Postkarten: Vergnügen statt Pflicht
„Wir müssen noch die Postkarten schreiben!“ Den Satz kennen oder kannten von früher wohl die meisten von uns von Urlaubsreisen. Da heute Grüße und Bilder vorwiegend über das alldurchdringende Netz geschickt werden, bleiben noch die (Glückwunsch-)Karten zu Geburtstagen, Hochzeiten oder anderen persönlichen Anlässen. Doch auch hier schwingen viel Pflichtbewusstsein mit und eher selten Kreativität und Freude. Schade um die vertane Chance!
Postkarten schreiben kann nämlich durchaus ein Vergnügen sein. Für den Schreiber und natürlich für den Empfänger. Der Schriftsteller Jurek Becker (1937 – 1997) hat das Postkartenschreiben über viele Jahre gepflegt und es zur Kunst erhoben. Becker, dessen Roman „Jakob, der Lügner“ ein Bestseller wurde, hat das deutsche Fernsehpublikum als Drehbuchautor der Erfolgsserie „Liebling Kreuzberg“ lange Zeit exzellent unterhalten. Für seinen langjährigen Freund Manfred Krug, Hauptdarsteller dieser Serie, hat Becker großartige Szenen und Dialoge geschrieben, die Krug kongenial gespielt hat. Doch den begnadeten Postkartenschreiber Jurek Becker gilt es posthum noch zu entdecken!
am Strand von Bochum ist allerhand los
So lautet der Titel des wunderschön gestalteten und von Suhrkamp aufwendig produzierten Buchs, das Beckers Witwe Christine Becker in diesem Frühjahr veröffentlicht hat. Auf knapp 400 Seiten dürfen wir 20 Jahre von Jurek Beckers Leben auf rund 900 Postkarten verfolgen.
„Geliebte Krugs, nun kann ich auch die Niagara-Fälle abhaken. Das Bild ist Sozialistischer Realismus. Direkt unterhalb der Fälle beginnt eine 3 m dicke braune Dreckschicht, die bis zum Horizont geht. Es ist kein Quadratzentimeter Wasser zu sehen. Eine Studentin, mit der ich hier war, hat herzzerreißend geweint. Jurek“
Dies ist die erste Karte im Band, geschrieben am 15.5.1978 an Ottilie und Manfred Krug. Der DDR-Bürger Becker lebte zu dieser Zeit in West-Berlin, ausgestattet mit einem Dauervisum für zehn Jahre. Becker konnte damit unbegrenzt reisen (auch vom Westen zurück in die DDR), was für einen DDR-Bürger wohl ziemlich außergewöhnlich war.
Die Empfänger von Beckers Postkarten, deren Texte er meist schon vor Reiseantritt entworfen und in ein Schulhelft übertragen hat, waren unter anderem: seine Familie aus erster Ehe, seine zweite Frau Christine und der gemeinsame Sohn Jonathan (Johnny), die Krugs, seine Lektorin Elisabeth Borchers bei Suhrkamp und das Verlegerehepaar Unseld.
Komisch, anregend, berührend
Was er diesen Menschen, die ihm offensichtlich sehr am Herzen liegen, schreibt, ist geistreich, mal komisch, mal schräg, dabei sehr persönlich und immer berührend. Und das bei aller gebotenen Knappheit, ist doch der Platz für Text auf einer normalen Postkarten gerade mal 10 x 8 cm groß. Für Becker war das kein Hindernis, sondern beflügelnd! Mit wenigen Worten gelingt es ihm, Geschichten zu erzählen, die viel über den Menschen Becker und sein Verhältnis zu den Empfängern mitteilen. Nicht selten eröffnen die Miniaturen auch für uns Zweitleser noch Raum für Assoziationen. Und en passant wird noch die Weltgeschichte gestreift. Becker schreibt am 19.8.1991 aus Sieseby (Schleswig-Holstein) an seine Frau Christine:
„Du alte Laugenbrezel,
wenn man bedenkt, daß, seit wir uns kennen, Kuweit besetzt und wieder geräumt, Gorbi gewählt und wieder gestürzt, die Mauer verbreitert und abgerissen, Bayern München mehrmals aus dem Pokal geworfen und J.R. Ewing all sein schönes Geld los wurde (das sind nur Beispiele von vielen) – muß man da unser Verhältnis nicht beispielhaft stabil nennen?
