsel in Alaska auf. Diese Braunbären sind bekanntermaßen Allesfresser, und sie lieben Lachs, von dem sie häufig nur die nahrhaften Bauchteile fressen, während sie den Rest zur Weiterverwertung durch andere Tiere und Pflanzen liegen lassen.

Ein schlagartig verändertes Fressverhalten stellte die Forscher jedoch eines Tages vor ein Rätsel. Die Bären ließen die Lachse links liegen und verschwanden bergaufwärts im Wald. Warum? Die veränderten klimatischen Bedingungen hatten die Holunderbeeren früher zum Reifen gebracht, und Holunderbeeren sind, so die Forscher, den Bären noch lieber als frische Lachse, auch weil diese Beeren exakt die richtige Menge an Proteinen liefern, die die Bären brauchen um optimal Fett für den Winter anzusetzen. Forscher sprechen bei diesem Verhalten von Plastizität, Anpassung von Organismen an neue Umweltgegebenheiten. Diese Anpassung wiederum bringt eine ganze Kaskade von Konsequenzen für das restliche Ökosystem auf den Kodikas mit sich, denn die sonst üblichen Reste der Lachse fehlen den anderen tierischen und pflanzlichen Verwertern.

Laubbläser in der Forschung

Wie schnell sich veränderte Klimabedingungen auf die körperlichen Eigenschaften von Lebewesen auswirken können, schildert der begeisternde Autor am Beispiel von Anolis sriptus. Das ist eine Eidechsenart, die auf den Turks- und Caicoinseln in der Karibik vorkommt, und mit der hat sich der Forscher Colin Donihue im Jahr 2017 beschäftigt, und zwar kurz nachdem dort zwei gewaltige Hurrikane gewütet hatten. Donihue wollte herausfinden, wie die kleinen Eidechsen die Stürme überlebt hatten, die mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 280 km/h über die Inseln gefegt waren.

Was der Forscher rausfand, war außergewöhnlich: Die Eidechsen, die überlebt hatten, besaßen größere Haftpolster an den Zehen und hatten längere Vorder- aber kürzere Hinterbeine. Aber warum konnten gerade diese Eidechsen die gewaltigen Stürme überleben? Um diese Frage zu klären, musste ein Laubbläser in die Karibik geschafft werden. Damit simulierten die Forscher für die kleinen Eidechsen einen Wirbelsturm. Und siehe da: Eidechsen mit größeren Haftpolstern und längeren Vorderbeinen konnten sich deutlich länger als ihre Artgenossen an einer Stange im künstlichen Sturm halten.

In nachfolgenden Feldforschungen stellte das Team fest, dass in Regionen mit vielen Hurrikanen signifikant mehr Eidechsen mit veränderten körperlichen Merkmalen vorkommen. Extremwetter, verursacht durch den Klimawandel, so die Forscher, wirkt sich in diesem Fall schnell und unmittelbar auf die natürliche Adaption und Selektion aus. Evolution im Zeitraffer gewissermaßen.

Hier der Film zum Laubbläserexperiment, bei dem keine Tiere verletzt wurden:

Von Eidechsen lernen

„Wir haben gesehen, wie in der Natur die Reaktionen von Einzelorganismen über das Schicksal ganzer Populationen, Arten und Ökösysteme entscheiden können. Das trifft auch auf die menschliche Gesellschaft zu.“

Vor allem der letzte Satz sollte uns hellhörig machen. Kommt darin doch zum Ausdruck, dass auch menschliche Migrationsbewegungen aufgrund von Dürren, Flutkatastrophen oder auch Kriegen erwartbar sind, schließlich sind wir auch nur eine Art unter vielen. Schon jetzt prophezeien Wissenschaftler bewaffnete Auseinandersetzungen um die Ressource Trinkwasser.

Trotz der interessanten, teils kuriosen Beispiele von Adaptionen in der Natur an den Klimawandel ist es Hanson ernst, wenn er uns auffordert, von den Tieren und den Pflanzen zu lernen, wenn es darum geht, mit dem Klimawandel umzugehen. Zum Beispiel, in dem wir unsere eigene Lebensweise anpassen, um dem Klima möglichst wenig zu schaden.

„Wenn Eidechsen in nur einer Generation stärkere Haftpolster an ihren Füßen entwickeln können, dann sollten wir uns doch auch durchringen können, auf unnötige Flugreisen zu verzichten oder das Licht auszuschalten, wenn wir einen Raum verlassen.“

Thor Hanson: Von schrumpfenden Tintenfischen und windfesten Eidechsen. Faszinierende Antworten der Natur auf die KlimakriseDoch Hanson ist kein simpler Mahner mit moralischem Zeigefinger, der Mann ist ein begeisterter, neugieriger Wissenschaftler, der auf unsere menschliche Vernunft und unseren einzigartigen Verstand setzt. Beides zusammen, so seine Hoffnung, sollte es uns ermöglichen, dass wir als Weltgemeinschaft, aber auch als Individuen unsere Lebensweise so adaptieren, dass es uns gelingt, die weitere Erderwärmung abzubremsen und irgendwann aufzuhalten.

