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Die Pest in Tübingen zwingt die Universität ins Exil

Zwischen 1480 und 1680 brach die Pest vierzehnmal über Tübingen herein und forderte rund 10 000 Opfer

Zwischen 1480 und 1680 brach die Pest vierzehnmal über Tübingen herein | Foto: www.schoenepostkarten.de

Grade eben habe ich bei einer Recherche für diesen Artikel in die Suchmaske die Begriffe „Corona ist“ eingegeben. Google hat dann blitzschnell meine Suchanfrage ergänzt. Die ersten vier Ergänzungen, die Google vorschlug, waren:

Corona ist ungefährlich
Corona ist vorbei
Corona ist nur eine Grippe
Corona ist nur eine Inszenierung

Es gibt offensichtlich immer noch viele Menschen, die das Virus Sars-COV2 nicht wirklich ernst nehmen. Das ist nicht nur dumm, sondern auch gefährlich.

Corona ist nicht die Pest

Aber so gefährlich Corona ist, man kann die aktuelle Pandemie nicht mit der Pest vergleichen. Man könnte es freilich meinen, sieht man sich die Absatzzahlen für Albert Camus’ berühmten Roman „Die Pest“ an. Rowohlt ließ angesichts der großen Nachfrage die 90. Auflage drucken. Für Camus stand die Pest, die er in der algerischen Stadt Oran ausbrechen lässt, symbolisch für das Böse, den Nationalsozialismus, um es mal sehr verkürzt auszudrücken.

Die Pest übt offenbar eine große Anziehung auf die Menschen aus in diesen Tagen. Orhan Pamuk schreibt in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung vom 30.4.2020, dass man beim Schreiben über die Pest zwangsläufig Parallelen entdecke. Zwei Reaktionen der Menschen fallen Pamuk beim Ausbruch einer Pandemie auf: zum einen das Leugnen der Pandemie, zum anderen das Erfinden und Verbreiten von Gerüchten und haltlosen Behauptungen, etwa über den Ursprung der Seuche.

Yersinia pestis

Der Pesterreger wütete furchtbar unter den Menschen, die diesem unsichtbaren Gegner wehrlos gegenüber standen. Allein im 14. Jahrhundert starben an der Pest ein Drittel aller Menschen in Europa. Ursache der Seuche war das Bakterium „Yersinia pestis“ wie die Tübinger Forscherin Verena Schünemann und die kanadische Paläoanthropologin Kirsten Bos im Jahr 2011 zeigen konnten, das Schwäbische Tagblatt berichtete.

Pestexil hieß der Shutdown im Mittelalter

Übrigens waren auch die Quarantänemaßnahmen, die im Mittelalter gegen die Pest erlassen wurden, von einer ganz anderen Dimension als der aktuelle Corona-Shutdown. Vierzehnmal musste die Universität Tübingen wegen der Pest ins Exil umziehen, wie der in Tübingen lebende Schriftsteller, Essayist und Journalist Kurt Oesterle schreibt. Oesterle hat vor ein paar Tagen einen lesenswerten Text zur Pest in Tübingen im Schwäbischen Tagblatt veröffentlicht, den wir hier in voller Länge mit freundlicher Genehmigung des Autors bringen.

***

Pestzeit in Tübingen

von Kurt Oesterle

Zwischen 1480 und 1680 brach die Pest vierzehnmal über Tübingen herein. Bei sämtlichen Epidemien dürfte die Stadt rund 10 000 Menschen verloren haben. Am schlimmsten grassierte die Seuche vermutlich in den Jahren 1482 und 83, kurz nach der Universitätsgründung. Viele Bauleute hielten sich damals hier auf, dazu kamen Studenten, Händler und fahrendes Volk. Einheimische und Gäste auf engstem Raum – so fand der Pestbazillus schnell Ausbreitung. In wenigen Monaten starben in der 5000-Einwohner-Stadt mehr als 1300 Menschen jeden Alters. „Unter den württembergischen Städten scheint Tübingen am meisten gelitten zu haben“, schrieb später der Historiker Max Eifert. Nur ein einziges Mittel half wirklich gegen die drohende Erkrankung: zeitige Flucht. Das wußten auch die führenden Köpfe der jungen Universität und veranlaßten mehrmals den geschlossenen Abzug der Hochschule. 1594 etwa führte das Pestexil die Universität in die Nachbarstädte Herrenberg und Calw. Zurück blieben in der Regel nur Kranke, Arme und ein paar Lebensmüde.

