Die Journalistin und die Ärztin
»Ich habe ein Buch gefunden, das über fünfzig Jahre niemand aufgeschlagen hat. Eine alte Penguin-Taschenbuchausgabe von John Bergers ’A fortunate man‘, ausgepreist mit 45 New Pence oder 9 Shillings.«
So beginnt »Ein glückliches Tal«, für uns eines der beglückendsten Bücher, das 2024 erschienen ist. Geschrieben hat es die englische Journalistin und Dokumentarfilmerin Polly Morland. Das Buch, das sie beim Ausräumen ihres Elternhauses findet, erzählt die Geschichte eines englischen Landarztes in Gloustershire in den 1960er Jahren. Die Lektüre des Fundstücks mit dem Titel »A Fortunate Man« (John Berger) wird zum Ausgangspunkt für Polly Morlands eigenes Buch. Denn sie erkennt beim Lesen das ländlich geprägte Tal, in dem sie selbst aufgewachsen ist. Schnell wird ihr klar, dass sie auch die Nachfolgerin des berühmten Landarztes kennt, der so vielen Ärztinnen und Ärzten in England zum Vorbild wurde.
Morland kontaktiert die Nachfolgerin des längst verstorbenen Landarztes, und aus zahlreichen Begegnungen und Gesprächen entsteht ein dichtes, authentisches Porträt einer englischen Hausärztin im 21. Jahrhundert und gleichzeitig eines ländlich geprägten Tals im Südwesten Englands. Die Hauptfigur, im Buch nur »die Ärztin« genannt, lässt uns an ihrer Arbeit, ihren Freuden und ihren Sorgen teilhaben. Sie liebt ihren Beruf über alles, und sie erzählt, auf welchen Umwegen sie ihre Berufung als Hausärztin fand, wie hart und teils demütigend die Ausbildung in den Kliniken war, und wie sie schließlich ihre Bestimmung in diesem Tal fand, in dem sie seit vielen Jahren praktiziert.
Gelungene literarische Mischung
»In den ersten Jahren im Tal drehte sich für sie alles darum, ihren Weg als Ärztin zu finden – in jederlei Sinn. Tatsächlich verlor sie in den ersten Tagen, damals noch ohne Navi oder anständigen Handyempfang, jede Menge Zeit bei Hausbesuchen, indem sie sich schlicht verirrte.«
»Ein glückliches Tal« ist eine gelungene, auf Tatsachen beruhende Mischung aus Biographie, medizinischen Fallgeschichten, Sozialstudie, Medizingeschichte und Naturbeschreibungen. Immer sind wir als Leserinnen und Leser ganz dicht am Geschehen, so etwa zum Einstieg, als ein Schafzüchter in der Sprechstunde nicht mit seinem wirklichen Anliegen rausrückt, sondern am liebsten gleich wieder verschwinden möchte.
»Sie berührt ihn an der Schulter, um ihn aufzuhalten; nun spielt die Ärztin auf Zeit. Sie fragt, wie es da oben auf dem Hügel so gehe, sie misst seinen Blutdruck, seinen Puls, seine Temperatur. (…) Stück für Stück zieht sie ihm die ganze Geschichte aus der Nase. Der erwähnte Ärger ist vor zwei Wochen passiert. Der Schmerz geht seitdem nicht mehr weg.«
Der Schmerz rührt, wie die Ärztin durch ihr empathisches Nachfragen und nach einem Röntgenbild rausfindet, am Ende von einem gebrochenen Oberschenkelhalsknochen. Eine schwere Verletzung, die den Farmer nicht davon abgehalten hat, zwei Wochen lang unter größten Schmerzen seinen trächtigen Schafen beim Lammen zu helfen.
Person statt Fall
Liest man die Fallgeschichten, möchte man eigentlich sofort in dieses Tal ziehen und Teil dieser Gemeinschaft werden, aber vor allem, um Patient einer so engagierten, klugen und empathischen Ärztin zu sein.
Wir erleben die langen Tage einer Medizinerin, die in jeder Beziehung ihren Platz in der Welt gefunden hat: landschaftlich, beruflich und in ihrer Familie. Wir sehen eine erfahrene, in Zusammenhängen denkende Ärztin, die weiß, dass genügend Zeit für Patientengespräche entscheidend für einen guten Heilungsprozess ist. Die stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Fotos von Richard Baker zeigen die Ärztin in den verschiedensten Situationen während der Arbeit und in der Freizeit. Dabei verklärt die Autorin Polly Morland keine romantische Landidylle, denn auch das englische Gesundheitssystem NHS verändert sich – und leider nicht zum Besten. Wie überall fehlt Geld und Personal, aber auch der Wille zu erkennen, worauf es wirklich ankommt.
Aber trotz aller Widrigkeiten, zu denen für eine Weile auch die Corona-Pandemie zählt, bleibt sich die empathische Ärztin treu, denn ihr ist es wichtig,
»die körperlichen, sozialen und geistigen Verwundbarkeiten zu verstehen, zu benennen und sich jeder von ihnen wie einer Person, statt einem Krankheitsbild zu widmen.«
»Ein glückliches Tal« hat garantiert keine Nebenwirkungen, sondern hinterlässt glückliche Leserinnen und Leser!
NK | CK
PS: Dieses Buch gehört, die Anregung sei erlaubt, unbedingt auf die Lektüreliste von Gesundheitspolitiker*innen und vor allem angehenden Ärztinnen und Ärzten.
Buchinformation
Polly Morland
Ein glückliches Tal. Die Geschichte einer Landärztin
Übersetzung: Hans Jürgen Balmes
S. Fischer Verlag, 2024
Gebundene Ausgabe, 304 Seiten
ISBN 978-3-10-397622-9
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