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Jungenentzündung an Weihnachten

Eine Jungenentzündung an Weihnachten muss energisch behandelt werden. Foto: Norbert Kraas

Eine Jungenentzündung an Weihnachten muss energisch behandelt werden. Foto: Norbert Kraas

Es gibt wohl kaum ein Fest, bei dem Wunsch und Wirklichkeit so auseinanderfallen wie bei Weihnachten. Weihnachten ist, man darf es sagen, für viele ein ziemlich anstrengendes Fest geworden. Und jeder von uns kann wohl von einem Weihnachten erzählen, bei dem Erwartungen enttäuscht und Hoffnungen sich nicht erfüllt haben.

Genau darum geht es auch in der kleinen Geschichte, die meine Frau geschrieben hat, und die ich mit ihrer Erlaubnis hier veröffentlichen darf:

Jungenentzündung an Weihnachten

Meine Schwestern waren acht und drei und ich selbst fünf Jahre alt, als Mama im Herbst 1973 krank wurde. Wochenlang ging sie jeden Tag zum Inhalieren zu Doktor Strom und kam dann wieder müde nach Hause. Anschließend saß sie meist eine Weile vor einer warmen, roten Lampe, die ihr Gesicht beleuchtete und ihren Haaren einen goldenen Schimmer verlieh. Ich fand sie so sehr schön. Solange Mama aufstand, war unsere Welt in Ordnung.

 

Ich hatte im Kindergarten für das Weihnachtsfest eine der Hauptrollen bekommen: den Verkündigungsengel sollte ich spielen und durfte hierzu ein langes, hellblaues Kleid mit glänzenden, goldenen Sternen anziehen. Goldene Flügel sollte es auch noch geben. Nach mehreren Jahren als einfaches Lichtkind freute ich mich sehr darüber. Die Sache hatte jedoch einen Haken. Der Engel sollte allein eine Strophe aus „Vom Himmel hoch, da komm’ ich her“ singen – und dabei haperte es noch. Geduldig malte mir Mama mit Kreide Zickzacklinien auf unsere grüne Tafel. So sollte ich lernen, wann ich mit der Stimme nach oben und wann nach unten gehen musste.

 

Immer häufiger legte sich Mama nun tagsüber ins Bett. Und irgendwann stand sie nur noch auf, wenn Papa mit uns und dem ganzen Haushalt nicht zurecht kam. Wenn Papa als Lehrer zur Schule nach Reutlingen musste, waren wir versorgt. Ninia, meine ältere Schwester, ging ja schon in die dritte Klasse und Alexandra und ich in den nicht weit entfernten Kindergarten. „Eine Jungenentzündung“, sagten wir Kinder, wenn wir gefragt wurden, was die Mama denn habe.

 

Ich vergewisserte mich in regelmäßigen Abständen bei Mama, ob sie bei meinem Auftritt beim Krippenspiel dabei sei. Bis dahin, meinte sie, gehe es ihr bestimmt besser.

 

Aber es wurde nicht besser. Ein paar Wochen vor Weihnachten kam Mama in die Klinik. Zu Hause hatte nichts mehr seinen Platz und wir waren ständig am Suchen von Dingen. Weil Papa unsere Wäsche durcheinanderbrachte, kam Francine, eine französische Freundin von Mama, für ein paar Tage zu uns, um uns zu helfen. Sie brachte ihre vierjährige Tochter Florence mit, und wir spielten zusammen Puppen, die alle Jungenentzündung mit hohem Fieber hatten. Währenddessen wirbelte Francine im Haus: Sie kochte, wusch und ordnete unsere Wäsche neu. Unsere Höschen und Hemdchen bekamen jetzt alle einen Buchstaben aufs Etikett: A und C und N, jeweils den ersten Buchstaben unserer Vornamen. Außerdem beschriftete sie die Regale unseres Kleiderschranks mit unseren Namen. Die Etiketten mit Francines schöner Handschrift erinnerten unsere ganze Kindheit an diese Zeit.

 

Wir freuten uns auf die Besuche bei Mama in der Klinik. Sie hatte einen kleinen, beleuchteten Weihnachtsbaum in ihrem Zimmer, um den ich sie etwas beneidete. Aber dann kamen wir einmal in Mamas Zimmer und fanden es leer vor – auch Mamas Sachen waren nicht mehr da. Da konnten wir spüren, wie aufgeregt Papa auf einmal war. Wir durften dann Mama nur noch einmal sehen – und das nur aus der Ferne: sie saß in einem komischen Stuhl und winkte uns schwach vom anderen Ende eines Flurs zu. Aus der Jungenentzündung sei eine Tuberkulose geworden, sagte uns Papa. Mama sei verlegt worden zu anderen Frauen mit derselben Krankheit, und wir dürften sie nun leider nicht mehr besuchen, weil die Krankheit sehr ansteckend sei.

 

Sehr traurig war ich darüber, dass Mama meinen Auftritt als Engel nun leider nicht mitansehen konnte. Überhaupt fühlte sich Weihnachten ohne Mama nicht nach Weihnachten an. Papa wusste nicht, wie er den bereits gekauften Weihnachtsbraten machen sollte, und unsere Geschenke brachte er auch durcheinander.

 

Er muss erleichtert gewesen sein, als nach Weihnachten Omi Georgette und Opa Michel aus Frankreich kamen. Wir freuten uns auch darüber, fanden es aber nicht gerecht, dass die beiden Mama besuchen durften, während uns dies nach wie vor verboten blieb. Dann wurde beschlossen, dass Alexandra und ich mit Omi und Opa nach Paris fahren und dort bleiben sollten, bis Mama wieder gesund wäre. Aber das ist eine andere Geschichte.

© Corinna Kern, 2019

Wir wünschen Ihnen erholsame Feiertage und reichlich Zeit und Muße für die Dinge, zu denen Sie Lust haben.

Kommen Sie gut ins neue Jahr, und bleiben Sie uns gewogen!

Norbert Kraas | Corinna Kern

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