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Wir alle brauchen Erbarmen

„Wir alle können hilflos werden und brauchen Erbarmen.“ Helga Schubert

„Wir alle können hilflos werden und brauchen Erbarmen.“ Helga Schubert

Welt ohne Menschlichkeit

Von Elno Murks (ihr wisst, wen ich meine) habe ich dieser Tage gelesen, dass er Mitgefühl für selbstmörderisch hält; Empathie und Menschlichkeit sind für ihn Schwächen. Das gibt uns eine Idee davon, wie die Welt aussehen wird, sollten Murks und seine autoritären Tech-Komplizen ihre Vorstellungen von einem technokratischen Nicht-Staat durchsetzen. Das wird eine Welt, in der Hilflosigkeit und Erbarmen keinen Platz mehr haben.

Ein Stundenbuch der Liebe

»Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant, sagt Derden zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme. Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute.«

So beginnt »Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe« von Helga Schubert. Helga Schubert, Jahrgang 1940, war Psychotherapeutin und Schriftstellerin in der DDR. 2020 meldete sie sich mit 80 Jahren beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt zurück auf die literarische Bühne. Sie gewann den Preis mit der Geschichte »Vom Aufstehen«.

»Der heutige Tag« ist 2023 erschienen und Schubert beschreibt darin, wie sie mit 80 Jahren ihren dementen, kranken Mann Derden pflegt. Dieser Derden ist Johannes Helm, dreizehn Jahre älter als seine Frau, Maler und ehemaliger Professor für Klinische Psychologie. Mit Derden beginnt Helga Schuberts Tag, mit Derden endet er.

»Ich schlage sein Deckbett zurück, leere den Bettbeutel des Blasenkatheters, fühle, ob die Windel nass ist.«

Helga Schubert, Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der LiebeEntlang eines Tages beschreibt die Autorin in ruhigem Ton und klaren Sätzen, wie das ist, wenn man sich 24 Stunden am Tag um den Menschen kümmert, mit dem man so lange zusammen ist. Sie lässt dabei nichts aus, keines der Ärgernisse, keine der Anstrengungen und Mühen, aber auch keinen der anrührenden, schönen, poetischen Momente, die diese intensive anstrengende Pflege mit sich bringt.

Das Buch ist kein Roman, und trotzdem wird man beim Lesen hineingezogen in den Tag dieses alten Liebespaares, dass sich aller körperlichen Widrigkeiten zum Trotz immer noch so viel zu geben hat.

»Die Amsel sang wieder einmal so schön, Derden hörte sie, und ich dachte an die Ärztin, die mir kürzlich sagte, nun müssen Sie aber auch seinem Körper die Möglichkeit geben zu sterben! (…) Was für eine Anmaßung gegenüber der Schöpfung, dachte ich. Als ob ich Herrin darüber sein dürfte. Ein bisschen Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch auch ausatmen.«

»Der heutige Tag« ist eines der tröstlichsten Bücher, das man in unserer Zeit lesen kann. Helga Schubert lässt sich von den Herausforderung, die jeder Tag bietet, nicht unterkriegen, und sie zeigt uns, wie Loslassen, Annehmen und Friedenschließen trotz aller Mühsal möglich ist. Beeindruckend ist das – und berührend.

Heldin am Anschlag

Beeindruckend und berührend ist auch der Spielfilm »Heldin«, den wir letzte Woche im Kino gesehen haben. Auch hier geht es um Pflege, Stress, Widrigkeiten und manchmal auch um ganz kurze schöne Momente.

»Heldin«, eine schweizerische Produktion, beschreibt anhand einer Spätschicht den anstrengenden, hektischen Klinikalltag der jungen Krankenpflegerin Floria Lind (überragend dargestellt von Leonie Benesch) in einem Kantonsspital in der Schweiz. Dieser Klinikalltag ist voller großer und kleiner Herausforderungen, die fast im Minutentakt von Floria bewältigt werden müssen, nicht selten zwischen Tür und Angel. Blitzschnell müssen Entscheidungen gefällt werden, die weitreichende, ja dramatische Konsequenzen haben können. Als Zuschauer ist man schon im Kinosessel überfordert.

Da läuft bei einer hochbetagten Patientin die Windel über, als nächstes will ein sehr arroganter Privatpatient keine Sekunde auf seinen Tee warten, und während dessen entwickelt ein Patient eine gefährliche allergische Reaktion auf ein Schmerzmittel. So geht das den ganzen Tag, und Floria hat praktisch keine Zeit, etwas zu essen oder zu trinken. Ist das übertrieben? Nein überhaupt nicht, sagte das befreundete Paar neben uns im Kino, die beide seit vielen Jahrzehnten in verschiedenen Positionen in der Pflege einer großen deutschen Universitätsklinik arbeiten.

»Die Kombination von Regisseurin und Hauptdarstellerin machen »Heldin« zu einem Kleinod des deutschsprachigen Films.« (Perlentaucher)

Dieser Film hätte Filmpreise ohne Ende und Millionen von Zuschauer*innen verdient. Und vor allem sollten sich alle verantwortlichen Politiker diesen Film anschauen, damit sie endlich verstehen, dass der Agrardiesel nicht unser Problem ist.

»Heldin« ist die filmisch beeindruckende Würdigung der Arbeit tausender Krankenpfleger*innen, die jeden Tag dafür sorgen, dass der Betrieb in den Kliniken läuft.

NK | CK

Buchinformation

Helga Schubert
Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe
Taschenbuch dtv Verlag
ISBN : 978-3-423-14910-5

Hände, die einander wärmen

Der Schriftsteller und Journalist Renatus Deckert hat Helga Schubert und Johannes Helm im Sommer 2024 in Mecklenburg besucht und einen schönen Text darüber geschrieben. Kann man hier auf seinem Blog »Wolken und Kastanien« nachlesen.

Wo Heldinnen und Helden arbeiten

Universitätsklinikum Tübingen mit Albtrauf | © Schöne Postkarten, Tübingen

Universitätsklinikum Tübingen mit Albtrauf | © Schöne Postkarten, Tübingen

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