Die einzige Rettung hieß Flucht

Hatte die Pest die Menschen abgestumpft? Unvermeidlich wie Blitz und Donner erscheint die einst so gefürchtete Seuche in den Annalen des Martin Crusius. Routiniert setzte Deutschlands damals berühmtester Universitätslehrer seinen Bericht über das immer wiederkehrende Ereignis aufs Papier, in lateinischer Sprache, versteht sich. Seine Worte suggerieren kaum Gefahr. Crusius, 68, war das akademische Pestszenarium schon viele Jahre vertraut, als in Tübingen Ende August 1594 der Kanzler und die Professorenschaft berieten, was jetzt zu tun sei. Die Zeichen waren eindeutig. In der Stadt wurden die ersten Toten beklagt. Die Leichen wiesen die typischen Hautverfärbungen auf. Auch Stuttgart meldete den Ausbruch der Seuche. Der Hof, so hieß es, befinde sich bereits auf dem Weg ins Pestexil, und die Alma mater Tubingensis, dieser Augapfel des Landesherrn, solle sich ebenfalls dorthin begeben.

1547 wurde die Alte Aula in Tübingen gebaut. 24 Jahre später musste die Universität wieder vor der Pest flüchten: nach Esslingen

1547 wurde die Alte Aula in Tübingen gebaut. 24 Jahre später musste die Universität wieder vor der Pest flüchten: nach Esslingen | Foto: www.schoenepostkarten.de

Bereits mehr als ein halbes Dutzend mal war die Universität seit ihrem Bestehen dem Schwarzen Tod ausgewichen. 1502 hatte die Hochschule in Nagold ein rettendes Domizil gefunden, 1520 in Rottenburg, 1530 in Blaubeuren und während der Jahre 1571 und 76 in Esslingen. Niemand wußte, wie lange man in der Fremde würde ausharren müssen. Das kürzeste Pestexil soll ein paar Wochen gedauert haben, das längste sechs Jahre. Meist war postwendend der Umzugsbefehl des Herzogs eingetroffen. Nicht zögern, hieß es da, und keinen falschen Stolz an den Tag legen! Alle wußten nur zu gut, wie die europäischen Universitäten von der Großen Pest des Jahres 1348 in eine Todeskrise gestürzt worden waren. Das berühmte Oxford – zwei Drittel seiner Studenten binnen kurzem von der Pest ausgelöscht; in Montpellier waren es gar vier Fünftel gewesen. Rom, Siena und Neapel hatten den Lehrbetrieb für viele Jahre einstellen müssen.

Jeder dritte Europäer ein Opfer der Pest

Von der Pest ist im 14. Jahrhundert jeder dritte Europäer dahingerafft worden – insgesamt 25 Millionen Menschen. Endgültig erlosch sie erst rund vierhundert Jahre später wieder. Ursprünglich eine Krankheit wildlebender Nagetiere, drang diese Seuche mit der Hausratte in menschliche Siedlungen ein, meist übertragen von deren Floh. Aber auch durch „Tröpfchen“, genau wie ein Schnupfen, ließ sie sich weitergeben. Und die engen mittelalterlichen Städte begünstigten die Ausbreitung noch. Infektionen über die Haut führten zur Beulenpest. Ließen dabei die angeschwollenen Lymphknoten sich stechen oder brachen von selbst auf, bestand eine Überlebenschance. Infektionen über den Nasen-Rachen-Raum riefen die Lungenpest hervor, die fast immer und meist sehr schnell tödlich verlief.

1594 beschloß die Tübinger Universität, nach Herrenberg und Calw umzuziehen. Auch dort hatte sie, vierzig Jahre zuvor, schon einmal ihr Notlager errichtet – man kannte sich. Rasch wurden Fuhrleute aus Tübingen und Umgebung herbei beordert, ihre Wagen mit Lehrmitteln, unverzichtbaren Akten und persönlichen Habseligkeiten beladen. „Wunderbar beweglich“ sei die damalige Universität noch gewesen, spottete verständnislos ein nachmaliger Chronist. Die Emigranten hatten sich pünktlich bei den Fuhrwerken einzufinden. Doch allein Professoren genossen das Recht, ihre Familien mitzunehmen. Vom Pestexilort Esslingen schreibt Crusius 1571, die noble Reichsstadt sei den Professorenfrauen weit besser bekommen als das ländliche Tübingen: „Das Frauenzimmer lernte daselbst mehr Feinheit in Sitten und mehr Zierlichkeit in Kleidung.“