„Es wird eine nervenaufreibende und faszinierende Reise – für uns und alle anderen Spezies auf der Welt. Ich hoffe sehr, dass wir es schaffen.“

Fazit: Ein lesenswertes, anregendes Buch eines Wissenschaftlers, der über die Gabe verfügt, kurzweilig schreiben können.

NK | CK

Buchinformation

Thor Hanson
Von schrumpfenden Tintenfischen und windfesten Eidechsen. Faszinierende Antworten der Natur auf die Klimakrise
Aus dem Englischen von Andrea Kunstmann
Kösel-Verlag, München, 2022
ISBN: 978-3-466-37289-8

Homepage von Thor Hanson

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Lesen und schreiben: Budbill, Buson, Haiku

Selten sind die Blätter so spät gefallen wie in diesem Jahr 2022

Selten sind die Blätter so spät gefallen wie letztes Jahr

Vor ein paar Monaten hat mir der amerikanische Dichter Jack Ridl, einen anderen US-amerikanischen Lyriker empfohlen: David Budbill. Ich hatte vorher noch nie eine Zeile von Budbill gelesen und auch den Namen noch nie gehört. Das ist nicht weiter verwunderlich, gibt es doch in den USA so viele interessante Dichterinnen und Dichter, die es nie in den deutschen Literaturmarkt schaffen, und Lyrik, wir wissen es alle, hat es sowieso schwer.

Dichter einfacher Leute

Nun, ich habe Budbill gegoogelt und bin auf der Homepage dieses leider schon verstorbenen Dichters auf ein Buch gestoßen, das meine Neugier geweckt hat. „After the Haiku of Yosa Buson“ heißt der schmale, fadengeheftete Band mit gerade mal 86 Seiten. Davon gleich.

Zunächst ein paar Worte zu David Budbill, der am 13. Juni 1940 in Cleveland, Ohio als Kind einfacher Arbeiter zur Welt kam und am 25. September 2016 in Montpelier, Vermont starb. Budbill lebte mehr als 40 Jahre mit seiner Frau, der Künstlerin Lois Eby in einem abgelegenen Dorf in den Bergen Vermonts, bewirtschaftete ein kleines Stück Land, hackte Holz und schrieb: Gedichte, Prosa, Essays, Bücher für junge Leser und Libretti. Trotz seines zurückgezogenen Lebens hat Budbill etliche Auszeichnungen bekommen und sogar eine Ehrendoktorwürde, obwohl ihm die akademische Welt stets fremd war. Budbills Thema war das Leben der einfachen, rauhen Leute in seiner unmittelbaren Nachbarschaft in den Bergen. Die meisten seiner Lyrikbände sind bei Copper Canyon Press erschienen.

Im Nachruf der New York Times wird Budbill so zitiert:

„Ich interessiere mich für die übersehenen Menschen, die Unterdrückten, die Bedrängten und die Vergessenen. Ich möchte Kunst machen, die das einfache Volk verstehen, nutzen, sinnvoll finden und genießen kann.“ (NYT, 30.9.2016)

Wie David Budbill zum Haiku kam

Nun zu Budbill und Buson, dem großen japanischen Haiku-Dichter und Künstler, der von 1716 bis 1784 lebte und leider immer noch ein wenig im Schatten von Bashō steht. Das meint auch der Haiku-Dichter, Essayist und Literaturkritiker Masaoko Shiki (1867 – 1902), der in seinem Buch über Buson diesen sogar über Bashō stellt.

David Budbill bekommt jedenfall eines Tages von einem guten Freund einen Band mit Haiku von Yosa Buson. Die Haiku von Buson, meisterhaft ins Englische übersetzt von United States Poet Laureate W. S. Merwin und Takako Lento (Copper Canyon Press, 2013), begeistern Budbill derartig, dass er beschließt ein Jahr lang auf den Spuren von Buson zu dichten. Dabei hat er Buson nicht einfach imitiert, sondern als konkrete Inspiration für seine eigenen dreizeiligen Kurzgedichte (Budbill nennt sie explizit nicht Haiku) genommen. Er schreibt im Vorwort zu „After the Haiku of Yosa Buson“:

„Meine Gedichte sind Anspielungen auf Busons Gedichte. Sie sind keine Haiku. Zu meiner großen Überraschung stellte ich fest, dass ich über Dinge schrieb, über die ich noch nie zuvor geschrieben hatte, die aber hier und da vorkommen – Dorschfischer, Kuckuck, Laubfrösche, das Dorf Wolcott, Hacken im Garten usw.“

 

Buson und Budbill im Dialog über die Jahrhunderte

Buson und Budbill im Dialog über die Jahrhunderte

Ich habe mir zu Budbills Band auch die gesammelten, ins Englische übersetzten Haiku von Buson besorgt. Budbill stellt nämlich seinen Haiku immer die Nummer des jeweiligen Haiku von Buson voran. Es macht wirklich Freude und ist sehr interessant, zu sehen, wie sich ein anerkannter Dichter von einem japanischen Klassiker inspirieren lässt. Und: es hat mich selbst dazu gebracht, mich an eigenen Haiku „nach Budbill, nach Buson“ zu versuchen. Hier ein Beispiel, zu dem auch der Dichter Jack Ridl seinen Beitrag geleistet hat:

1.

