Schon aufgefallen?
Seit einiger Zeit schon fällt mir die zunehmende Unhöflichkeit auf, die mir als Fußgänger entgegenschlägt. Woran ich das festmache? Nein, ich werde nicht blöd angemacht. Dazu ist unser Hund, den ich meistens dabei habe, zu groß und zu schwarz. Was mir auffällt, ist, dass immer weniger Menschen ihre Zähne zu einem höflichen Gruß auseinanderbekommen. Und das liegt beileibe nicht nur daran, dass Viele mit Stöpseln im Ohr oder Beats auf den Ohren durch die Welt marschieren.
Kindness
In England, wo wir häufig Urlaub machen, nehme ich das anders wahr. Dieses Jahr zum Beispiel waren wir in der Grafschaft Suffolk, nordöstlich von London. Suffolk zählt zum konservativen Herzland von England, Brexit-Country also. Und trotzdem: von Mißtrauen und Fremdenfeindlichkeit keine Spur. Statt dessen Höflichkeit und Freundlichkeit ohne Ausnahme. Ganz egal, ob ich in aller Herrgottsfrühe andere Hundebesitzer traf oder mir abends im Pub ein Ale am Tresen holte. Es ist immer nett und entspannend, man redet über Hunde, das Bier, warum wir überhaupt in England Urlaub machen, das Wetter, und so weiter. England, sage ich zu meinen Freunden, ist für mich ein Kuraufenthalt in Sachen Freundlichkeit (kindness).
Ein anderer Klimawandel
Ich habe allerdings die Sorge, dass es auch in England mit der Freundlichkeit und dem Anstand bald nicht mehr weit her ist. Und das liegt nicht nur an der verbitterten Haltung, mit der sich Brexitbefürworter und -gegner gegenüberstehen. Mit scheint, wir haben es in England wie auch in Deutschland und anderswo mit einem neuen, folgenreichen Klimawandel zu tun. Es geht um das gesellschaftliche Klima: in unserem analogen Alltag von Angesicht und Angesicht und in der digitalen Welt, dem Internet. Womit wir bei der heutigen Buchempfehlung sind.
Anstand, was ist das?
Axel Hacke, dessen Bücher ich Euch/Ihnen hier schon mehrfach ans Herz gelegt habe, hat ein Buch über diesen anderen Klimawandel geschrieben: „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“. Gleich vorweg: es ist für mich eines der besten und wichtigsten Bücher in diesem Jahr. Ich finde, man sollte es zur Pflichtlektüre machen, an Schulen, an Stammtischen, in den sozialen Netzwerken. Warum?
Weil wir Zeuge sein dürfen, wie der Schriftsteller und Kolumnist der Süddeutschen Zeitung sich gemeinsam mit seinem Freund fragt, was das eigentlich ist, Anstand, dieses etwas angestaubt wirkende Wort. Und was denn so alles dazu gehört zum anständig sein. Und warum der Verlust selbst eines Mindestmaßes an Anstand eine Gefahr für unsere Gesellschaft darstellt. Auf knapp 200 Seiten (Hörbuch 247 Minuten) beleuchtet Hacke seinen Gegenstand von allen Seiten. Dabei lässt er sich von Philosophen, Schriftstellern, Soziologen, Historikern und Ökonomen helfen, in dem er deren Aussagen zum Thema Anstand gekonnt in seinen Text montiert, sie hinterfragt und kommentiert.
Unanständiges Bier
Ausgangspunkt von Hackes mäandrierender Gedankenreise ist ein Abend in einer Kneipe. Hacke und sein Freund bestellen ein Bier. Aber nicht irgendeines, sondern eines aus den bayrischen Bergen. Und das, so Hackes Freund, könne man eigentlich nicht mehr trinken, weil die Brauerei mit ihren Expansionsgelüsten keine Rücksicht mehr auf die Landschaft und deren Bewohner nehme. Hacke charakterisiert seinen Freund daraufhin als anständigen Kerl, der offensichtlich konsequent nach seinen Überzeugungen zu handeln versucht.