Enge Gassen, kleine Kanäle: ideale Bedingungen für die Pest in Tübingen | Foto: www.schoenepostkarten.de

Enge Gassen, kleine Kanäle: ideale Bedingungen für die Pest in Tübingen | Foto: www.schoenepostkarten.de

Und derselbe Crusius schildert ein Vierteljahrhundert später, wie die Universität in geschlossener Formation durchs Ammertal in Richtung Gäu zog. Die Marschordnung scheint ein präzises Abbild der Tübinger Hochschul-Hierarchie gewesen zu sein: vornweg ritten die meist 14- bis 17-jährigen Schüler des Collegium illustre, 160 an der Zahl und allesamt Abkömmlinge des deutschen und europäischen, doch in jedem Fall evangelischen Hochadels. Diese der Universität vorrangige Ritterschule – heute beherbergt sie das Wilhelmsstift -, in der sowohl Fechten und Reiten wie auch die Juristerei und die schönen Künste gelehrt wurden, war erst im Jahr davor eröffnet worden und eines der ehrgeizigsten Projekte der reformierten Landesfürsten.

Auch Johann Friedrich von Württemberg, der spätere Herzog und zu dieser Zeit ein Knabe von zwölf Jahren, ritt frohgelaunt im Zug der Pestflüchtigen mit. Gnade Gott den Tübinger Universitätslenkern, wenn den „Herzogsbuben“ oder einen der anderen hohen Herrn die Krankheit angefallen hätte! Deshalb waren die ritterlichen Kollegiaten stets auch die letzten, die ihr Exil wieder verlassen durften. Sie kehrten erst im Juli 1595 nach Tübingen heim, während der normalsterbliche Teil der Hochschule ihnen bereits um Monate vorausgeeilt war.

Nichts durfte an den kritischen Zustand der Universität erinnern

Führte die Pest bei den Zeitgenossen zu Fatalismus oder moralischer Verrohung? Unter der glatten Oberfläche des Humanistenlateins verbarg sich womöglich das blanke Entsetzen. Sei es in Prosa, sei es in Gedichten: Pestzeugen wie Crusius oder der Rhetoriker Nikodemus Frischlin hielten sich vermutlich an Sprachregelungen. Nichts durfte an den kritischen Zustand der Universität erinnern. Nie und nimmer durfte zugegeben werden, daß man „aus Tübingen vor den Sterbend“ geflohen war, wie ein Calwer Kirchenschreiber, der die Geflohenen ankommen sah, umstandslos vermerkte. Viel lieber besangen die Chronisten auf blumige Art die dahinziehende „grex“, also die „Herde“ aus Magnifizenzen, Baccalaureaten, Studenten und Pedellen. Begeistert zählten sie alle Professoren namentlich auf und gaben ihnen klangvolle Beiwörter wie „der süß Singende“ oder „der sanft Zügelnde“. Sie priesen Gott, den Herzog und ihre Gastgeber. Auch in Frischlins Pestelegie auf den Umzug von 1566 ist das Motiv des prozessionsartigen Zugs der Auswanderer unübersehbar. Ein Bild, das den Eindruck erweckt, Gegenbild zu den mittelalterlichen Kolonnen von über Land ziehenden Pestverbannten zu sein. Erst Jahrzehnte darauf sollte die Pest in der deutschen Dichtung ihr wahres Gesicht zurückerhalten, etwa bei Martin Opitz, der sie im Vers die „wilde Fresserin der Erden“ nennt.

In solicher dunkle, not und angst

Im Herrenberger Pestexil von 1594 angekommen, mußten allein die Fakultäten der Mediziner und Juristen für zweihundert Angehörige Quartier schaffen. Von den hiesigen Rechtskoryphäen waren unter anderem die Herren Varnbüler, Aichmann und Entzlin mit von der Partie. Eben jener Matthäus Entzlin, der zwei Jahrzehnte später wegen schwerer Vergehen gegen den Staat öffentlich geköpft werden sollte – just unter der Regentschaft jenes Herzogs, der jetzt als Zwölfjähriger mit ihm vor der Pest aus Tübingen geflohen war.

