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Der Salzpfad – 1.000 Kilometer, 35.000 Höhenmeter

Star Point Lighthouse am South West Coast Path in Devon

Star Point Lighthouse am South West Coast Path in Devon

Ins Licht

„Wir standen an der Haustür, die Gerichtsvollzieher auf der anderen Seite warteten schon ungeduldig darauf, das Schloss auszuwechseln, uns aus unserem alten Leben auszusperren. Gleich würden wir das spärlich beleuchtete, jahrhundertealte Haus verlieren, das zwanzig Jahre unser Kokon gewesen war. Wenn wir durch diese Tür traten, würden wir niemals zurückkehren können. Wir hielten uns an den Händen und gingen ins Licht.“

Drama Teil I

Klingt ziemlich dramatisch, was die britische Autorin Raynor Winn, Jahrgang 1962, da auf den ersten Seiten ihres Buches „Der Salzpfad“ (The Salt Path) schreibt – und ist es auch. Raynor und ihr Mann Moth sind mehr als 30 Jahre verheiratet, haben neben ihren beiden Kindern auf ihrer Farm in Wales Schafe und Hühner großgezogen und viele Jahre lang Urlaubern Erholung vom Stadtleben geboten. All das ist nun, am Anfang dieses spannenden Reiseberichts, vorbei. Raynor und Moth haben, so naiv wie unglücklich, in die Firma eines alten Freundes investiert. Dabei haben sie übersehen, dass sie mit ihren Einlagen auch für die Schulden dieser Firma haften. Sie verlieren den Gerichtsprozess und somit ihre gesamten Ersparnisse und ihr geliebtes Haus.

Drama Teil II

Als ob der Verlust der eigenen vier Wände nicht schon dramatisch genug wäre, wartet auf Raynor und Moth ein paar Tage später der nächste Schicksalsschlag: Kortikobasale Degeneration, CBD. Diese unheilbare neurodegenerative Erkrankung wird bei Moth diagnostiziert. Die langsam voranschreitende Krankheit geht einher mit starken Schmerzen, Parkinson-Symptomen und dem Nachlassen der kognitiven Fähigkeiten. Wie lange er noch hat, möchte Moth vom Arzt wissen:

„Also, normalerweise würde ich sagen, sechs bis acht Jahre nach dem Ausbruch. Aber in Ihrem Fall scheint die Krankheit sehr langsam voranzuschreiten, da Ihre ersten Probleme bereits vor sechs Jahren auftraten.“

Odyssee statt Kopf in den Sand

Was macht man, wenn einen gleich zwei derartige Schicksalsschläge ereilen? Wie geht man mit so was um? Den Kopf in den Sand stecken? Von der nächsten Brücke springen? Oder vielleicht doch lieber eine große Reise unternehmen? Das Motto, das die Autorin ihrem Buch voranstellt, ist aus Homers Odyssee:

Muse, erzähl mir vom Manne,
dem wandlungsreichen,
den es oft abtrieb vom Wege …

An dem Tag, an dem der Gerichtsvollzieher zur Pfändung kommt, beschließt Raynor, mit ihrem kranken Mann Moth auf Wanderschaft zu gehen. Die beiden haben buchstäblich nichts mehr zu verlieren: die Farm ist weg, die Ersparnisse auch, Einkommen nicht in Sicht. Warum also nicht weggehen und umherwandern?

Von ihrem letzten Geld kaufen sie sich Rucksäcke, billige Schlafsäcke, Kochgeschirr und was man sonst noch braucht auf dem 630 Meilen langen South West Coast Path, der von Minehead in Somerset am Bristol Kanal um die südwestliche Küste Englands bis nach Poole in Dorset führt. Mit im Rucksack ein DIN-A5-Notizbuch und die Übersetzung des angelsächsischen Heldenepos „Beowulf“ des irischen Dichters Seamus Heaney. Auf diesem längsten Wanderweg Englands wollen Raynor und Moth Abstand zu ihrem alten Leben gewinnen und zu sich und vielleicht einer neuen Lebensidee finden. Mehr als 1.000 Kilometer, 35.000 Höhenmeter, meist an Klippen entlang, teils ziemlich ausgesetzt auf sehr schmalen Wegen. Eine Herausforderung, schon wenn man nicht an einer unheilbaren Krankheit leidet.

