Seit knapp zwei Jahren haben wir einen kleinen Lesekreis und treffen uns regelmäßig, um uns zu bekochen und dann bei ein paar Gläsern Wein über das Buch zu sprechen, das vorgeschlagen wurde. Klar, da sind auch mal Bücher dabei, die man selbst eher nicht gekauft und gelesen hätte. Weil man sich halt gerne innerhalb seiner eigenen Leseblase bewegt. Dabei soll man ja überhaupt nur „Bücher lesen, die einen beißen und stechen“, hat Franz Kafka gesagt.
Unbekannter Osten
Ob der nächste Roman, den wir im Lesekreis besprechen, beißt und sticht, wird die Diskussion zeigen. Aber eine Bereichung des Lesehorizonts ist er schon jetzt. Denn der Roman, den unser belesener Freund S. vorgeschlagen hat, spielt auf der russischen Halbinsel Kamtschatka in der Putin-Ära, also in der Zeit, die Historiker:innen die postsowjetische nennen. Ich habe bei der Lektüre des Romans festgestellt, dass ich eigentlich fast nichts über diese Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion weiß – und beschlossen, mich etwas näher damit zu befassen.
Bei der Recherche bin ich dann auf ein Spiegel-Interview mit der weissrussischen Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch gestoßen, in dem diese sich gemeinsam mit Herta Müller über die Kriegsgefahr in der Ukraine austauscht, die vom russischen Präsidenten Putin ausgeht. Das war vor dem 24. Februar 2022, dem Tag, an dem der ehemalige KGB-Agent Wladimir Wladimirowitsch Putin seinen Truppen den Einmarsch in die Ukraine befohlen hat. Mit diesem Überfall auf einen souveränen Staat ist eingetreten, was ich nie für möglich gehalten hätte: Krieg in Europa. Die Ukraine ist flächenmäßig der größte Staat, dessen Grenzen komplett innerhalb des Kontinents Europa liegen. Doch zurück zur Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Ich habe mir also ein Buch von Swetlana Alexijewitsch über diese Zeit gekauft und gebannt gelesen. Ich habe einiges gelernt: über die Sowjetunion, über die Zeit von Stalin bis Putin, über das Raubrittertum nach der Perestroika, und, und, und.
Leben auf Trümmern
„Unter dem Sozialismus und unter dem Kapitalismus. Rote oder Weiße, das ist für uns gleich. Wir warten immer auf den Frühling.“ (Normalbürgerin)
Swetlana Alexijewitsch notiert diesen Satz einer sogenannten Normalbürgerin der Russischen Föderation im letzten Kapitel ihres atemberaubenden Buches „Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus.“ 2015 hat Alexijewitsch, die 1948 in der Ukraine geboren und in Belarus aufgewachsen ist, den Nobelpreis für Literatur bekommen. Die Autorin lebt heute in Berlin, nachdem sie unter dem belarussischen Diktator Lukaschenko nicht mehr sicher war.
Secondhand-Zeit ist kein Roman, kein Geschichtsbuch, keine Reportage. Swetlana Alexijewitsch hat, so schrieb es auch das Nobelpreiskommitee, mit ihrer Art zu schreiben ein ganz eigenes literarisches Genre geschaffen. Zuhören ist dabei zentral:
„Wir nehmen Abschied von der der Sowjetzeit. Von unserem damaligen Leben. Ich versuche, alle Beteiligten am sozialistischen Drama, mit denen ich mich treffe, fair anzuhören …“
Alexijewitsch ist eine einfühlsame und ausdauernde Zuhörerin. Sie schafft es, auch die verstocktesten Gesprächspartner:innen, die sie seit dem Jahr 2001 getroffen hat, zum Erzählen zu bringen. Und dann gelingt ihr noch viel mehr. Sie macht aus diesen zutiefst persönlichen, schockierenden, bisweilen todtraurigen Erzählungen Weltliteratur. Man liest diesen „vielstimmigen Chor“, wie es der Osteuropa-Historiker Professor Schlögel nannte, mit heruntergeklappter Kinnlade und muss immer wieder innehalten, um das Gelesene zu verdauen.
Die russische Küche
„Die russische Küche … Die armselige Chruschtschowka-Küche – neun, wenn man Glück hatte, zwölf Quadratmeter, hinter der dünnen Wand die Toilette. Sowjetische Bauweise. Auf dem Fensterbrett Zwiebellauch in Mayonnaisegläsern, ein Blumentopf mit Aloe gegen Schnupfen. Die Küche ist bei uns nicht nur der Ort, wo gekocht wird, sie ist zugleich Esszimmer, Wohnzimmer, Arbeitszimmer und Tribüne. Ort kollektiver therapeutischer Sitzungen. Im 19. Jahrhundert entstand die ganze russische Kultur auf Adelsgütern, im 20. entstand sie in der Küche. Auch die Perestroika.“
Swetlana Alexijewitsch nimmt uns mit in diese russischen Küchen, wo ihr ihre Gesprächspartner:innen ihr Leben erzählen, ihr Herz ausschütten, schreien, fluchen, stammeln, schweigen, weinen (es wird viel geweint) und – auch gar nicht selten – trotzig ihre stalinistischen Glaubensbekenntnise entgegenschleudern. Letzeres, weil sie nicht akzeptieren wollen und können, dass alles, was sie in ihrem Leben geleistet, riskiert und gehofft haben, jetzt in ihrem „Secondhand-Leben“ keine Kopeke mehr Wert ist.