Die Professoren wohnten laut dem Historiker Crusius „in foro“, also in der Ortsmitte; sie waren privat bei begüterten Bürgern untergebracht. Die Studenten, die als Kostgänger nicht bei ihren Professoren unterkamen, logierten beim einfachen Volk in „nach billigkeit taxierten stuben und kammern“, wie der Bevollmächtigte des Herzogs es befohlen hatte. Die Rechnungen beglich der Landesfürst. Vermutlich machte ein Pestexilort dabei keinen schlechten Schnitt. Eine Entschädigung für die Furcht, die Tübinger könnten Seuche und Tod einschleppen, gab es freilich nicht.

Wo die exilierte Alma mater in Herrenberg ihren Verwaltungssitz nahm und wo gelehrt wurde, ist unklar. Stadtgeschichtler ziehen dafür sowohl die Lateinschule als auch das größte Wirtshaus am Ort, den „Bären“, in Betracht. Vier Juristen und zwei Mediziner wurden in der Gäustadt zu Doctores promoviert. In Crusius´ Bericht spürt man ein dankbares Aufatmen: Das akademische Leben ging weiter! Längst hatte die Universität in solchen Situationen zu improvisieren gelernt. Drei Jahrzehnte davor war es ihr sogar gelungen, geregelten Griechisch- und Lateinunterricht abzuhalten, zum einen in einer Zunftstube, zum andern in einem Kaufhaus.

Exil in Herrenberg und Calw

Herrenberg übrigens galt in Tübingen wie auch am Hof in Stuttgart als besonders gesunder Zufluchtsort, weil es dem „freien Zutritt der Winde ausgesetzt“ und daher bei fast allen Epidemien im Land pestfrei geblieben sei. Zweifellos war diese Einschätzung eine Folge noch grassierender mittelalterlicher Pesttheorien: Danach entstand die Krankheit nicht durch „Tröpfchen“ oder Flohbisse, sondern durch den Pesthauch, also durch Ausdünstung und Faulstoffe in der Luft. Nordwind war ein gerne geglaubter Saubermacher der verpesteten Atmosphäre

Die übrige Hochschule, das Collegium illustre sowie die theologische und die philosophische Fakultät mit noch einmal rund dreihundert Auszüglern, ließ sich in Calw nieder. Über die dortige Unterbringung ist nichts bekannt, die Chronisten teilen nur mit, daß die illustren Adelszöglinge im herzoglich-württembergischen Schloß nahe dem Kloster Hirsau komfortabel einquartiert wurden. Doch für die übrigen Akademiker scheint der Exilalltag ebenso normal und keineswegs unangenehm gewesen zu sein. So wurden in Calw 13 Magisterexamen abgenommen – eine vorzeigbare Zahl. Auch war niemand gezwungen, freudlos zu leben. Gemeinsam mit dem Mathematicus Maestlin, dem Hirsauer Abt und früheren Tübinger Theologen Johannes Brenz, einem Sohn des großen Reformators, sowie anderen Gästen wurde Crusius zu festlichen Tafeln eingeladen; davon war er so angetan, daß er der Nachwelt sogar eine Tischordnung überlieferte.

In Tübingen fielen währenddessen 737 von insgesamt 3800 Bürgerinnen und Bürgern der Pest zum Opfer. Der Katastrophencharakter der wiederholten Pesteinbrüche in Tübingen hat sich also bei den akademischen Chronisten kaum niedergeschlagen. Was aber verdeckt der Glanzlack ihrer Humanistenrhetorik? Mit Sicherheit ein Pesttrauma! Während die gelahrten Herrn samt Anhang in der sicheren Emigration weilten und sich, so Crusius, auf eine „fröhliche“ Heimkehr freuten, war es den restlichen Ausgewanderten streng untersagt, mit der Heimat in Briefverkehr zu treten, „geschweige denn einen Tübinger zu beherbergen“ oder gar zu besuchen. Als ein Teil der Studenten 1566 der universitären Obrigkeit nicht gehorchte und statt nach Esslingen mitzureisen, in Tübingen aushielt, setzte es harte Strafen. Die Verweigerer – Gründe ihres Verhaltens sind unbekannt – wurden ohne Gnade von der Universität verwiesen und der städtischen Obrigkeit übergeben. Eine Härte, die an die Pesterlasse europäischer Städte während des 14. Jahrhunderts erinnert.

