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„Der Teufel hat keine Zeit“ – Denken entlang der Bruchlinien

Daniel Strassberg will die Bruchlinien zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft hervorheben

Daniel Strassberg will die Bruchlinien zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft hervorheben

Denktraining

„Use it or lose it. So lautet ein bekannter Satz, mit dem uns Sportmediziner besonders gern im Frühjahr ermahnen, alle Muskelgruppen unseres Körpers regelmäßig zu trainieren. Denn, ein Muskel, der nicht trainiert wird, verkümmert. Wie schnell Muskelmasse und Beweglichkeit abnehmen, merken wir alle, wenn wir uns mal ein paar Wochen nicht bewegen können.

Fälschlicherweise wird das menschliche Gehirn immer mal wieder als Muskel bezeichnet, den es zu trainieren gelte. Das menschliche Gehirn ist jedoch kein Muskel, sondern ein Organ, und zwar das komplizierteste, das die Natur hervorgebracht hat, mit über 100 Milliarden Nervenzellen und einem Vielfachen davon an Kontaktpunkten. So steht es auf der Homepage der Max-Planck-Gesellschaft. Da steht auch, dass kein Supercomputer an die Fähigkeiten unseres Gehirns heranreicht. Aber: auch unser Gehirn sollte regelmäßig trainiert und angeregt werden. Denn dieses unglaubliche Wunderorgan ist lebenslang lernfähig. Aber keine Sorge, wir empfehlen heute keine Übungen aus der Bäckerblume zum Gehirnjogging, sondern ein Buch mit 41 denkanregenden Texten.

„Der Teufel hat keine Zeit“

So heißt das neue Buch des Psychoanalytikers und promovierten Philosophielehrers Daniel Strassberg. Seit 2018 erfreut der 1954 in St. Gallen geborene Schweizer die Leserinnen und Leser des Online-Magazins Republik mit seinen inspirierenden Kolumnen. Strassberg ist ein Philosoph, der uns auffordert, selbst zu denken. 41 dieser klugen Glanzstücke hat nun der Züricher Rotpunktverlag in einem handlichen Buch gesammelt.

Gleich zu Beginn macht Strassberg klar, was ihm missfällt:

„Die Überzeugung, dass der Mensch, so wie er ist, nicht gut genug sei, ist fester Bestandteil der europäischen Geistesgeschichte.“

Ein Elend nennt der Philosoph diese Haltung und die damit verbundenen Versuche, die Menschen zu verbessern. Das hat, so Strassberg bei den antiken Philosophen angefangen und zeigt sich heute in zig Regalmetern Ratgeberliteratur in den Buchhandlungen.

Bruchlinien

Als eine der Hauptschwierigkeiten unserer Gegenwart macht Strassberg die schwierige, ja vielleicht sogar unmögliche Harmonisierung unserer individuellen Bedürfnisse mit der gesellschaftlichen Ordnung aus. Warum ist das so? Weil die menschliche Psyche träger ist als die Gesellschaft, in der sie lebt. Wir hinken immer hinterher, weil sich gesellschaftliche Veränderungen, „angetrieben durch den technischen Fortschritt“ in einem Affenzahn vollziehen. Dadurch gibt es ständig Bruchlinien zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft. Exakt um diese Bruchlinien geht es in diesem Buch. Aber der Autor will sie nicht wegretuschieren, sondern sie genau anschauen, „um so das komplexe Wechselspiel von gesellschaftlichem Wandel und veränderten Formen der Subjektivität auszuloten.“ Wie heißt es schon bei Leonard Cohen: „There is a crack, a crack in everything. That’s how the light gets in.“

Diesem selbstkritischen, streitbaren und mit Humor gesegnten Philosophen beim Denken zuzuschauen, macht Laune, auch weil er seine Leser zwingt, eigene Schwarzweiß-Positionen zu überdenken und dabei graue Zwischentöne zu entdecken.

Strassberg nimmt sich unterschiedliche Themen vor, die uns im Alltag immer wieder begegnen. Eine Auswahl: Klimakrise, Ukrainekrieg, Besserwisserei, Postfaschismus, Querdenker, Identitätspolitik, Migration, Sprache, Bürokratie, Rassismus, Bodyshaming, Populismus, Ökonomie, Kolonialismus.

Daniel Strassberg: „Der Teufel hat keine Zeit – Philosophisch-politische Betrachtungen“„Manchmal ist es so, manchmal anders“

Das Schöne an den maximal sechs Seiten langen, klugen Texten ist, dass sie nicht belehren oder bekehren wollen. Sie sind vielmehr ein vielstimmiges „Plädoyer für eine mittlere Distanz zu den Problemen“. Der Philosoph, der als Psychoanalytiker seit Jahrzehnten mit Menschen arbeitet, empfiehlt uns, offen zu sein für die „Verschlingungen und Unebenheiten, Widersprüche und Unsicherheiten“. Er gibt offen zu, dass ihm das auch nicht immer leicht fällt, aber der Preis für das Beharren auf der vermeintlichen Eindeutigkeit ist ihm schlicht zu hoch.

„Ich kann Ihnen nur empfehlen, es einmal zu versuchen. Verzichten Sie auf allgemeine Behauptungen, und antworten Sie auf die Behauptungen der anderen mit: Manchmal ist es so, manchmal anders; es kommt darauf an.“

Fazit: Dieses Buch ist eine anregende Frühjahrskur fürs Hirn!

NK | CK

Buchinformation

Daniel Strassberg
Der Teufel hat keine Zeit. Philosophisch-politische Betrachtungen
256 Seiten, gebunden, erschienen 2022
ISBN 978-3-85869-960-2
Rotpunkt Verlag, Zürich

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