„Wehe dem, der in der UdSSR geboren wurde und in Russland leben muss.“
Freiheit als Größe der Finsternis
Wer eine Ahnung davon bekommen möchte, wie es für die Sowjetbürger:innen gewesen sein muss, nach Jahrzehnten des Terrors und der Bespitzelung, der permanenten Indokrination, aber auch einer gewissen Sicherheit auf bescheidenem materiellen Niveau, plötzlich in das Stahlbad der Freiheit geworfen zu werden, der lese dieses Buch, das mit Sätzen gespickt ist, die wahrlich beißen und stechen.
„Viele nahmen die Wahrheit auf wie einen Feind. Und auch die Freiheit.“
So heißt es im ersten Kapitel. Und einen Absatz später:
„Da ist sie – die Freiheit! Hatten wir sie uns so vorgestellt? Wir waren bereit, für unsere Ideale zu sterben. Dafür zu kämpfen. Doch dann begann ein Leben wie bei Tschechow. Ohne große Geschichte. Alle Werte zerstört, bis auf den Wert des Lebens. Des Lebens an sich. (…) Die Freiheit entpuppte sich als Rehabilitierung des Kleinbürgertums, das im russischen Leben gewöhnlich unterdrückt wurde. Als Freiheit Seiner Majestät Konsum. Als eine Größe der Finsternis.“
Ist es ein Wunder, dass viele Menschen in Russland heute Putin bewundern? Einen Mann, der ihnen mit perfiden Mitteln das Gefühl einer starken Führung zurückgibt? Und so wie es in der ehemaligen DDR eine Ostalgie gibt, getragen von einer diffusen Sehnsucht nach Überschaubarkeit und Sicherheit, so gibt es in Russland heute eine Sehnsucht nach der Sowjetunion. „Nach dem Stalin-Kult.“ Die alten Ideen, schreibt Alexijewitsch im Jahr 2013 (!), „leben wieder auf: vom großen russischen Imperium, von der eisernen Hand, vom besonderen russischen Weg.“
Hört man sich heute, im März 2022, den russischen Diktator und seine Machtclique an, dann findet sich in deren Reden exakt dieser anachronistische feuchte Männertraum von einem großrussischen Reich wieder, das mit aller Härte wiederhergestellt werden muss. Die Bomben auf Kiew und Charkiw sprechen für sich. Aber das nur am Rande. Zurück zum Buch.
Ein Höllenteppich aus Geschichten
Wie die Teppichknüpfer in der früheren, zentralasiatischen Sowjetrepublik Usbekistan knüpft die Autorin mit meisterhafter Präzision aus den Geschichten ihrer traumatisierten Gesprächspartner einen Höllenteppich, der uns beim Lesen alles abverlangt und uns dabei nicht mehr loslässt.
Zentrale Elemente der Küchengespräche mit den Studenten, den dekorierten Weltkriegssoldaten, den GULag-Häftlingen, GuLag-Aufsehern, Henkern, Opfern, Geheimdienstmitarbeitern, Obdachlosen, KPdSU-Funktionären, Großverdienern und Kreml-Insidern sind der Terror, die Gewalt, die Trostlosigkeit, die Angst und der Tod. Aber ganz erstaunlich bei all dem Elend: dazwischen gibt es immer wieder Stimmen, die noch einen Funken Hoffnung auf eine bessere oder wenigstens einigermaßen erträgliche Zukunft haben.
Während in der Sowjetzeit jene dem Untergang gewidmet waren, die es wagten, selbstständig zu denken, oder manchmal einfach nur zu falschen Zeit am falschen Ort standen, waren in der postsowjetischen Zeit nach 1991 die Menschen zum Untergang verdammt, die vorher mit jeder Faser ihres Körpers hinter den Ideen eines irrwitzigen brutalen Staates standen. Letzere nennt die Autorin den „Homo sovieticus“, den umgemodelten Menschen. Für ihn gilt:
„der Staat war ihr Universum geworden, er ersetzte ihnen alles, sogar das eigene Leben. Sie konnten sich nicht aus der großen Geschichte herauslösen, sich von ihr verabschieden und auf andere Weise glücklich werden“
Wer verstehen möchte, was der Zusammenbruch des sowjetischen Riesenreiches für die Menschen, und Alexijewitsch geht es immer um jeden einzelnen Menschen, wirklich bedeutet, sollte dieses Buch lesen. Die Autorin lässt die zu Wort kommen, die nach dem Ende der Sowjetunion mit inneren und äußeren Verletzungen auf einem trostlosen, kaputten Nebengleis gelandet sind, während die russischen Oligarchen von Putins Gnaden auf deutschen Werften gewaltige Jachten in Auftrag gegeben haben.
Wenn normales Leben zur Literatur wird
Die Autorin selbst bringt sich übrigens sehr sparsam mit erklärenden oder vertiefenden Kommentaren ein. So wie am Ende des Buches, als sie ganz kurz ihr Ziel und ihre Vorgehensweise erläutert. Es geht Alexijewitsch um diesen einen Moment des Übergangs in einem Gespräch,
„wo das normale Leben zu Literatur wird – auf diesen Moment warte ich immer, ich höre ihn in jedem Gespräch heraus, ob unter vier Augen oder in größerer Runde, aber manchmal bin ich nicht wachsam genug, dabei kann ein »Stück Literatur« überall aufblitzen, an den überraschendsten Stellen.“
NK | CK
Buchinformation
Swetlana Alexijewitsch
Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus
aus dem Russischen übersetzt und mit hilfreichen Fußnoten zum besseren Verständnis versehen von Ganna-Maria Braungardt
Hanser Berlin, Carl Hanser Verlag, 2013, 576 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-446-24150-3
Homepage von Swetlana Alexijewitsch
Spiegel-Interview mit Swetlana Alexijewitsch und Herta Müller
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Vielen Dank für diesen Buchtipp. Ich bin sofort zur Stadtbücherei hier in Überlingen geradelt und habe es ausgeliehen.
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