Ein verliebter Student bringt den Tod ins Exil

Aktenkundig und vermutlich noch lange ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, ist der Fall des Astronomen Johann Stöffler – von ihm stammt die Tübinger Rathausuhr. 1530 übersiedelte der 77-Jährige mit der Bursa ins Pestexil Blaubeuren: Dort lebt Stöffler unter anderem mit seinem Kostgänger Jakob Damian Reuss zusammen, einem Studenten, den sein verliebtes Herz in die Heimat zieht. Er reitet zurück, besucht seine Angebetete in Mössingen, kann aber auch nicht davon absehen, außerdem noch einer alten Freundin, der Huckel Anna in Tübingen, die Ehre zu geben. Damian läßt sie, da er nicht in die verpestete Stadt darf, auf den Wöhrd hinausrufen – die kurze Begegnung reicht aus, ihn anzustecken.

Wieder in Blaubeuren, bricht bei dem Studenten die Pest aus. Unruhe entsteht in der Gaststadt. Stöffler und seine Familie stehen zu dem Jungen und werden fortan von den meisten gemieden. Wie in keinem zweiten Tübinger Fall ist durch die Unterlagen des Damian Reuss der Verlauf der Erkrankung belegt: Sie begann mit Schweißausbrüchen und Schüttelfrösten, dann kamen Erbrechen und blutiger Husten dazu, schließlich traten große Schmerzen auf und der Geist verwirrte sich. Niemand in der Umgebung des jungen Mannes hatte je ein solch qualvolles Sterben miterlebt. Alle befanden sich „in solicher dunkle, not und angst“, wie einer der Zeugen später zu Protokoll gab. In der Folge starben, von Damian angesteckt, zwei Frauen aus dem treuen Helferkreis an der Pest.

Stöfflers Schicksal ist ungewiß. Der spätere Stadthistoriker Andreas Christoph Zeller geht – in seinen „Ausführlichen Merckwürdigkeiten der Hochfürstlichen Wirtembergischen Universität und Stadt Tübingen“ (1743) – davon aus, daß auch ihn die Seuche eingeholt hat.

Zeller berichtet ebenfalls von dem guten Hirten Theodoricus Snepff, der während der Pest von 1571 mit drei Helfern in Tübingen verblieb, um Kranken beizustehen und Tote christenwürdig zu bestatten. Pfarrer Snepff war es auch, der die üblichen Almosen unter die Bettler und Armen zu verteilen hatte. Almosen, die von der Universität in prallen Säckchen aus dem Exil nach Hause geschickt wurden, und zwar regelmäßig. Eine Art freiwilliger Peststeuer, um das Leben in der schwer gebeutelten Stadt halbwegs aufrecht zu erhalten. Und, ganz offenbar, unter dem Druck des Gewissens, das durch die Donnerworte alt- und neugläubiger Theologen wachgerüttelt wurde, so etwa durch den Tübinger Gabriel Biel, aber auch die Reformatoren Luther und Calvin.

In einer Art Pestethik hatten alle drei verkündet, daß man vor der Seuche zwar fliehen solle, daß die Flucht jedoch denen vorbehalten sei, „die nicht mit Ämtern behaftet sind“. Amtsinhaber, so schrieb und predigte vor allem Martin Luther, sollten dableiben, denn sie seien durch Gottes Wort eingesetzt, um zu regieren. So stürzte die Pest den selbstgewissen und siegessicheren Humanismus der Epoche doch in ein Dilemma: Nächstenliebe oder Rette-sich-wer-kann?

Helfer im Immunkostüm

Wer vor der Pest nicht aus Tübingen floh, sondern sich deren Schrecken aussetzte – von Ansteckungsgefahr einmal ganz zu schweigen -, der mußte sehr stark sein. So wie andernorts wurden auch in Tübingen nach Ausbruch der Krankheit „seuchenpolizeiliche“ Maßnahmen getroffen. Sämtliche Kranken waren umgehend ins Pestlazarett draußen vor der Stadtmauer zu schaffen. „Gutleutehaus“ nannte man dieses Sterbehospiz beschönigend – heute steht dort das Pauline-Krone-Heim.