Wir kennen das alle, oder? Diese innere Sittenpolizei, die uns abrät von diesem oder jenem Produkt, weil bei dessen Herstellung weder Umwelt- noch Arbeitsschutzstandards in dem Maße eingehalten werden, wie wir es hier gerne hätten. Und dann kaufen wir es doch, das neueste Smartphone, das irgendwo in China für einen lächerlichen Lohn zusammengeschraubt wird. Warum? „Kein Mensch“, schreibt Hacke, „ist immer auf der Höhe seiner eigenen Leitlinien, ich schon gar nicht.“ Das ist tröstlich, gleich zu Anfang dieses Buchs.
„Ozean der Anstandslosigkeit“
Ein paar Sätze weiter unten wirft uns Hacke dann in den „Ozean der Anstandslosigkeit“, der auf der Welt tobe. Axel Hacke unterfüttert diese Feststellung mit zahlreichen anschaulichen Beispielen, in denen sich eine zum Teil geradezu ekelhafte Anstandslosigkeit Bahn gebrochen hat. Wir lesen – natürlich – vom egozentrischen Elefanten im Weißen Haus oder von den Pegida-Demonstranten, die auf ostdeutschen Marktplätzen mit Holzgalgen gegen Angela Merkel und Sigmar Gabriel demonstriert haben. Vor ein paar Tagen hat übrigens ein Gericht in Chemnitz den Verkauf dieser Galgen als Politsouvenir erlaubt; war in der SZ zu lesen. Das nur als kleine Ergänzung. Unfassbar, oder?
Zu diesen Anstandlosigkeiten und Widerwärtigkeiten, die es in die Schlagzeilen schaffen, kommt die zunehmende Verrohung, die wir alle im privaten Umfeld täglich erleben. Sei es im Auto, wenn uns einer den Mittelfinger zeigt, weil wir nicht schnell genug abbiegen, sei es in den sozialen Netzwerken, wo der verbale Müll in Form von Herabwürdigungen und gröbsten Beleidigungen tonnenweise jeden Tag ausgekippt wird.
Hacke dazu: „Gewiss, man kann nicht alles in einen Topf werfen, Rohlinge aller Art hat es schon immer gegeben und wird es auch immer geben. Aber es ist doch im Moment so, dass jeder eine solche Geschichte zu erzählen hat, oder? Und es könnten am Ende zu viele Geschichten von dieser Sorte sein, nicht wahr? Und die Frage wäre: Warum brechen sich derartige Dinge Bahn in einer reichen Gesellschaft wie unserer?“
Zu viel Ich statt Wir
Es sind wichtige Fragen, die sich Hacke stellt. Warum gibt es so viel Widerwärtiges um uns herum? Und warum bei uns? Warum schämt sich der Mann im Erzgebirge, der die geschmacklosen Souvenir-Galgen anbietet, nicht in Grund und Boden? Warum sagt ihm niemand von seinen Freunden (das Gericht in Chemnitz konnte es offensichtlich nicht), dass man so etwas nicht tut? Hängt es damit zusammen, wie Hacke vermutet, dass wir uns immer mehr in die Sicherheit der eigenen sozialen Schicht zurückziehen, dass wir uns immer mehr in „der Arbeit an der eigenen Performance“ verlieren. Zu viel Ich statt Wir. „Wir basteln immerzu am Ego und viel zu selten am Wir“, schreibt Hacke. Womit wir wieder beim Internet und den sozialen Netzwerken wären. Die Selbstdarstellung ist dort für viele Menschen das A und O, Likes und Sternchen werden benötigt wie Luft zum Leben.
