Europa war, so die Griechen, eine phönizische Königstochter, die Zeus in Stiergestalt nach Kreta entführte.
450 Millionen Menschen, 27 Staaten
Vom 6. bis 9. Juni dürfen 350 Millionen Bürgerinnen und Bürger Europas das zehnte Europaparlament wählen, in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl. Da in Deutschland traditionell an einem Sonntag gewählt wird, findet die Europawahl hierzulande am Sonntag, den 9. Juni statt. Das ist nicht mehr lange hin.
Höchste Zeit, noch zwei Bücher zum Thema Europa zu empfehlen. Warum? Weil es aktuell auch in Deutschland jede Menge rückwärts gewandter Nationalisten, Faschisten oder Ignoranten gibt, die dieses Europa am liebsten in Schutt und Asche legen würden. Für diese Europagegner ist „Brüssel“ für so ziemlich alles verantwortlich, was in ihrem eigenen Leben schief läuft.
Robert Menasse: „Die Welt von Morgen“
Keine Frage, in Europa liegt manches im Argen, und leider hat sich Europa in einigen Bereichen ziemlich von der ursprünglichen Idee entfernt. Das meint der österreichische Schriftsteller und bekennende Europäer Robert Menasse. „Die Welt von Morgen. Ein souveränes, demokratisches Europa – und seine Feinde“ heißt seine Streitschrift, in der er mit Humor und Sachverstand benennt, was schlecht läuft in Europa und gleichzeitig leidenschaftlich dafür plädiert, dass wir endlich an einem postnationalen, gerechten Europa weiterbauen. Denn:
„Europäische Nationen sind bewusst (!) und planvoll (!!) in einen nachnationalen (!!!) Prozess eingetreten. Und das nicht, weil ein paar Politiker zufällig mit einem Schnapshändler zusammengesessen hatten und gerade so bei Laune waren.“
Für Menasse ist klar, das die Gründergeneration Europas mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 zur Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) die Lehren aus der eigenen Lebenserfahrung gezogen hatte: Konflikte, Kriege, Katastrophen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zum 2. Weltkrieg.
„Der Nationalismus hatte zu den größten Menschheitsverbrechen geführt und Europa verwüstet.“
Dieser Nationalismus, der heute in jeder Sitzung des EU-Rats der Regierungschefinnen und -chefs der 27 Mitgliedsstaaten mal mehr mal weniger stark zum Ausdruck kommt, ist für Menasse eines der zentralen Grundübel. In 38 unterschiedlich langen Kapiteln setzt er sich mit diesem gefährlichen Nationalismus auseinander und zeigt schlüssig auf, dass autokratische Nationalisten wie der Ungar Orbàn in einer eng verzahnten Welt niemals halten könnten, was sie ihren Bürgern zuhause versprechen: Sicherheit und Wohlstand in einem ethnisch reinen Territorium. Das einzige, was diese Politiker können, ist, virtuos mit den Ängsten und der Wut der Menschen spielen und diese für ihren eigenen Machterhalt instrumentalisieren. Und ganz nebenbei nimmt man natürlich aus Brüssel an Geldern mit, was man kriegen kann.
Kein einziges der großen anstehenden Probleme (Klimawandel, Verteidigung, Migration) so der Autor, könne national gelöst werden werden. Wer das verspricht, so Menasse kürzlich in einem Interview im DLF sei entwender saudumm oder ein böser Zyniker.
Die Zukunft ist nachnational
Für den Österreicher ist klar, dass die Zukunft Europas nur ein „supranationales“ oder „nachnationales“ Projekt sein kann. Warum das so ist, und was sich am jetzigen Europa ändern muss, das beleuchtet er auf knapp 200 Seiten. Dabei nimmt er immer wieder Bezug auf historische Entwicklungen und spart nicht mit Kritik. Er beklagt etwa, dass die EU-Kommission faktisch vom EU-Rat (die meist national argumentierenden 27 Staats- und Regierungschefs) entmachtet und degradiert wurde. Eine Tatsache, die im übrigen nicht von den EU-Verträgen gedeckt ist.
Was die Zukunft Europas angeht, appelliert Menasse an unsere Phantasie und die Fähigkeit, aus der Geschichte zu lernen. Regionen und deren Vielfalt stehen für Menasse grundsätzlich vor Nationen.
