Zum ersten Todestag der britischen Schriftstellerin Hilary Mantel am 22. September 2023 hat der Dumont Verlag das Buch „Sprechen lernen“ der zweifachen Booker-Preisträgerin herausgeben. Auf Englisch erschien dieser Band bereits vor 20 Jahren. Wer bisher nur die historischen Romane von Hilary Mantel kennt, wird die sprachlich brillante Erzählerin noch einmal neu entdecken.
Sechs Erzählungen
Hilary Mantel beschreibt in sechs Erzählungen mit sechs verschiedenen Protagonisten das kindliche und jugendliche Erleben ihres Alltags. Als quasi siebte Erzählung ist ein Ausschnitt ihrer Autobiografie „Von Geist und Geistern“ angehängt.
Kindheiten in England während der 50er und 60er Jahre
Alle Erzählungen spielen im Nordwesten Englands der 50er und 60er Jahre. Es sind Leben in prekären Verhältnissen, in denen die vernachlässigten, kindlichen Ich-Erzähler, Jungs und Mädchen, von ihren Wahrnehmungen erzählen. Es geht um das Anderssein der eigenen Familie, wechselnde Bezugspersonen, die Qualen der Schulzeit, den Tratsch und die Kontrolle durch die Nachbarschaft:
„Die Kinder hatten dem Klatsch ihrer Eltern gelauscht. Sie stellten mir, besonders die Mädchen, bohrende Fragen nach den Schlafmodalitäten in unserem Haus. Ich sah nicht, was die Fragen sollten, war aber dennoch nicht so dumm, sie zu beantworten.“
Die Inhalte sind oft tough und bedrückend, aber die kindliche Wahrnehmung berührt einen durch ihre natürliche Leichtigkeit immer wieder. Ob es die falsche Religion ist (eine irisch-katholische Familie im anglikanischen Umfeld) oder die Mutter, die ihren Liebhaber ins Haus holt, das Verschwinden des Vaters oder der mühsame Versuch, für eine Abschlussprüfung den eigenen Dialekt abzulegen und neu sprechen zu lernen: immer haben die Kinder das Gefühl, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, egal, wie sich bemühen.
„Schon mit vier Jahren hatte ich angefangen zu glauben, etwas Falsches getan zu haben. Da gab es eine grundlegende Sünde, an die das Beichten nicht rühren konnte. Da war etwas in mir, das sich nicht in Ordnung bringen ließ und für das es keine Erlösung gab.“
Gefühle der Kindheit
Die Autorin weckt mit der Betrachtung einzelner Details bekannte Gefühle aus der Kindheit: das Leiden, weil man Außenseiter ist, die ständige Verwirrung wegen fehlender Fähigkeit, Dinge und Gesagtes einordnen zu können, das Gefühl realer Bedrohungen sowie die Qualen durch nicht zu bändigende Ängste. Dabei sind der Autorin die Fragen, die sich für ein Kind stellen, wichtiger als die (späteren) Antworten, die man im Laufe eines Lebens vermeintlich findet:
„Erst später, als ich auszog, verstand ich die unbeschwerte Sorglosigkeit eines durchschnittlichen Lebens – wie frei die Leute reden, wie frei sie leben. Sie haben keine Geheimnisse, da ist kein Gift an der Wurzel. Ich lernte Menschen mit einer Unschuld und Offenheit kennen, wie sie meiner eigenen Natur fremd waren.“
Man ist als Leser immer wieder versucht, die sechs Erzählungen von „Sprechen lernen“ als sechs Kapitel einer Geschichte zu lesen, da alle Erzählungen mit dem Leben von Hilary Mantel (6. Juli 1952 – 22. September 2022) verwoben sind. Im Vorwort gibt Hilary Mantel Erklärungen hierzu. Die zweimalige Trägerin des renommmierten Booker Prize nennt ihre Erzählungen „nicht autobiografisch, sondern autoskopisch“. Es geht ihr nicht um die getreue Wiedergabe ihres eigenen Lebens, sondern um die ganz genaue (mikroskopische) Betrachtung ihr wichtiger Details, die sie in einzelnen Erzählungen literarisch besser herausgearbeitet sieht.
So sagt die Autorin denn auch: „Die Geschichte meiner Kindheit ist ein komplizierter Satz, den ich ständig zu beenden versuche.“
Dieser Erzählband ist eine anpruchsvolle, aber lohnende Lektüre!
CK I NK
Buchinformation
Hilary Mantel
Sprechen lernen. Erzählungen
Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence
160 Seiten, gebunden, Dumont-Verlag, 2023
IISBN: 978-3-8321-6816-2
Einen ausführlichen Nachruf in englischer Sprache kann man hier im Guardian nachlesen.
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