Vor ein paar Tagen waren wir bei einer Podiumsdiskussion an der Universität Tübingen. Diskutiert wurde unter der Leitung des Tübinger Osteuropa-Historikers Professor Klaus Gestwa darüber, wie es in der Ukraine jetzt weitergehen kann nach der Meuterei der russischen Privatarmee Wagner.
Auf dem Podium saß auch die ukrainische Wissenschaftlerin Dr. Oksana Huss. Ihre Spezialgebiete sind u.a. Anti-Korruption, Korruptionsforschung, hybride Regime, Transparenz in Regierungen. Zum Ende gab es eine lebendige Diskussion mit dem Publikum, und da kam die Frage auf, wie es denn sein könne, dass der Westen (und besonders Deutschland) vom völkerrechtswidrigen Einmarsch der russischen Armee am 24. Februar 2022 so dermaßen überrascht sein konnte. Und überhaupt, setzte der Fragesteller nach, warum wir denn so wenig wussten über dieses große Land Ukraine, das im Dezember 1991 seine staatliche Unabhängigkeit erlangt hat. Oksana Huss auf dem Podium blieb äußerlich ruhig, aber ihre Antwort war – sinngemäß – ziemlich eindeutig: Die Ukraine und ihre Geschichte hat die Deutschen schlicht nicht interessiert. Stattdessen war die Bundesregierung an billiger Energie interessiert und an einem guten Verhältnis zu Putin.
Schaut man sich vor diesem Hintergrund des deutschen Nichtwissenwollens die belehrenden Auftritte nicht weniger deutscher Intellektueller seit dem Ausbruch des russisches Angriffskrieges an, dann versteht man sehr gut, dass nicht nur Intellektuelle in der Ukraine genug von der Besserwisserei haben. Und damit sind wir beim heutigen Buch, dass sich mit der Ignoranz und der Besserwisserei des Westens gegenüber der Ukraine befasst.
„Alles ist teurer als ukrainisches Leben – Texte über Westsplaining und den Krieg“
So heißt der Band, der in chronologischer Reihenfolge 35 Texte ukrainischer, aber auch mittel- und osteuropäischer Autorinnen und Autoren, versammelt, die sich mit den Belehrungen westlicher Intellektueller und Politiker*innen auseinandersetzen. Wir erinnern uns noch an die offenen Briefe von Schwarzer, Wagenknecht und Co., oder etwa an den denkwürdigen Auftritt Harald Welzers, als dieser den damaligen ukrainischen Botschafter bei Anne Will wie einen Schüler abgekanzelt hat.
Herausgegeben wurde das Buch von den Tübinger Wissenschaftlerinnen Professorin Schamma Schahadat und Dr. Aleksandra Konarzewska und Dr. Nina Weller von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder.
In den unbedingt lesenswerten, teils wütenden, meist furchtbar enttäuschten Texten geht es um Kultur, Geschichte, Literatur, Imperialismus, Erinnerungskultur, Erinnerungspolitik. Praktisch jeder Text, der erste datiert vom 2. März 2022, der letzte vom 2. Dezember 2022, ist ein Augenöffner und zwingt den Leser zum demütigen Nachdenken über das eigene Wissen oder Nichtwissen und über die eigenen Vorurteile.