Mit einer derart selbstbezogenen Haltung kommen wir als Gesellschaft aber nicht weiter. Daran dürfte auch Facebook-Gründer Mark Zuckerberg keinen Zweifel haben; und der Mann verdient viel Geld damit, dass möglichst viel gepostet wird, auch wenn’s der größte Dreck ist. Wenn unser Leben nur noch aus „Ich“ und nicht mehr aus „Wir“ besteht, wenn jeder meint, alles drehe sich ihn, und er könne auf Anstand und Höflichkeit pfeifen, dann geht unsere Gesellschaft den Bach runter. Das ist besorgniserregend. Aber Hacke will das nicht hinnehmen:
„Wir haben in vieler Hinsicht das Gefühl dafür verloren, was es bedeutet, eine Gesellschaft zu sein, zusammenzugehören, sich auseinanderzusetzen, wir haben so oft kein Ideal mehr davon, was es bedeutet, ein Bürger zu sein, wir sind getrieben von der technischen Entwicklung, von der Nötigung zur ständigen Selbstdarstellung, von diffusen Ängsten, die wir uns einerseits nicht eingestehen oder andererseits total übertreiben.“
So geht das Seite um Seite, und es wird nie langatmig, nie langweilig mit diesem Buch. Im Gegenteil! Axel Hacke bringt zahlreiche Beispiele, führt gescheite Geister (von Marc Aurel bis David Foster Wallace) ins Feld, überrascht uns immer wieder mit seinen eigenen klugen Gedanken und ist dabei niemals überheblich oder gar moralapostelig. Der Autor weiß um die eigenen Unzulänglichkeiten. Das macht dieses Buch sympathisch. Hacke schreibt als ehrlich besorgter Bürger.
„Essenz des Menschen“
Aber was ist das jetzt der Anstand, ohne den eine Gesellschaft nicht mehr funktionieren kann? Als Kronzeugen führt Axel Hacke den Arzt Rieux aus Albert Camus‘ großem Roman „Die Pest“ ins Feld. Rieux kämpft den aussichtslosen Kampf gegen die Seuche in seiner Stadt weiter, allen Widrigkeiten zum Trotz.
„Er tut das, weil ihn das Leid anderer nicht kaltlässt, es berührt ihn, weil er mitleidet, weil er eine grundsätzliche Solidarität mit anderen Menschen empfindet – und diese Art von Solidarität ist es wohl, die wir mit dem Begriff, um den es hier geht, verbinden sollten: ein Empfinden dafür, dass wir alle das Leben teilen, ein Gefühl, das für die großen Fragen des Lebens ganz genauso gilt wie für die kleinen, alltäglichen Situationen. Es geht, wenn wir vom Anstand reden, um die Essenz des Menschen, um das Zusammenleben als Einzelner mit anderen – und dieses Zusammenleben bedeutet nicht, gegen andere anzukämpfen, sondern etwas für sie zu tun“, so Hacke.
Das hat mich berührt!
Ja, ich weiß, da schwingt Pathos mit, aber ist das schlecht? Nein! Mir ist dieses Pathos jedenfalls tausendmal lieber als das falsche, auf Ausgrenzung bedachte Pathos völkisch gesinnter Schwadroneure, die einen Holzgalgen aus dem Erzgebirge an den Weihnachtsbaum hängen und dann von christlicher Nächstenliebe faseln.
Apropos Weihnachten: Dieses schön aufgemachte Buch ist ein inspirierendes Weihnachtsgeschenk – an sich selber oder an gute Freunde.
Informationen zum Buch
Axel Hacke: Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen, 192 Seiten, Verlag Antje Kunstmann, München, 2017. 18,00 Euro, ISBN: 978-3-95614-200-0.
Als Hörbuch, 4 CDs, 247 Minuten,16,95 Euro, ISBN: 978-3-95614-212-3.
Erhältlich in jeder guten lokalen Buchhandlung, wo man von Menschen beraten wird und nicht von Algorithmen. In Tübingen zum Beispiel bei Quichotte und bei Wekenmann. Das Hörbuch wurde mir freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt. Axel Hacke liest selbst: ein Hörgenuss!
#SupportYourLocalBookstore
In Zeiten rapide abnehmender Sicherheit im öffentlichen Raum ist fehlender Anstand für viele Menschen eher ein Luxusproblem. Aber sonst, wo er Recht hat, hat er Recht.
Danke für die Empfehlung, scheint wirklich ein interessantes Buch zu sein. Werde ich lesen…..