Das meist zwangsverpflichtete Pflegepersonal des „Gutleutehauses“ durfte erst nach einer Wartefrist von zehn Tagen unter die Bürgerschaft zurück. Wundärzte und Bader übernahmen allzumeist die Aufgaben der Medizin. Sie trugen, wie Professor Crusius in seinem Tagebuch notierte, eine Art Immunkostüm: Eine Wachsmaske mit brillenartigen Augengläsern bedeckte das Gesicht; über Nase und Mund sprang ein tönerner Schnabel vor, der inwendig mit Duftölen ausgerieben war, um den vermeintlichen Pestdunst abzutöten (in Venedig sollte dieser Schnabel in späteren Jahrhunderten zum Karnevalskostüm gehören!). Der übrige Körper war in ein Leinengewand gehüllt, auf dem Kopf saß ein Barett; ein Arzt mit akademischem Abschluß trug außerdem einen Stab, der seine Standeswürde signalisierte.

Alles geschah während der Pest in größter Eile: Krankenwohnungen mußten ausgeräuchert werden; die Toten waren, zumindest seit 1541, schleunigst hinauszukarren auf den Pestanger nahe dem heutigen Schlachthof – waren sie auch wirklich tot oder atmeten sie noch? Menschenreiche Leichenzüge wurden meistens verboten, allein die engsten Verwandten durften Trauerkleidung tragen, und das nur befristet. Möglich, daß man den allgemeinen Untergang in Jammer und Melancholie fürchtete. Darum rieten die Stadtväter auf dem gesamten europäischen Kontinent in ihren „Pestregimina“ zu Heiterkeit und Frohsinn. Doch beides dürfte selbst dem als „üppig“ und „heiter duldsam“ geltenden Tübingen des 16. Jahrhunderts äußerst schwer gefallen sein. So etwa hatte die Stadt damit fertig zu werden, daß allein in einem einzigen Monat, im August 1571, aus ihrer Mitte sage und schreibe dreihundert Menschen zugrunde gingen.

Es waren düstere Zeiten, wenn in Tübingen die Pest ausbrach

Es waren düstere Zeiten, wenn in Tübingen die Pest ausbrach | Foto: www.schoenepostkarten.de

Kräuter gegen die Pest?

Gab es denn keinerlei wirksame Medizin gegen die Pest? Um es hart zu sagen: nicht vor der Entwicklung von Antibiotika! Doch immerhin, die besten Botaniker Europas gingen damals felsenfest davon aus, daß gegen den Schwarzen Tod das eine oder andere Kraut gewachsen sei. In Tübingen war es Leonhart Fuchs, der mit seinem „New Kreuterbuch“ von 1543 auch der Pesttherapie dienen wollte – mit ihm begann in Tübingen die wissenschaftliche, nicht länger religiöse Auffassung der Pflanzenwelt sowie ihrer Heilwirkung auf den Menschen. Vor dem Nonnenhaus, seinem Tübinger Wohnort, hat Fuchs aller Wahrscheinlichkeit nach jenen reichen Garten angelegt, in dem er auch Kräuter gegen die Pest zog, so etwa Haselwurz oder Eibisch. Im Register seines Buchs gibt es zahlreiche Einträge unter „Pest“ oder „Pestilenz“, auch wenn man bis heute nicht genau weiß, wie Fuchs bei der Verfertigung seiner Rezepturen vorging. Anders als bei Nostradamus, der etwa zur selben Zeit in Frankreich zum „Pestheiligen“ aufstieg und allem Anschein nach überaus erfolgreich therapiert hat, unter anderem mit „Rosenpillen“, von denen er selbst gewußt haben dürfte, daß sie Placebos waren – zugleich aber auch mit der gewaltigen psychischen Suggestivkraft, die diesem Mann zu eigen war.

Hunger und Teuerungen folgen der Seuche

Unabsehbar auch die politischen Folgen der Seuche, und selbst eine überschaubare Kommune wie Tübingen soll während der Pest zeitweise unregierbar gewesen sein. Die „Stockung mancher Gewerbe“, so Stadthistoriker Eifert im neunzehnten Jahrhundert, tat das ihre, die Not zu verschlimmern. Fast jedesmal gingen Hunger und Teuerungen mit der Pest einher. Auch erlitt die Stadt einen „großen Verlust“, wenn die Alma mater wegzog. Heutig gesprochen: die Uni nahm ihre Kaufkraft mit. Zornig rotteten sich die Dagebliebenen vor den leerstehenden Universitätsgebäuden zusammen. Sie vermuteten Vorräte darin! Nicht immer konnten Plünderungen verhindert werden.

