Es gibt Bücher, die beschäftigen einen Tage, andere Wochen. Und dann gibt es welche, die verändern den eigenen Blick aufs Leben. Man denkt beim Lesen an frühere Begegnungen, an Menschen, denen man vielleicht unrecht getan hat, weil man sich schlichtweg nicht vorstellen konnte, mit welchem Bewusstsein, mit welchem Gefühl sie durchs Leben gehen. Solch ein Buch ist Streulicht von Deniz Ohde, das im August 2020 im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Es ist kein unterhaltsamer Roman, den die 1988 in Frankfurt am Main geborene Autorin da geschrieben hat. Streulicht ist ihr erster Roman, und er fordert seine Leser, vom literarischen Anspruch wie vom Inhalt. Er zwingt zum Langsamlesen, denn Ohde schreibt unglaublich dicht und assoziativ, und vieles bleibt ungesagt – und steht doch zwischen den Zeilen.
Rückkehren
Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: die Erzählerin, eine junge Frau, kehrt an ihren Heimatort zurück, um an der Hochzeit ihrer beider Freunde aus der Kindheit und Jugend, Pikka und Sophia, teilzunehmen. Wir alle wissen, wie es sich anfühlt, zurückzukehren, in alte Muster zu verfallen, bei ihr geschieht dies schon an der Ortsschwelle:
Auch mein Gesicht verändert sich am Ortsschild, versteinert zu dem Ausdruck, dem mein Vater mir beigebracht hat und mit dem er immer noch selbst durch die Straßen geht. Eine ängstliche Teilnahmslosigkeit, die bewirken soll, dass man mich übersieht.
Diese Tarnung mittels eines ausdruckslosen Gesichts darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es mit einer äußerst sensiblen und wachsamen Beobachterin zu tun haben. Alle Sinne werden bei ihrer Rückkehr angesprochen, wie etwa die dicke Luft, die man wie Watte kauen könnte, das leise Brummen, ein weißes Rauschen, das den Ort zu jeder Zeit erfüllt und sich weich und rauh zugleich anfühlt wie ein vertrauter Deckenbezug.
Da bist du!
Mit diesen Worten des Vaters wird sie begrüßt. Ihren Namen sagt er nicht.
Orangeweißes Streulicht
Im zweiten Kapitel liegt die Hochzeit wohl schon hinter ihr, sie verabschiedet sich vom Vater und geht auf den Wegen ihrer Kindheit durch den Ort. Das Vertraute ist das Normale, und wie die Erzählerin den Industriepark beschreibt, wirkt er fast heimelig:
Bei Dunkelheit glüht der Park wie eine riesige gestrandete Untertasse, orangeweißes Streulicht erfüllt den Nachthimmel, gespeist von den Neonröhren, die jedes Stockwerk der Türme ausleuchten, und von den Markierungen der Schornsteinspitzen für den Flugverkehr, obwohl der Luftraum über dem Park gesperrt ist, denn bei einem Absturz droht eine Chemiekatastrophe.
Dieses letzte Wort „Chemiekatastrophe“ konterkariert die zunächst wahrgenommene Stimmung, immer wieder wird der Leser auf solche Alarmwörter stoßen, er wird mit der Zeit genauso wachsam werden wie die Erzählerin selbst.
Namenlos
Dann nimmt sie den Leser mit auf ihre Erinnerungsreise und lässt uns ihre Kindheit und Jugend nachleben. Nach und nach lernen wir das familiäre Umfeld, die Freunde, deren Eltern und Lehrer kennen. Die Erzählerin ist dabei fast nicht zu greifen, sie bleibt bis zum Ende namenlos. Es ist zwar von zwei Vornamen, einem offiziellen und einem heimlichen, türkischen, die Rede. Auch davon, dass die Mutter das „i“ lang ausspricht, doch genannt wird er nicht. Etwa ein erstes Zeichen dafür, wie die Erzählerin die ihr widerfahrene Teilnahmslosigkeit für sich übernommen hat?
Die Macht der Kränkung
Es ist dieses Zurücknehmen der eigenen Person, die die Erinnerungen der Erzählerin zu Erlebnissen für den Leser machen. Nicht sie ist es, die empfindet, der Leser durchlebt die vielen Kränkungen und fragt sich bald, wie viele solcher Kränkungen man aushalten kann. Ich will das an einer Szene erläutern. Die Erzählerin ist sechs, vielleicht sieben Jahre alt und befindet sich mit anderen Kindern auf dem Schulhof, als sie bei einer Feueralarmübung von einem älteren Jungen gestoßen wird:
„Von diesen Kellerkindern“, hörte ich und dann noch ein Wort, das auch mit K begann, aber ein anderes, dann ein harter Stoß in den Rücken, der näher kommende graue Asphalt, dann nichts. Dann lange, obwohl lange das falsche Wort ist, weil die Zeit aus den Angeln gehoben war, nichts.
