Spazieren und Staunen
„Um die Februarmitte, am Valentinstag, paaren sich die Vögel. Aber die Vögel müssen aufpassen, daß die Bitternis der Welt ihre Liebe nicht zerreißt.“
Diese poetischen Zeilen schreibt der Schriftsteller Wilhelm Lehmann am 8. Februar 1928 in sein »Bukolisches Tagebuch«. 2014 hat Judith Scharlansky das Buch in der bibliophilen Reihe »Naturkunden« im Verlag Matthes & Seitz herausgegeben. Man kann die Herausgeberin und den Verlag für diese wunderbare Reihe gar nicht genug loben. Die Bücher zu den unterschiedlichsten Themen sind hervorragend gesetzt und gestaltet und sehr gut produziert. Inhalt, Satz, Papier, Bindung, Umschlag: da stimmt alles.
„Wer denkt, daß wir Menschenkinder auf einer Kugel hausen, die durch den unendlichen Raum kreist, wird sich mit Lichtenberg nicht darüber wundern, daß der Wind über die Erde geht, wohl aber, daß je Windstille bei uns gedeihen kann.“
Wilhelm Lehmann, Jahrgang 1882, wuchs in Hamburg als Sohn eines Kaufmanns und einer Arzttochter auf. Er studierte in Tübingen, Straßburg und Berlin Philosophie und Naturkunde. Im Ersten Weltkrieg desertierte er und geriet in englische Gefangenschaft. Später unterrichtete er bis 1947 als Lehrer in Eckernförde an der Ostsee Deutsch und Englisch. 1923 erhielt er, gemeinsam mit Robert Musil, den Kleist-Preis. Lehmann starb 1968 in Eckernförde.
Schöpfung in die Sprache retten
Sein «Bukolisches Tagebuch« hat dieser feine Autor in einer historisch dramatischen Epoche, zwischen Oktober 1927 und Oktober 1932, geschrieben. Ein Glücksfall für uns Leserinnen und Leser!
„Hinter dem leisen Gebirge des Feldes klirrt der Ruf der Rebhühner hervor. Es klingt wie das Wetzen von Messern. Denn der Winter stößt noch mit Eisdolchen.“
Hat man sich einmal auf den Lehmann-Sound eingelassen, folgt man ihm gerne auf seinen Spaziergängen im Verlauf der Jahreszeiten, immer hart am Wind, immer entlang der sturmgepeitschten Küste und der einsamen Wege im Hinterland Schleswig-Holsteins.
Alles, was Lehmann sieht, und er übersieht nichts!, bringt ihn zum Staunen und ist ihm berichtenswert: Vögel im Sturm, neugeborene Schafe, Raupen, Mäuse, welke Blätter, von der Last der Arbeit gebeugte Menschen. Mit einem Wort: Dieser Dichter, der heute fast vergessen ist, lehrt uns sehen und staunen. Das ist Nature Writing in deutscher Sprache zu einer Zeit, als dieser Begriff in Deutschland noch nicht existierte.
»Jedes Tier, das vergeht, jede Art von Lebewesen, das ausstirbt, verdünnt das Weltvokabular, bringt uns weiter zurück von der Wahrheit, die nur aus dem Zusammenhang aller Wesen sich heraufarbeitet.«
Wilhelm Lehmann wollte, wie Hans Zischler im Nachwort schreibt, „die bedrohte Schöpfung in die Sprache retten“. Lehmanns »Bukolisches Tagebuch« zeigt uns die Schönheit und die Verletzlichkeit der Natur, von der wir nur ein Teil sind.
NK | CK
Buchinformation
Wilhelm Lehmann
Bukolisches Tagebuch
Paperback, 279 Seiten
Matthes & Seitz Berlin, 2022
ISBN: 978-3-7518-0116-4
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