Einfach mal die Klappe halten
Aber was genau heißt „Westsplaining“, und woher kommt dieses Wort? Der polnische Erfolgsautor Szcepan Twardoch klärt uns auf. „Men Explain Things to Me“ ist ein Buch der US-Autorin Rebecca Solnit, das sich mit dem weitverbreiteten Phänomen befasst, das viele Männer überzeugt sind, dass sie Frauen die Welt erklären müssen. Der Begriff „mansplaining“ bringt diese Haltung in einem Kunstwort auf den Punkt. Doch zurück zum „Westsplaining“ (West + explaining); Twardoch schreibt:
„Liebe westeuropäische Intellektuelle: Ihr habt keine Ahnung von Russland. Niemand im Westen kann verstehen, was es heisst, im russischen Machtbereich leben zu müssen. (…) Ihr versteht es nicht und noch weniger versteht ihr Osteuropa – denn während Russland euch faszinieren mag, unsere Zubrowkas und Ruritaniens bleiben für euch immer eine terra nulliss. Da ihr nichts versteht, ist es höchste Zeit, dass ihr in Fragen Russlands und Osteuropas einfach mal die Klappe haltet.“
Klingt hart, was Twardoch da am 6. April 2022 in der NZZ schrieb. Aber wenn ich mich ehrlich frage, was ich bis zum 24. Februar 2022 über die Ukraine wusste, muss ich ihm Recht geben. Ich wusste kaum etwas. Es ist traurig, dass erst dieser Krieg dazu führte, sich intensiver mit der ukrainischen Geschichte und Literatur zu befassen.
Aber noch beschämender und unverständlicher ist es, dass es immer noch Politiker und Intellektuelle in Deutschland gibt, deren Empathie gegenüber den Menschen in der Ukrainie bis gegen Null geht. Da ist man lieber bereit, Putin ein wenig von der Ostukraine abzugeben (die Krim sowieso), um den angeschlagenen Diktator nicht weiter zu reizen. Und dann, wenn er bekäme, was er will, hätte man ja auch wieder seine Ruhe, und das Gas würde vielleicht auch wieder fließen.
Verklärung der russischen Kultur
Es ist diese Konzentration auf die eigene westliche Befindlichkeit gepaart mit der Besserwisserei, die die Menschen in der Ukraine enttäuscht und wütend macht. Denn sie sind es, die diesen Krieg kämpfen und ertragen müssen.
Die Texte in diesem Buch beleuchten das Phänomen „Westsplaining“ aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln, angefangen bei der weit verbreiteten Verklärung der russischen Literatur und Kunst, wo wir lange die kolonialen Großmachtsansprüche Russlands übersehen haben oder nicht sehen wollten. Stattdessen schwärme man von der russischen Seele, den endlosen Weiten, von Omar Sharif als Doktor Schiwago, und wenn im Hintergrund die Balalaika erklang, dann bekamen wir feuchte Augen.
Ich weiß nicht, ob allen Verehrern der russischen Literatur klar ist, was der Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn trotz „Archipel Gulag“ für ein überzeugter Nationalist war, der gegen Ende seines Lebens Putin ausdrücklich gelobt hat. Und wer von uns wusste schon, dass der große Dichter Joseph Brodsky, auch er Nobelpreisträger und Exilrusse, ein ganz furchtbares, ekliges Schmähgedicht auf die Ukraine geschrieben hat?
„An Joseph Brodsky oder Alexander Solschenizyn sieht man, dass die russische Überheblichkeit und imperialen Ideen selbst das Bewusstsein bedeutender Autoren verseuchen. Brodsky und Solschenizyn waren Gegner des Sowjetregimes und wurden ausgewiesen, entwickelten sich aber im Westen zu russischen Nationalisten.“
So der ukrainische Literaturwissenschaftler Petro Rychlo im Interview mit Michael Martens.
Auslöschung ukrainischer Kultur
Die Schriftstellerin Victoria Amelina, die vor ein paar Tagen ihren Verletzungen nach dem russischen Angriff auf ein Restaurant in Kramatorsk erlegen ist, wunderte sich in ihrem Beitrag darüber, dass man im Westen noch im Frühjahr 2022 lieber über den Umgang mit der russischen Kultur und russischen Künstler*innen debattiert hat, anstatt sich damit zu befassen, was die russischen Besatzer in der Ukraine mit der ukrainischen Kultur machen: vernichten, auslöschen, ausradieren. Für Amelina war die zentrale Frage:
„Wird es Russland gelingen, die ukrainische Kultur ein weiteres Mal hinzurichten? Vor der großflächigen Invasion, als die Bedrohung schon in der Luft lag, dachte ich immer wieder an die Hingerichtete Renaissance der Ukraine. In den 1930er Jahren ermordete das sowjetrussische Regime die Mehrheit der ukrainischen Schriftsteller:innen und Intellektuellen.“
Es ist mehr als bitter, dass mit Victoria Amelina jetzt wieder eine ukrainische Schriftstellerin und Intellektuelle Opfer brutaler russischer Aggression wurde. Sie hat sich zuletzt in einer Initiative aktiv mit der Dokumentation russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine befasst. Ein Interview mit der Übersetzerin Claudia Dathe im Deutschlandfunk zum Tod von Victoria Amelina kann man hier anhören.