Als ich den Kopf hob, war der Schulhof leer.
Und während der Leser noch überlegt, welches schlimme K-Wort ihm einfällt, da begreift er, dass die kleine Erzählerin ohnmächtig auf dem Asphalt des Schulhofs liegt und – dies steht nur zwischen den Zeilen und ist deshalb so hervorragend geschrieben – dass dies eine geraume Zeit einfach nicht bemerkt worden ist: Der Unterricht ist weiter gegangen, ihr Fehlen ist weder von den Mitschülern noch von der Lehrerin bemerkt worden – eigentlich eine Ungeheuerlichkeit, zumal, wenn man das Alter des Kindes vor Augen hat. Als sie schließlich gefunden und von der Schulkrankenschwester versorgt wird, erfolgt keine Anteilnahme, sondern die Bagatellisierung:
„Ein Unfall (…), nichts passiert“,
was von der Lehrerin noch gesteigert wird, weil diese suggeriert, dass die Erzählerin selbst Schuld am Geschehen trägt:
„Die Kinder rennen, ohne sich einmal umzusehen“, da müsse man noch üben, (…) und sie (…) ist ja auch etwas schmächtig.“
Auch von der Mutter, die sie abholt, erfährt sie keinen Trost, obwohl sie ihr die Situation mit dem K-Wort kurz vor dem Stoß schildert.
„Es ist ein Schimpfwort“, sagte sie. „Aber du kannst nicht gemeint sein. Du bist Deutsche.“
Dieser fehlende Widerhall, diese fehlende Einordnung des Erlebten lassen erahnen, wie verunsichert ein Kind bezüglich der eigenen Empfindungen aufwachsen kann. Und so überrascht es nicht, dass die Erzählerin wenig später feststellt:
Die eigene Stimmung war etwas Vernachlässigbares
Ein Leben im Paradox
Die Erzählerin beschreibt uns den Vater, der keinen Besuch empfängt, der niemanden grüßt, um im Gegenzug in Ruhe gelassen zu werden. Ein Mensch, bei dem das Wort Wunsch verboten ist. Er kann nichts wegschmeißen wie schon sein vom Krieg traumatisierter Vater. Aus Angst nichts zu haben, werden Unmengen an billigen Kleidungsstücken, kaputtem Krimskrams und Lebensmitteln gekauft und gehortet, eine Mischung aus Völlerei und Selbstkasteiung. Dieses Paradox begegnet der Erzählerin immer wieder und erklärt vielleicht den besonderen Erzählton: Sie urteilt nicht, sie klagt nicht an, ja sie stellt nicht mal eine Kausalität her. Sie hält sich fest an dem, was sie wahrnimmt.
Das Ausmaß an zwanghaftem Verhalten beim Vater wird in fast harmlos wirkenden Bildern festgehalten: der schmale Trampelpfad, der zum Bett des Vaters führt; die Zimmertür, die sich nicht schließen lässt. Und doch erlebt der Leser eine langsame Intensivierung, die ihn nichts Gutes ahnen lässt. So werden die Gerüche in der Wohnung intensiver: zum feuchten Putz, dem Staub, dem süßlichen Geruch der Schränke kommen der Tabak, der Geruch nach altem Schweiß, dann auch der nach ausgedünstetem Alkohol und verdorbenem Essen hinzu. Auch wird es lauter, die Eltern schreien sich an, regelmäßig wird mit Gegenständen geworfen, geht etwas zu Bruch.
Ebenso verdichten sich die Eindrücke der Verwahrlosung. Da sind zunächst die zu kurz gewordenen Kleidungsstücke, die Tiefkühlpizza zum Mittagessen, das nicht bei Tisch und deshalb auch nicht gemeinsam eingenommen werden kann, weil es auf diesem auch gar keinen Platz mehr hat. Oder die dem Kind verschlossene Wohnungstür, weil die Eltern aus Unachtsamkeit den Schlüssel von innen im Schloss stecken lassen. Und ganz allmählich verwandeln sich Teilnahmslosigkeit und Verwahrlosung in eine wachsende Gefahr, die die Erzählerin in eine ständige Alarmbereitschaft versetzt.
