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„In Europa“ – eine Reise durch Raum und Zeit

Die Klippen von Dover. Endet hier bald das politische Europa?

Die Klippen von Dover. Endet hier bald das politische Europa?

In knapp zwei Wochen findet die Europawahl 2019 statt. Kein Tag, an dem wir nicht mit Wahlwerbung bombardiert werden: im Radio, im Fernsehen, im Internet. Das Meiste davon kann man getrost ignorieren, so platt, einfältig, europa- oder fremdenfeindlich ist das Zeug. Wohl dem, der kluge Nachbarn und Freunde hat, die einem gute Bücher und Texte zum Thema Europa empfehlen.

Sorgenkind Europa

Vor zwei Tagen zum Beispiel hat uns unsere Nachbarin U. einen Artikel von Timothy Garton Ash aus dem Guardian mit dem Titel „Why we must not let Europe break apart“ weitergeleitet. Der britische Historiker und Schriftsteller, im übrigen ein exzellenter Kenner Deutschlands, macht sich große Sorgen um Europa, und zwar nicht nur wegen des irren Brexit-Theaters seiner Landsleute, sondern auch wegen der europafeindlichen Rechtspopulisten, die von Budapest bis Berlin, von Rom bis London, von Madrid bis Paris ihr Unwesen treiben. Mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung von Nazi-Deutschland sieht der renommierte Wissenschaftler Europa als ein einzigartiges Friedensprojekt, das wir nicht den Rechtspopulisten zur Zerstörung überlassen dürfen. Wer mag, kann den Artikel hier nachlesen.

In Europa – Eine Reise durch das 20. Jahrhundert

Unbedingt lohnenswert ist die Lektüre des Buches „In Europa — Eine Reise durch das 20. Jahrhundert“, das uns unser Freund K. empfohlen hat. Wenn Sie bis zur Europawahl nur noch Zeit für ein Buch haben, dann sollten Sie jetzt schnell in die Buchhandlung Ihres Vertrauens gehen, „In Europa“ kaufen und mit dem niederländischen Autor Geert Mak auf eine Reise durch das 20. Jahrhundert gehen.

Geert Maks Reiseroute für die Jahre 1942 bis 1944

Geert Maks Reiseroute für die Jahre 1942 bis 1944

Bitte lassen Sie sich nicht von den gut 900 Seiten abschrecken! Der Journalist und Essayist Mak (Jahrgang 1946) verfügt über ein enormes Geschichtswissen und er kann Geschichte so erzählen, dass man gar nicht mehr aufhören möchte zu lesen. Wie er das schafft? Indem er die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts mit einer Reportagereise verknüpft, die ihn im Jahr 1999 kreuz und quer durch Europa geführt hat. Mak war im Auftrag der niederländischen Tageszeitung NRC/Handelsblad unterwegs und hat während dieser Reise jeden Tag über seine Begegnungen und Erlebnisse berichtet. Mak bezeichnet seine Unternehmung im Prolog als

„eine Art abschließende Inspektion: Wie sieht der Kontinent am Ende des 20. Jahrhunderts aus? Zugleich war es auch eine Reise durch die Zeit: Ich folgte, soweit das möglich war, dem Lauf der Geschichte, auf der Suche nach den Spuren, die sie hinterlassen hatte.“

Mak sucht aber nicht nur nach den Spuren der Geschichte. Diese Reise, so schreibt er, hatte auch etwas mit ihm zu tun:

„Ich wollte raus, Grenzen überschreiten, erfahren, was dieser nebulöse Begriff Europa bedeutet. Europa, das wurde mir im Laufe dieses Jahres klar, ist ein Kontinent, auf dem man mühelos in der Zeit hin und her reisen kann. Die verschiedensten Phasen des 20. Jahrhunderts sind alle noch irgendwo existent.“

Geschichte fast hautnah

Mak baut sein Buch chronologisch auf und nimmt uns mit zu den Orten, die im Zentrum der historischen Ereignisse stehen, die er gewissermaßen als Hintergrund ausbreitet. Den Ersten Weltkrieg erleben wir in Wien, Ypern, Verdun und Versailles. Im April 1917 begleiten wir den Niederländer auf den Spuren von Wladimir Iljitsch Uljanow (Lenin) auf dem Weg vom Züricher Exil über Deutschland, Schweden, Finnland, nach Petrograd (Sankt Petersburg). Wie dieser Autor Weltgeschichte mit persönlichen Reiseerlebnissen verknüpft, ist so gekonnt, dass man bisweilen das Gefühl hat, man wäre als unsichtbarer Mitreisender dabei gewesen.

Hier an diesem Teich auf seinem Landsitz Chartwell soll er oft nachgedacht haben: Winston Churchill

Hier an diesem Teich auf seinem Landsitz Chartwell soll er oft nachgedacht haben: Winston Churchill

22 Jahre später, wir befinden uns im Jahr 1939, sind wir „Gast“ bei Winston Churchill auf seinem Landsitz Chartwell, eine Stunde südlich von London:

„Das häusliche Leben fand an zwei zentralen Orten statt: im niedrigen, intimen Speisezimmer, wo meist festlich und ausführlich zu Mittag gegessen wurde, und im großen Arbeitszimmer im Obergeschoss. Hier befand sich Churchills factory, seine Fabrik, wie er den gemütlichen Raum mit den dicken Balken, der Holzdecke, den hellen Fenstern, den Bücherschränken und dem offenen Kamin nannte, der von einem großen Gemälde seines Geburtsorts Blenheim Palace beherrscht wurde.“

