Vor ein paar Wochen bekamen wir von Freund S. ein Buch geschenkt. „Es gehe um ein einziges Gedicht und neunzehn Übersetzungen von diesem“, fügte dieser sehr belesene und kluge Mann hinzu. Ich nahm es mit zu meinem letzten Friseurbesuch; es passte, weil es schmal und klein ist, wunderbar in die Handtasche. Und der Titel „Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten“ hatte mich neugierig gemacht.
Nun ist die Friseursalon-Atmosphäre mit Scherengeklapper, lauten Haarföhnen und nicht zuletzt mit den aufgenötigten Gesprächen von rechts und links wahrlich keine ideale Atmosphäre, um sich in ein Buch, geschweige denn in ein Gedicht, zu vertiefen. Noch dazu, wenn man wie ich, sich das Buch, weil ohne Brille, im 15 cm-Abstand vor die Augen halten muss, um lesen zu können. Um es vorweg zu nehmen: ich bin zwei Stunden lang abgetaucht, so intensiv fand ich die Lektüre.
Ein Gedicht, vor 1200 Jahren geschrieben
Worum geht es? Es geht um ein sehr altes, nur vier Zeilen langes Gedicht, des chinesischen Dichters Wang Wei, einem Meister aus der Tang-Zeit, der ca. von 700–761 gelebt hat. Die Bildrolle, auf der sich das Originalgedicht befand, ging verloren, die älteste erhaltene Kopie stammt aus dem 17. Jahrhundert. Man geht davon aus, dass schon diese Kopie das ursprüngliche Gedicht verwandelt hat. Und dass sich dieses Gedicht seitdem, in vielen Übersetzungen, immer wieder neuen Verwandlungen unterzogen hat.
Damit sind wir beim Thema:
„Große Dichtung lebt im Zusammenhang beständigen Wandels, beständiger Übersetzung: Kann es nirgendwo hin, stirbt das Gedicht.“
So schreibt Eliot Weinberger, der Autor von „Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten“. Die Übersetzungen, so Weinberger, „nehmen ein eigenes Leben an und ziehen selbst ihrer Wege.“ Weinberger muss es wissen, den der US-amerikanische Schriftsteller und renommierte Essayist ist selbst Übersetzer.
Zu Beginn übersetzt uns Weinberger die vier Gedichtzeilen Zeichen für Zeichen. (Denen vorangestellt ist die Überschrift, die vage mit Hirschhain übersetzt werden kann.) Schon hier erkennt man, wie unterschiedlich Sprachen sein können:
„Ein einzelnes Zeichen kann (im Chinesischen) Substantiv, Verb und Adjektiv sein. Es kann sogar widersprüchliche Bedeutungen haben. … Für westliche Übersetzer stellt das nicht vorhandene Tempus der Verben eine besondere Hürde dar: Was im Gedicht geschieht, ist geschehen und wird geschehen. Ebenso haben Substantive keine Numerus: Rose ist eine Rose ist alle Rosen.“
Weinbergers Zeichen-für-Zeichen-Übersetzung
- Leer | Berg(e) | (negativ) | sehen | Mensch(en)
- Aber | hören | Mensch(en) | Worte / Gespräch | Klang | echoen
- Wiederkehren | Hell(igkeit) / Schatten (Sg / Pl) | eindringen | tief | Wald
- Wiederkehren / Wieder | leuchten / reflektieren | grün / blau / schwarz | Moos / Flechten | oben / auf / Spitze
Es lohnt, einen Moment innezuhalten und den Bildern, die unweigerlich im Kopf entstehen, zu folgen, vielleicht gar selbst einen Versuch zu unternehmen, diese in eigene Worte zu fassen. Es vergrößert den Genuss der weiteren Lektüre!
Die Kunst des Übersetzens
Sodann führt uns Eliot Weinberger und seine Übersetzerin aus dem Englischen, Beatrice Faßbender, durch neunzehn Übersetzungen dieses 1200 Jahre alten Gedichts, englischen, französischen, spanischen, und man ist beim Lesen dieser „neuen“ Gedichte immer wieder erstaunt, wie sehr neben der individuellen Rezeption eines Gedichts auch die jeweilige Kultur und ihre Auswirkungen auf Sprache eine Rolle bei der Übersetzung gespielt haben mögen.
Hilde Domin hat das Gedicht mal als „magischen Gebrauchsartikel“ bezeichnet, was mir sehr entgegenkommt, weil es die Hemmschwelle, sich überhaupt mit Gedichten zu befassen, herabsetzt.
In diesem wunderbaren Band wird man von Eliot Weinberger sozusagen an die Hand genommen, erfährt den ebenso interessanten wie unterschiedlichen Gebrauch eines Gedichts durch andere (Übersetzer und Dichter) und kommt so womöglich am Ende zu einem eigenen.
Anzumerken wäre noch, dass dieses Buch außergewöhnlich schön gestaltet und produziert ist, wie alle Bücher aus dem feinen Berenberg-Verlag, die bei uns im Regal stehen.
Wang Wei, mein Versuch einer Übersetzung
Menschenleer die Berge
Aber ist nicht das Echo von Stimmen zu hören?
Späte Sonnenstrahlen im Wald
lassen das Moos grün aufleuchten
CK | NK
Buchinformation
Eliot Weinberger
Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten
Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender
Mit einem Nachwort von Octavio Paz
112 Seiten · flexibler Leinenband · fadengeheftet · 125 × 188 mm
Berenberg Verlag, Herbst 2019
ISBN 978-3-946334-58-3