Doch wenn die Universität mit Sack und Pack wieder vor dem Stadttor stand, bildete ganz Tübingen ein Spalier, rief Glückwünsche und jubelte vor Freude. Meist lud die Stadt sogleich zum Begrüßungsmahl aufs Rathaus.

In Europa flammte der Judenhaß auf

Insbesondere eine Bevölkerungsgruppe aber bekam die Pest und ihre Folgen auf die denkbar brutalste Weise zu spüren: die Juden! Ganz Europa bürdete ihnen die Schuld an der Seuche auf – obgleich diese Menschen von der Krankheit ebenso geschlagen waren wie alle anderen. Auf dem gesamten Kontinent wirkte die Pest psychotisch, und die Juden wurden als „Brunnenvergifter“, „Gottesleugner“ und „Kindermörder“ verfolgt, vertrieben oder massenhaft ermordet.

Vermutlich schon im großen Pestjahr 1348 sind Juden auch aus Tübingen fortgejagt worden. Und nach der Universitätsgründung von 1477 wurden die wenigen wieder hier am Ort seßhaft gewordenen jüdischen Mitbewohner abermals vertrieben, so wie rund anderthalb Jahrzehnte darauf aus dem gesamten Herzogtum Württemberg. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß auch bei dieser Vertreibung wiederum die Pestangst eine der stärksten Antriebskräfte gewesen ist.

Stadt und Universität Tübingen: Wie untrennbar sie waren, sollte sich im Schreckensjahr von 1634 auf 35 erweisen. Es herrschte Krieg, und nach der Schlacht bei Nördlingen, die die Evangelischen verloren hatten, fiel die gegnerische Soldateska in Württemberg ein, auch in Tübingen; und mit ihr kam die Pest. Diesmal zog die Alma mater nicht ins Exil – wohin auch in einem brennenden Land! Der Wissenschaftler Wilhelm Schickard – unter anderem der Erfinder der Rechenmaschine – wurde Zeuge dieser doppelten Gewalt, die das Ende der Hochschule und den Untergang der Stadt zu bringen schien. Die kleine große Stadt muß sich mitten in der Apokalypse gefühlt haben!

In Briefen berichtet Schickard zuerst, daß „ruchlose Soldaten“ im Sommer 1634 seine Mutter erschlugen. Und im Frühjahr 1635 raubte die Pest ihm „Frau und alle Töchter“.
Der Universitätssenat erteilt ihm daraufhin Hausarrest wegen Ansteckungsgefahr. Schickard wird aufgefordert, die Stadt zu verlassen, doch der 43-Jährige denkt gar nicht daran, weil er um seinen Hausstand in der Bursagasse, vor allem die Bibliothek fürchtet. „Die Universität liegt vernachläßigt darnieder“, schreibt er, „schon lange haben wir Gehälter weder erhalten noch Hoffnung, sie künftig zu erhalten.“ Von Abgaben ist die Rede, die von den Professoren an die Besatzungsmacht zu entrichten seien, „um die unverschämtesten Leute zu ernähren“. Der Uni-Kanzler wird während einer Pestpredigt mit dem Dolch angegriffen. Heftige Spannungen entstehen – offenbar haben akademische und städtische Bürgerschaft sich in ihrem Schmerz gegenseitig für die tödliche Lage verantwortlich gemacht.

Im Herbst 1635 floh Schickard doch noch von Tübingen in sein Notquartier Dusslingen, doch nur für zwei Wochen, dann kehrte er mit seinem kleinen Sohn Theophil in die Stadt zurück. Schon kurz darauf waren beide tot, Pestopfer wie 1485 andere Tübinger in diesem einen Jahr.

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Leseempfehlungen

Kurt Oesterle empfiehlt zur Lektüre in diesen Pandemie-Zeiten folgende Bücher:

Victor Hugo, Die Elenden
Honoré de Balzac, Verlorene Illusionen
Italo Calvino, Wo Spinnen ihre Nester bauen
Gertrud von le Fort, Die Tochter Jephthas und andere Erzählungen
Czeslaw Milosz, Gedichte

Kurt Oesterle bei einer Lesung

Kurt Oesterle bei einer Lesung

Weitere Informationen über Kurt Oesterle und seine Bücher findet man auf seiner umfangreichen Homepage, wo er auch viele interessante Aufsätze kostenlos zum Downland zur Verfügung stellt. Ganz aktuell ist Oesterles Buch über Friedrich Hölderlin mit dem Titel „Wir und Hölderlin?“. Die Leiterin des Hölderlin-Turms, Sandra Potsch, hat sich mit Kurt Oesterle über Hölderlin unterhalten: im Turm und unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das Gespräch kann man hier nachhören.