Churchill war zu dieser Zeit noch nicht Premierminister, sondern einfacher Tory-Abgeordneter. Premierminister wurde er erst am 10. Mai 1940. Aber schon in der Zeit davor agierte Churchill wie ein heimlicher Premier und scharte in seiner factory in Chartwell seine Getreuen um sich. Darunter auch Harold Macmillan (englischer Premier 1957 – 1959), der Zeuge war

„als am 7. April 1939 die Meldung eintraf, dass Italien in Albanien einmarschiert war. Die Energie, die dieser Bericht freisetzte, war erstaunlich, als sei Chartwell die Regierungszentrale: Es wurde nach Landkarten verlangt, der Premierminister wurde angerufen, ein dringender Brief ging an den Marineminister, und es wurde ein Strategie entwickelt, mit der Mussolini von weiteren Aggressionen abgehalten werden sollte. »Er allein hielt alle Fäden in der Hand«, erinnerte sich Macmillan später, »während alle anderen bestürzt waren und zögerten.«“

Europa hat ihm und den Briten viel zu verdanken! Winston Churchill mit seiner Frau Clementine auf dem Landsitz Chartwell in Kent.

Europa hat ihm und den Briten viel zu verdanken! Winston Churchill mit seiner Frau Clementine auf dem Landsitz Chartwell in Kent.

Weltreich ruiniert, Europa gerettet

Das Kapitel über den Zweiten Weltkrieg und die Rolle, die Churchill darin spielte, zählt mit zum Eindrücklichsten dieses spannenden Buchs und macht deutlich, wie viel Europa und gerade wir Deutsche den Briten zu verdanken haben. Daran sollte man sich vielleicht heute noch mal erinnern, zeigt es doch auch, wie verwoben die europäische Geschichte ist. Mak lässt im Übrigen keinen Zweifel daran,

„Dass nämlich die Briten, standing alone, ihr Weltreich wirtschaftlich ruinierten, um das demokratische Europa zu retten.“

Dabei war dieser britische Einsatz im Mai 1940 noch keineswegs ausgemacht. Die Briten, so Mak, hätten Hitler „um ein Haar ein Friedensangebot gemacht, das er vermutlich angenommen hätte, und nur ein einziger Mensch hat dafür gesorgt, dass es nicht so kam: Winston Churchill.“

So reisen wir in diesem Buch durch die Geschichte: Seite um Seite, Jahr um Jahr, Ort um Ort, und es wird nie langweilig. Nach dem Zweiten Weltkrieg erleben wir den Aufstieg des Warschauer Pakts, die Niederschlagung der Aufstände in Prag, Berlin, Budapest. Wir reisen mit Mak nach Belfast und Dublin, werden Zeuge des Zusammenbruchs des Ostblocks und des Massakers von Srebrenica. Immer wieder lässt Mak an den Orten, die er besucht, Menschen aus dem jeweiligen Land zu Wort kommen. So entsteht beim Lesen ein beeindruckendes europäisches Mosaik von kurzen und längeren Portraits von Menschen, Dörfern, Städten und Regionen.

Erinnern Sie sich noch an den Abend des 9. November 1989, als Günter Schabowski seine legendäre Pressekonferenz gab? Wissen Sie, was Wladimir Putin damals gemacht hat? Nun, eben das, was lupenreine Demokraten so machen, wenn’s eng wird. Dazu Mak:

„Zur selben Zeit brachte in Dresden ein unbekannter KGB-Agent namens Wladimir Putin beim Versuch, möglichst viele Papiere auf einmal zu verbrennen, einen Ofen zur Explosion.“

Ist Europa nur ein Absatzmarkt?

Was ist Europa? Was ist seine Seele? Wohin steuert der Tanker Europa? Das sind Fragen, die Mak im letzten Kapitel thematisiert, wenn er sich auch fragt, ob die EU-Erweiterung nicht zu schnell ging: und zwar für die bestehenden und für die neuen osteuropäischen Mitglieder, für die die Verwestlichung, von der längst nicht alle Menschen profitieren, womöglich nicht nur ein Segen war. Und reicht es wirklich, wie viele dies tun, in Europa nur einen riesigen Absatzmarkt zu sehen? Nein, es reicht nicht, und es steht nicht besonders gut um Europa. Aber, schreibt Mak im Jahr 2004, fast am Ende seines Buches:

„Die Schwäche Europas, seine Vielgestaltigkeit, ist zugleich seine große Stärke. Die europäische Einigung als Friedensprozess ist ein eklatanter Erfolg. Und auch Europa als Wirtschaftsgemeinschaft ist schon ein gutes Stück vorangekommen. Aber letztlich ist das europäische Projekt zum Scheitern verurteilt, wenn nicht rasch ein gemeinsamer kultureller, politischer und vor allem demokratischer Raum entsteht. Wenn die Integration ein weitgehend unpolitischer Prozess bleibt, bei dem es im Grunde nur um den freien Markt, die gemeinsame Währung und ähnliche Fragen geht, wird die Union nicht viel mehr als eine Art Freihandelszone mit Goldrand werden.“

Auf der Suche nach der Seele Europas reist Geert Mak durch das 20. Jahrhundert

Auf der Suche nach der Seele Europas reist Geert Mak durch das 20. Jahrhundert

Vielleicht sollten sich die EU-Mitglieder (und damit auch wir), in Abwandelung eines Gedankens von John F. Kennedy gerade jetzt zur Europawahl 2019 fragen, was sie für Europa tun können und nicht immer nur darauf schielen, wie Brüssel den eigenen nationalen Interessen (z.B. der Autoindustrie) dienen kann?

In diesem Sinne: Überlassen wir Europa nicht den populistischen und nationalistischen Rattenfängern. Gehen wir wählen!

N. / C.

Information zum Buch

Geert Mak
In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert
Pantheon Verlag / Random House, 2007
ISBN: 978-3-570-55018-2

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