Mutmach-Lektüre

Wir haben „Der Salzpfad“ vor ein paar Monaten von der Freundin U. geschenkt bekommen. Das Buch hat sich als spannende und unterhaltsame Mutmach-Lektüre in diesen ermüdenden Corona-Zeiten herausgestellt. Und dazu war es, wo wir ja nicht reisen dürfen, eine wunderbare Gelegenheit, mal rauszukommen und die englische Küstenlandschaft zu genießen.

Mehr als 300 Seiten lang wandern wir mit Ray und Moth bergauf, bergab, frieren mit ihnen in den zu dünnen Schlafsäcken, hungern mit ihnen, wenn die 50 Euro Ausgleichsrente mal wieder zu schnell aufgebraucht sind, genießen ein Pint mit ihnen und leiden mit ihnen, wenn die Schmerzen für Moth mal wieder zu stark werden, und Raynor das ganze Projekt in Frage stellt. Wynns Erstling war in England nach Erscheinen ein großer Erfolg und hat es bei uns auf die Spiegel-Beststeller-Liste geschafft. Warum?

Hoch und runter, runter und hoch, Meile für Meile auf schmalen Pfaden

Hoch und runter, runter und hoch, Meile für Meile auf schmalen Pfaden

Die Autorin erzählt in einer authentischen, ehrlichen Sprache und lässt uns an ihrem schweren Schicksal teilhaben, ohne dass sie auf Tränendrüsen drückt. Ihr Stil ist knapp, die Schilderungen der immer wieder spektakulären englischen Küstenlandschaft und der Natur sind ebenso gelungen wie die zahlreichen Porträts der vielen sympathischen und unsympathischen Typen, denen die beiden begegnen, darunter Farmer, Wirte, Surfer, Soldaten, Spießer mit perfekter Wander-Ausrüstung und Obdachlose wie sie selbst.

„Das Gelände stieg und fiel, schob uns Felsblöcke in den Weg, scharfkantige, schier unpassierbare Steine. Wir kletterten hinauf, mitten hindurch, um sie herum, über sie drüber, hinter ihnen entlang. Der Himmel verschmolz mit dem Land, wir verschmolzen mit dem Himmel.“

Den Obdachlosen widmet Wynn gleich zu Beginn ihres Buches ein eigenes kurzes  Kapitel, in dem sie die Situation der Obdachlosen heute in Großbritannien mit Zahlen belegt schildert, aber auch Beispiele aus der Geschichte bringt. Bettler, Landstreicher und Obdachlose hatten und haben es schwer in unserer technisierten Leistungsgesellschaft, die die Abgehängten, seien wir ehrlich, am liebsten irgendwohin verbannen würde, wo man sie nicht sieht.

Wildpferde auf dem South West Coast Path bei Salcombe in Devon

Wildpferde auf dem South West Coast Path bei Salcombe in Devon

Den beiden obdachlosen Wanderern gelingt es, im Laufe ihrer Tour die anfängliche Scham abzulegen und sich im wahrsten Sinne des Wortes freizulaufen. Am Ende ihrer 630 Meilen langen Odyssee entlang der englische Küste haben sie ihr Leben und den Respekt vor sich selbst zurückgewonnen.

„Am Ende verstand ich, was die Obdachlosigkeit für mich getan hatte. Sie hatte mir alle materiellen Dinge genommen und mir das nackte Leben gelassen, mich in eine leere Seite in einem noch nicht zu Ende geschriebenen Buch verwandelt. Und sie hatte mich vor die Wahl gestellt, diese Seite entweder leer zu lassen oder der Geschichte eine hoffnungsvolle Wendung zu geben. Ich wählte die Hoffnung.“

Der South West Coast Path ist übrigens wirklich so schön, aber auch so anstrengend, wie ihn Raynor Winn in ihrem lesenswerten, menschlichen Reisebericht schildert.

Vor ein paar Jahren sind wir mal ein paar Stunden auf diesem Pfad gewandert. Und wenn dieser Corona-Mist mal vorbei ist dann werden wir dort bestimmt noch den einen oder anderen Abschnitt erwandern.

NK & CK

Buchinformation

Raynor Winn
Der Salzpfad
Dumont Verlag, 336 Seiten, broschiert
ISBN: 978-3-7701-6688-6

Auf der sehr informativen Homepage South West Coast Path kann man sich ausführlich über diesen legendären Wanderweg informieren. Dort gibt’s auch eine interaktive Karte, mit der man die Strecke von Raynor und Moth nachvollziehen kann.

Das obere Foto ist auch auf dem South West Coast Path entstanden | © Schöne Postkarte Nr. 143

Das obere Foto ist auf dem South West Coast Path bei Darthmouth entstanden | © Schöne Postkarte Nr. 143

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