„Dass supranationale oder nachnationale Staatlichkeit funktionieren kann, bewies ja der kulturelle und geistige Reichtum, den das historische Mitteleuropa hervorgebracht hat, und das beweist heute in Ansätzen wieder die Europäische Union.“
Diese kluge, lesenswerte Buch kommt – hoffentlich noch – rechtzeitig, bevor die Nationalisten und Populisten dieses Europa endgültig zerstört haben. Der Autor selbst zeigt sich trotz aller Ernüchterung und mitunter Verzweiflung angesichts der Misstände und Probleme Europas optimistisch. Wenn es denn gelänge, endlich eine Demokratie zu schaffen, die mehr ist „als Wählengehen auf der Basis national definierten Stimmrechts“. Menasse beruft sich auf Hans Kelsen, einen der bedeutendsten Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts, wenn er am Ende seines Buches fordert:
„Wir müssen es zulassen, dass die Menschen in Europa zu einem demos werden, in einer gemeinsamen europäischen Demokratie, in einem gemeinsamen Rechtszustand auf der Basis der Menschenrechte, gleicher Rahmenbedingungen und Chancen für alle, die in Europa leben und ihr Glück zu machen versuchen. Darum geht es: Einheit in Vielfalt. Es wäre zu Jedermanns Nutzen.“
Klingt alles utopisch? Mag sein, aber hätten die Unterzeichner der Römischen Verträge 1957 nicht die Vision eines geeinten Europas gehabt, wären sie gar nicht erst nach Rom gefahren – und wir würden am 9. Juni wahrscheinlich kein EU-Parlament wählen dürfen.
Milan Kundera: „Der entführte Westen“
Robert Menasse hebt in seinem Buch ausdrücklich das historische Mitteleuropa und dessen kulturellen und geistigen Reichtum hervor. Neben anderen Autoren, die dazu Kluges geschrieben haben, erwähnt er explizit Milan Kunderas Essay „Der entführte Westen“, den der gebürtige Tschechoslowake 1983 im französischen Exil verfasst hat.
Der Kampa-Verlag hat diesen Essay jetzt als Buch herausgebracht und gleich noch einen zweiten Aufsatz von Kundera aus dem Jahr 1967 dazu gepackt: „Die Literatur und die kleinen Nationen“.
Liest man heute „Der entführte Westen“ springt einen die Aktualität dieser 40 Seiten förmlich an. Kundera beschreibt 1983 (!), wie der Westen die Länder Mitteleuropas (v.a. Polen, Ungarn, Tschechoslowakei) sehenden Auges der Einflusssphäre der Sowjetunion überlassen hat. Politisch und kulturell wurde diese Region für Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg „Fly-over-Country“. Man konzentrierte sich auf Moskau, fühlte sich Russland und der undefiniertbaren russischen Seele verbunden (für Kundera eine „Lächerlichkeit“) und freute sich bis zum Februar 2022 über billiges Gas und Öl.
Westliche Gleichgültigkeit
Kundera, der bis 1975 in der Tschechoslowakei lebte und dann nach Frankreich emigrierte, kritisiert die gleichgültige Ignoranz des Westens scharf und beschreibt mit klaren Worten, was mit der Zerstörung der mitteleuropäischen Kultur durch die Sowjetunion verloren ging – für die Menschen Mitteleuropas, aber auch für den Westen.
Der Volksaufstand und das Massaker 1956 in Ungarn, der Prager Frühling und die sowjetische Besetzung der Tschechoslowakei 1968, die polnischen Aufstände 1956, 1968 und 1970 und die Streiks in den 1980ern waren Tragödien für die jeweilige Bevölkerung. Leider wollte man im Westen nicht sehen, dass die Menschen in diesen Ländern in der Mehrheit nicht russifiziert werden wollten. Denn sie fühlten sich Europa zugehörig und nicht der Sowjetunion. So wie sich die Ukrainerinnen und Ukrainer heute dem Westen zugehörig fühlen und auf keinen Fall wieder Teil der russischen Einflusssphäre sein wollen.
„Deshalb empfindet jenes Europa, das ich Mitteleuropa nenne, die Veränderung seines Schicksals nach 1945 nicht nur als politische Katastrophe, sondern als Infragestellung seiner Zivilisation. Der tiefere Sinn seines Widerstands ist die Verteidigung seiner Identität; oder anders ausgedrückt: Es ist die Verteidigung seiner Zugehörigkeit zum Westen.“
Dies schreibt Milan Kundera 1983 im Pariser Exil. Es fällt schwer, bei diesen Worten nicht an die Ukraine zu denken, die in seinem Essay auch erwähnt wird:
„Die Ukraine, eine der großen europäischen Nationen (…) ist im Begriff, langsam zu verschwinden. Und dieser ungeheuerliche, nahezu unglaubliche Vorgang vollzieht sich, ohne das die Welt es bemerkt.“
Liest man Menasses Buch und das von Kundera zusammen, wird deutlich, dass wir die kulturelle und ethnische Vielfalt Europas in seinen vielen Regionen als Bereicherung und Stärke sehen sollten. Und klar wird auch, dass die Ukraine als Land Mitteleuropas den Kampf um Unabhängigkeit und Freiheit nicht verlieren darf.
NK | CK
Buchinformation
Robert Menasse
Die Welt von Morgen. Ein souveränes, demokratisches Europa – und seine Feinde.
Suhrkamp Verlag, 2024
ISBN: 978 3 518 43165 8
Milan Kundera
Der entführte Wesen. Die Tragödie Mitteleuropas
Kampa Verlag, 2023
ISBN 978 3 311 10120 8
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