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Freitagsfoto: Nur eine Rose als Stütze

Seit mehr als 2000 Jahren wird die Rose als Zierpflanze gezüchtet und in Gedichten besungen

Seit mehr als 2000 Jahren wird die Rose als Zierpflanze gezüchtet und in Gedichten besungen

Nur eine Rose als Stütze

Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft
unter den Akrobaten und Vögeln:
mein Bett auf dem Trapez des Gefühls
wie ein Nest im Wind
auf der äußersten Spitze des Zweigs.

Ich kaufe mir eine Decke aus der zartesten Wolle
der sanftgescheitelten Schafe die
im Mondlicht
wie schimmernde Wolken
über die feste Erde ziehen.

Ich schließe die Augen und hülle mich ein
in das Vlies der verläßlichen Tiere.
Ich will den Sand unter den kleinen Hufen spüren
und das Klicken des Riegels hören,
der die Stalltür am Abend schließt.

Aber ich liege in Vogelfedern, hoch ins Leere gewiegt.
Mir schwindelt. Ich schlafe nicht ein.
Meine Hand
greift nach einem Halt und findet
nur eine Rose als Stütze.

Hilde Domin, 1959

Dies ist eines der bekanntesten Gedichte von Hilde Domin, das 1959 erstmals in dem gleichnamigen Band „Nur eine Rose als Stütze“ im S. Fischer Verlag erschien. Walter Jens sprach in seiner Kritik in der ZEIT damals von der „Vollkommenheit des Einfachen“ und nannte den Band sein Buch des Monats.

In seinem Nachruf auf die große Dichterin Domin, die am 22. Februar 2006 im Alter von 97 Jahren starb, schrieb Harald Hartung in der FAZ

„Vor allem aber wird uns ihre noble wie zarte Gestalt in Erinnerung bleiben. Hilde Domin war eine große Mutmacherin. In einem ihrer späten Gedichte beschwört sie sich und uns zugleich, nicht müde zu werden.“

Nicht müde werden

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten

Hilde Domin, 1992

Viellleicht hilft uns dieser poetische Ratschlag ja über diesen Winter: nicht müde werden, sondern staunen, uns erfreuen an den schönen Dingen, die uns umgeben. Und vielleicht, wenn wir es zulassen, kann dann ja in diesen verunsichernden Zeiten die Schönheit einer dornenbewehrten Rose zur Stütze werden.

Passt auf euch auf!

NK | CK

Buchinformation

Hilde Domin
Sämtliche Gedichte
Hg. Nikola Herweg und Melanie Reinhold
Nachwort von Ruth Klüger
S. Fischer Verlage 2015
ISBN: 978-3-596-52068-8

P.S.
Gestern habe ich in der Süddeutschen gelesen, wie man dieses Gefühl der Unsicherheit und Desorientierung nennt, das viele von uns gerade immer wieder plagt: Zozobra. Das ist Spanisch für Not, Besorgnis, ein bewegtes Meer, das einem Angst einjagt. Den Artikel von Mareen Linnartz kann man hier nachlesen.

 

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2 Kommentare

  1. Liebe Corinna, lieber Norbert.

    Aus-gesprochen (und -geschrieben) schön, die ausgewählte Poesie, der ausgewählte Blick (im Foto festgehalten), dazu Eure gewählten Worte und was zwischen den Zeilen schwingt.
    Berührend, mal wieder… Danke.

    Der poetische Ratschlag spricht mir aus der Seele: „…staunen, uns erfreuen an den schönen Dingen, die uns umgeben.“ Ich erlaube mir, eigene Zeilen mitschwingen zu lassen.

    ~~~~
    “Do what you have to
    to be happy in this life.
    There is so much beauty.”

    There is …
    … so …
    … much …
    … beauty.

    It’s just there – without purpose.

    It’s up to us
    to experience
    to witness
    to get our share
    to fill our lifetreasure.

    It’s up to you:
    Open your heart
    experience with all senses.

    Live, enjoy, be grateful – without purpose.
    There is so much beauty.

    08’17 KV (inspired by “The bridges of Madison County”)
    ~~~~

    Verlieren wir weder Zuversicht noch Fröhlichkeit und auf keinen Fall den Blick für das Schöne.
    Ich hoffe, es geht Euch gut, so gut es eben in diesen seltsam-besonderen Zeiten gehen kann.*
    Herzliche Grüße!
    Katrin

    * Ich empfinde es so, dass das privatpersönliche Wohlergehen in krassem Gegensatz zu den gesellschaftlichen, politischen, globalen Entwicklungen und den resultierenden Krisen steht. Auf eine entsprechende Frage antworte ich wahrheitlich „es geht uns gut“, aber es fühlt sich nicht richtig oder rundum stimmig an.

  2. Georges Hartmann 7. November 2020 um 13:36

    … Nur eine Rose als Stütze … lese ich in dem einen Gedicht und … open your heart … im anderen.

    Wenige Worte und plötzlich die Erinnerung an eine weit zurückliegende Zeit und den Wortlaut jenes Geheimnisses, das ein Fuchs dem „kleinen Prinzen“ anvertraute:

    „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, macht deine Rose so wichtig. Die Menschen haben diese Wahrheit vergessen, du aber darfst sie nicht vergessen, weil du für das verantwortlich bist, was du dir vertraut gemacht hast.“

    … be grateful without purpose … lautet die Empfehlung im anderen Gedicht

    Nachdenklich halte ich inne, reflektiere alle Aussagen, starre minutenlang beschämt vor mich hin und erkenne mit klopfendem Herzen, wie unendlich schwierig es ist einfache Regeln oder Empfehlungen auch tatsächlich zu beherzigen.

    Ein Beitrag, der mir heute nicht so schnell aus dem Kopf verschwinden wird !!

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