Die türkische Mutter verfügt über mehr Resilienz, ja sogar Freiheitsdrang, doch sie kann sich gegenüber ihrem Mann und dessen Vater nicht durchsetzen, im Gegenteil, sie muss sich selbst schützen:
… die Tür einen Spaltbreit offen lassen, damit mein Vater sich versichert sah, immer hineingehen zu können, wenn er wollte; es war die beste Vorkehrung dagegen, dass er wirklich kam.
Diese wachsame, subtile Vorsicht verbindet Mutter und Tochter, ansonsten jedoch nicht allzu viel. Die Mutter spricht Deutsch, man weiß nicht wie gut, jedenfalls spricht und versteht die Erzählerin kein Türkisch. Der vielleicht gut gemeinte Verzicht der Mutter, ihrem Kind die eigene Sprache beizubringen, um ihm eine klarere Identität zuzuweisen (Du bist Deutsche) erklärt vielleicht die zunehmende Sprachlosigkeit zwischen Mutter und Tochter. Als die Mutter entscheidet zu gehen, lässt sie die Tochter nicht nur zurück beim trinkenden, gewalttätigen Vater, sondern auch ohne Erklärung.
Die Abenteuer, die die Erzählerin mit Pikka und Sophia, ihren Freunden, erlebt, sind die seltenen, kurzen Ausbrüche aus einer trostlosen, erlebnisarmen Kindheit. Aber sie täuschen nicht darüber hinweg, dass auch hier keine Beziehungen entstehen, die das Wort Nähe verdient hätten. Die auf sich bezogene Sophia nimmt ihre Freundin nicht ernst, erniedrigt sie im Spiel mit anderen und verstärkt sogar noch deren Verunsicherung:
Das bildest du dir ein. Du nimmst die Dinge eben immer gleich persönlich.
Wie viel Einsamkeit erträgt ein Mensch?
Mit allem ist die Erzählerin allein, zu Hause, in der Schule, mit ihrer ersten Periode oder mit ihrem scheiternden Versuch, aus den Gewohnheiten ihres bedrückenden Alltags auszubrechen:
… ich war allein auf einer Insel, an die unablässig Zigarettenrauch, Unrat und stumme Trauer anbrandeten.
Und die obige Frage, wieviele Kränkungen ein Mensch aushalten kann, kann man auch so stellen: Wieviel Einsamkeit erträgt ein Mensch?
Immer wieder versucht sie sich an ihrer Umgebung zu orientieren, und doch bleibt es für sie ein Leben im Paradox zwischen dem Sei still ihrer Eltern und dem Sprich lauter in der Schule.
Gefühle werden nicht benannt, sondern durch Handlungen geschildert, wie etwa der Neid der Erzählerin auf ihre Freundin, deren Allerwelts-Namen, deren Scout-Ranzen oder deren Mutter, aus deren Verhalten ein sicheres Frausein sprach. Dadurch wird der Leser immer wieder gezwungen, die Gefühle selbst zu erleben, darunter alle Formen der Kränkung: Bloßstellungen, Erniedigungen, Demütigungen, Scham, es nimmt kein Ende. Und doch hofft man, klammert man sich an den Satz von Cansu, einer jungen Frau, die die Erzählerin auf der Abendschule kennenlernt:
Du bist noch jung, du kannst noch alles retten.
Die anschaulichen Milieubeschreibungen der etwas älteren Erzählerin lassen den Leser einen satirischen Anflug erkennen, der die verborgenen sprachlichen Fähigkeiten der Erzählerin erahnen lassen.
Natürlich ist man versucht, auf eine mögliche Parallele zwischen Autorin und Erzählerin zu hoffen. Dabei gibt es Andeutungen genug, dass, wer solch eine Kindheit und Jugend erlebt, immer droht, durchs Raster zu fallen, in den Abgrund.
Der Roman Streulicht hat alle denkbaren literarischen Preise verdient. Denn was kann Literatur mehr leisten, als dies: als Leserin oer Leser auf so hohem sprachlichen Niveau ein fremdes Leben, ein fremdes Bewusstsein, so intensiv nachzuerleben?
CK / NK
Buchinformation
Deniz Ohde
Streulicht
Fester Einband mit Schutzumschlag, 284 Seiten
Suhrkamp Verlag, 2020
ISBN: 978-3-518-42963-1