Dein schreibender Sklave J.“
So unterhaltend geht das Seite für Seite in diesem Band, den man natürlich nicht in einem Zug durchliest, sondern häppchenweise genießt, immer mal wieder aufschlägt, reinliest, staunt, schmunzelt – nicht ohne eine gewisse Melancholie. Welch‘ – selten gewordene – Mühe, um der Bedeutung einer Beziehung im Kleinen Ausdruck zu verleihen, welch‘ Kleinode!
„Du kosmische Strahlung“
Am Postkartenschreiben hält Becker fest, auch als er unheilbar an Darmkrebs erkrankt ist – und trotzdem geht in seinen Texten bei aller Melancholie der Humor nicht verloren. Am 25.11.1996, wenige Monate vor seinem Tod, redet er seine Frau mit „Du kosmische Strahlung“ an und lässt ein sauber paargereimtes, dreistrophiges Gedicht über seine Chemotherapie folgen. Alleine die Anreden, mit denen Becker die Empfänger seiner Karten überrascht, sind ein schräger Genuss: Da wird seine Frau zum Korallenriff, Vorzugsaktie, Wackelkontakt und der Sohn zur Fahrradeisenbahn, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Die Herausgeberin Christine Becker präsentiert die Postkarten chronologisch. Auf jeder Seite sehen wir das Postkartenmotiv und die Rückseite mit dem handgeschriebenen Text. Jurek Becker hat eine gut lesbare Handschrift. Trotzdem wurden alle abgebildeten Karten genau transkribiert. Die Empfänger werden alle beim ersten Mal in Kürze erläutert. Dazu gibt es bei manchen Karten kleine Anmerkungen zu den Reiseumständen oder -gründen.
Fazit
Das Buch ist eine wunderschöne Hommage an die Postkarte und ein großes Vergnügen für alle Freunde literarischer Miniaturen. Es ist aber darüber hinaus auch Ansporn, sich wieder Mühe beim Schreiben zu geben, vielleicht um zu entdecken, dass Stil und Kreativität Ausdruck dafür sein können, wie viel einem an einer Beziehung liegt, auch und gerade, wenn man „nur“ eine Postkarte zu schreiben hat.
N.K. / C.K.
Information zum Buch
Jurek Becker
am Strand von Bochum ist allerhand los
Herausgegeben von Christine Becker
Suhrkamp Verlag Berlin, 2018
ISBN 978-3-518-42816-0
#supportyourlocalbookstore
Lieber Herr Kraas,
Ihre Empfehlung hat mich sofort überzeugt. Deshalb habe ich es eben in der örtlichen Buchhandlung bestellt und werde es nächste Woche meinem Mann zum Geburtstag schenken.
Also vielen Dank!!!
Beste Grüße vom See
Inge Simon
Lieber Norbert, auch meine Karten aus Norwegen wollen noch geschrieben werden, aber ich fürchte, jetzt kann ich aus lauter Ehrfurcht vor diesem großen Beispiel gar keine Worte mehr finden… also vielleicht unbeschrieben verschicken mit einem Hinweis auf das Buch? Herzliche Grüße aus dem Norden von Katja
Lieber Herr Kraas,
ein blendender Artikel über eine exklusive Literaturform.
Hier noch ein Link mit Hintergründen aus dem Schweizer Radioprogram SRF:
https://www.srf.ch/play/radio/kontext/audio/jurek-becker-der-postkartenschreiber?id=17bb5716-1366-4879-8496-e3db810ef4e0
Sommerliche Grüße sendet Ihnen aus Böblingen
Cornelius Wecht
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