Wir danken dem Autor für diesen Gastbeitrag.

Euch allen eine gute Zeit. Passt auf Euch auf!

NK | CK

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4 Kommentare

  1. Ingeborg Simon 1. Mai 2020 um 15:16

    Herzlichen Dank für diesen sehr informativen Artikel. Ich habe ihn gleich mehrfach weitergeleitet.
    Bleiben Sie gesund
    Beste Grüße
    Inge Simon

  2. Tja, das ist schon witzig bei Suchmaschinen, die ihre Ergebnislisten auf die bisherigen Sucheingaben ihrer Nutzer einstellen:

    Bei mir antwortet google beispielsweise auf dem ersten Listenplatz mit einer Gegenfrage: Corona ist …
    … München die Brutstätte?
    und weiter:
    … Sonder-Regeln für Muttertag in Bayern
    … schlimmer als Tsunami
    … mir egal, sagt Helga Witt-Kronshage (86)

    Neugierig geworden, beginne ich, diese Liste mit den Ergebnissen anderer Suchmaschinen zu vergleichen:

    Duck Duck Go: Corona ist …
    … Krankschreibung
    … 168 Millionen Aktive Käufer
    … Motorradfahren
    … was Sie über Sars wissen müssen
    … in Hamburg

    Startpage: Corona ist …
    … „die Plage der Menschheit“, sagt Bischof Bätzing
    und hält sich ansonsten daran, was google ihr vorgibt (s.o.). Hingegen sagt

    Bing: Corona ist …
    … das Wort für „Krone“
    … Husten, Fieber
    … ein neues Virus
    … keine Strafe Gottes“, meint der MDR

    So richtig interessant wird es jedoch bei der deutsch-französischen Suchmaschine „cliqz.com“: Corona ist …
    ***HINWEIS: „Für diese Suchanfrage haben wir leider keine passenden Ergebnisse gefunden“
    Vorschlag:
    – Achte darauf, dass alle Wörter richtig geschrieben sind
    – Probiere es mit anderen Suchbegriffen
    *** ***
    Nein, tue ich nicht. Ich schalte statt dessen die voreingestellte Suchbedingung „Sichere Suche“ aus, lasse also auch nicht kindgerechte Ergebnisse zu. Es erscheint:

    … Kriminalität: Gangs inszenieren sich als Helfer in der Krise
    … TOP NACHRICHTEN, sagt der Spiegel
    … „unser Pokémon-Go-Moment“, sagt Christian Miele
    … altersgruppenspezifisch
    … „wissen … und nicht wissen“, sagt quarks.de

    Erhellend wird es bei fastbot.de, die laut Wikipedia in ihren Suchlisten KEINE WERBUNG auflistet: Corona ist …
    … Zigarre des Monats Februar 2017
    … unser neuer Bestseller im Sportvertrieb Profi Shop
    … relativ“, sagen Wissenschaft und Forschung, „denn wie wir sehen werden ist die Nähe einer Masse genau so gut wie Beschleunigung“
    … das klassische Format der „León Jumenes Double Maduro“ und erhältlich bei Cigarmaxx

    So erfahre ich also ganz nebenbei bei diesem Freitagnachmittag-Suchmaschinen-Relevanz-Schnelltest etwas über die Zuverlässigkeit von Einträgen in etablierten Wissensdatenbanken, die unter public domain stehen. Jetzt bin ich wirklich neugierig und finde bei …

    mojeek.de, einer Suchmaschine aus Brighton in England: Corona ist …
    … best visible during a total solar eclipse
    … Digital Marketing with the Blue Corona Newsletter
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    … für die Schweiz ein Grund, darüber nachzudenken, Netflix & Co. zu sperren.

    *** uff ***, also, ganz herzlichen Dank für diese Anregung, mich mal eben schnell auf den Stand des aktuellen Wissens in Sachen Internet und objektiver Verlinkung mit relevanten Fakten zu bringen. Noch ein Grund mehr, auf mich aufzupassen. Dann geh‘ ich jetzt mal Tee trinken und denke noch ein bisschen darüber nach … ;-))

  3. Sehr spannend und trotz der Jahrhunderte langen Distanz zu heute bedrückend

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