Nachtwanderungen oder Nachtspaziergänge galten in meiner Jugend Mitte der Siebziger am Fuß der Schwäbischen Alb als Mutprobe. Bevorzugtes Ziel dieser nächtlichen Exkursionen war ein Friedhof oder eine einsame Kapelle am Waldrand. Aber natürlich hatten wir meist Taschenlampen dabei und waren höchst selten alleine unterwegs.
Nächte voll Stille und Schönheit
Ganz anders kam der britische Farmer, Nature Writer und studierte Historiker John Lewis-Stempel zu seinen ersten Nachtwanderungen. In seinem neuen Buch „Wandern bei Nacht. Was wir in der der Dunkelheit erleben können“ erzählt er, dass der einzige Pub, der Bier an Minderjährige ausschenkte, fünf Kilometer von seinem Dorf entfernt lagt. Den Genuss des ersten Pints musste sich der junge John also mit einem ordentlichen Nachtmarsch verdienen.
Die Liebe zum Herumstreifen bei Nacht hat ihn nicht wieder losgelassen. Ein Glück für seine Leserinnen und Leser, die Lewis-Stempel nun auf vier Nachtwanderungen begleiten dürfen, die er allesamt in Herefordshire im Westen Englands an der Grenze zu Wales unternimmt. Dort lebt seine Familie seit 700 Jahren, und dort bewirtschaftet auch Lewis-Stempel eine Farm und schreibt sehr erfolgreich Bücher über die Natur, die wir hier auch schon besprochen haben.
„Es gibt Stadtmenschen, die noch nie die Sterne gesehen haben, die das tröstliche Gefühl nicht kennen, von den weichen Schwingen der Nacht umfangen zu werden. Es gibt Nächte von solcher Stille und Schönheit, dass sie wie Balsam für die Seele wirken, wie ein Gesundbrunnen für den Geist.“
Ein Gesundbrunnen für den Geist sind auch die stimmungsvollen Schilderungen der vier Wanderungen, die der genaue Beobachter Lewis-Stempel zu den vier Jahreszeiten im Wald, in den Hügeln, am Fluss und im Feld – unternimmt. Die erste kleine, winterliche Wanderung dauert gerade mal eine Stunde, im Buch acht Seiten, fühlt sich aber an, als hätte man mit dem Autor die halbe Nacht im Wald verbracht. Und was einem da alles begegnet in der Dunkelheit: Rehe natürlich, Schleiereulen, der „zitronige Moschusdurf einer Füchsin, dick wie ein Seil“, ein Waldkauz, die zauberhafte Stille und schließlich, aber nein, wir wollen nicht zu viel verraten.
Sehen, riechen, hören, schreiben
Beim Lesen wird schnell klar, dass John Lewis-Stempel, der immer seine Labradorhündin dabei hat, ein erfahrener Nachtgänger ist, und dazu ein belesener. Weshalb er immer wieder Zitate bekannter Schriftstellerinnen und Schriftsteller und sein großes naturwissenschaftliches Wissen einfließen lässt. Das alles geschieht im Text en passant, ohne großes Aufhebens. Lewis-Stempel ist kein Namedropper, sondern hat spürbar Freude an der Sprache und daran, seine eigenen, poetischen Beschreibungen mit den Texten anderer zu verknüpfen. Zwischen den vier größeren Wanderungen lesen wir Tagebucheinträge von kürzeren nächtlichen Erlebnissen in England und im Südwesten Frankreichs.
Alles in allem ist Lewis-Stempel ein feines Buch gelungen, dass weniger von der Handlung lebt, sondern von detaillierten Beobachtungen und stimmigen Schilderungen dessen, was dieser kluge, humorvolle Autor bei seinen nächtlichen Streifzügen sieht, hört und riecht. Darüber hinaus regt die Lektüre an, sich selbst einmal nachts jenseits unserer lichtverschmutzten Siedlungen umzuschauen und eine andere geheimnissvollere Welt zu erfahren.
NK | CK
Buchinformation
John Lewis-Stempel
Wandern bei Nacht. Was wir in den Dunkelheit erleben können.
Übersetzung: Sofia Blind
mit Glossar für Nachtwanderungen, Quellenverzeichnis und weiterführenden Informationen zu sogenannten Lichtschutzgebieten (International Dark Sky Reserves)
Dumont Verlag, 128 Seiten, Hardcover
ISBN: 978-3-7558-1016-2