Die Liste der Autorinnen und Autoren, die in diesem Band versammelt sind, ist beeindruckend lang und vielfältig. Die meisten davon sind hier im Westen wahrscheinlich noch nicht allzu bekannt; mir ging es jedenfalls so. Ausnahmen bilden hier sicher: Friedenspreisträger Zerhij Zhadan, die Historikerin Franziska Davies oder der US-Historiker Timothy Snyder. Zu allen Autor*innen gibt in einem Verzeichnis eine kurze Beschreibung, genaue Angaben zur Erstveröffentlichung der Texte stehen jeweils am Ende der Aufsätze.
Wichtiges Aufklärungsbuch
„Westsplaining“ ist ein wichtiges und lehrreiches Debatten- und Aufklärungsbuch, das, in chronologischer Reihenfolge gelesen, sowohl den furchtbaren Krieg als auch die Debatten um unsere Haltung dazu nochmal glasklar vor Augen führt. Es ist ein großes Verdienst der Herausgeberinnen und des Verlags edition.fotoTAPETA, das sie dieses Werk so schnell zusammengestellt und produziert haben. Diesem Buch sind neue Auflagen und viele Leserinnen und Leser zu wünschen!
NK | CK
PS: Im Rahmen der Reihe „Brennpunkt Ukraine“ des Slavischen Seminars und des Seminars für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen findet am 12. Juli 2023 eine Veranstaltung mit zwei Autorinnen des Buches statt: Natalka Sniadanko (Leipzig) und Kateryna Mishchenko (Berlin) sprechen über Westsplaining:
Hörsaal 001, Altes Oberschulamt, Keplerstraße 2, Tübingen. Alle Infos auch hier.
Buchinformation
Alles ist teurer als ukrainisches Leben. Texte über Westsplaining und den Krieg
Herausgegegen von Aleksandra Konarzewska, Schamma Schahadat, Nina Weller
edition.fotoTAPETA, Berlin 2023, broschiert
ISBN 978-3-949262-29-6
Interview mit Prof. Dr. Schamma Schahad im DLF
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Immer diese wortreiche, langatmige Besserwisserei von allen Seiten! Ermüdend! „Einfach mal die Klappe halten…..“(Zitat!)
Gruß, kurz und bündig,
Uwe Hilke
Lieber Uwe,
wir hoffen doch sehr, dass sich das „Klappe halten“ nur auf den Reklamekasper bezieht, den man im übrigen ja nicht lesen muss.
Von den Menschen in der Ukraine, deren Kultur und Art zu leben (nämlich wie wir!) von dem verbrecherischen Regime im Kreml ausradiert werden soll, kann niemand ernsthaft verlangen, dass sie die Klappe halten sollen.
Es geht in dem vorgestellten Buch und auch in unserer Besprechung nicht um Besserwisserei. Es geht in den 35 Texten um die Auseinandersetzung mit einer ganz bestimmten Haltung immer noch vieler Menschen im Westen, die ihr Verhältnis zur Sowjetunion/Russland schlicht noch nicht geklärt haben. Und die aber meinen, sie könnten den Ukrainern Ratschläge geben, wie sie mit dem Aggressor umzugehen haben.
Norbert und Corinna