Buson #767

The first snow falls
then it melts
into dew on the grass

hatsu-yuki ya
kiyureba zo mata
kusa no tsuyu

2.

Snowing barely

Snowing barely then it melts
It’s only the beginning of winter
There’s more to come

David Budbill after Buson #767

3.

The first snow
covers the last leaves
before it melts

Norbert Kraas, after Budbill, after Buson

4.

All snow has melted.
The leftover leaves lie brown.
The moment needs this coffee.

Jack Ridl, after Budbill, after Buson

David Budbill hat sein Buch aufgebaut wie ein klassisches Haiku-Buch: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Dort, wo er direkt Buson zitiert, verwendet er kursive Schrift. Budbills Dreizeiler sind reizvoll und entsprechen durchaus der klassischen Haiku-Tradition, wobei immer wieder Zitate von anderen japanischen oder chinesischen Dichtern 1:1 oder als Anspielungen vorkommen.

Old Age

On the night we watch the old year out
we treat our old age
with reverence

– David Budbill, after Buson #863

On the night we watch the old year out
age is treated
with reverence

– Yosa Buson

Wer Freude an kurzen Gedichten hat und vielleicht Inspiration für sein eigenes Schreiben sucht, dem seien diese beiden Bücher empfohlen. Beide Bücher sind leider nur in Englisch verfügbar, aber das ist kein allzu großes Hindernis, da das Englisch gut verständlich ist. Sowohl Budbill als auch Buson schrieben für normale Leute, „common people“ wie Budbill sagte. Für mich waren sowohl David Budbill als auch Yosa Buson eine echte Entdeckung!

Graue Schönheit in eisiger Umgebung: Graureiher im Tübinger Norden

Graue Schönheit in eisiger Umgebung: Graureiher am Tübinger Schönbuchrand

In seinem Haiku #811 schreibt Buson

Here ist perfect beauty
mandarin ducks
under winter trees

Meine Variante:

Here is perfect beauty
a grey heron
on the barren field

Norbert Kraas nach Buson

Haiku sind übrigens, aber das wisst ihr ja alle längst, eine wunderbare Möglichkeit, Abstand zur Hektik des Alltags zu gewinnen.

NK | CK

Buchinformation

David Budbill
After the Haiku of Yosa Buson
FootHills Publishing, 2015
ISBN: 978-0-921053-62-2

Yosa Buson
The Collected Haiku of Yosa Buson
translated by W.S. Merwin & Takako Lento
Copper Canyon Press, 2013
ISBN: 978-1-55659-426-7

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Blume auf dem Neckar

Nicht nur Hölderlin hat die Schwäne besungen

Nicht nur Hölderlin hat die Schwäne besungen

Auf dem Wasser
eine große Blume:
ein Schwan.

Ein Haiku von Kusatao Nakamura, der am 27. Juli 1901 in Xiamen (China) zur Welt kam und am 5. August 1983 in Tōkyō starb.

Schönes Wochenende!

NK | CK

Buchinformation

Weisse Tautropfen: 300 Haiku zu Regen, Nebel und Meer …
ausgewählt und übertragen von Ute Guzzoni und Michiko Yoneda
Taschenbuch, Parerga Verlag, Berlin, 2006
ISBN: 3937262423
leider nur noch antiquarisch erhältlich

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Neues Jahr, alte Geister

So viele Feuerwerkskörper wie nie wurden 2023 nach Baden-Württemberg importiert

So viele Feuerwerkskörper wie nie wurden 2023 nach Baden-Württemberg importiert

Neujahrstag
trotz der ganzen Knallerei
sind alle Geister noch da

Haiku zum neuen Jahr

Leitkultur aus China

Auch wenn’s den Leitkultur-Predigern nicht gefallen wird: weder hat Silvester einen Bezug zur biblischen Tradition, noch stammt der Brauch, Raketen und Böller in der Silvesternacht krachen zu lassen, aus Deutschland. Die Chinesen, die so viele Dinge erfunden haben, sollen vor mehr als 1000 Jahren erstmals eine Mischung aus Salpeter, Holzkohle und Schwefel zur Explosion gebracht haben. 1379 war dann in Italien das erste Feuerwerk zu bewundern, bevor es 1506 erstmals in Deutschland gekracht hat. Meist war es der Adel, der es sich leisten konnte, mit einem Feuerwerk Hochzeiten und Geburten krachend zu feiern.

Und weil die Menschen schon im Mittelalter mit Töpfen, Rasseln, Trommeln und Trompeten versucht haben, die bösen Geister zu vertreiben, hat man sich wohl gedacht, dass laute Böller und Raketen an Silvester zur Geistervertreibung auch ganz gut geeignet sind. Heute ist dieser heidnische Brauch aus dem christlichen Abendland, ja selbst aus dem Sauerland nicht mehr wegzudenken. Und ein Riesengeschäft ist es obendrein – für die Chinesen.

Wir wünschen Ihnen / euch alles Gute für 2024!

NK | CK

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