Genug von den Weltkriegen!?
Meinen wir wirklich, mehr als 70 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, jetzt genügend Filme gesehen, genügend Bücher gelesen zu haben für die Aufarbeitung dieser furchtbaren Katastrophe? Hängt uns das Thema Zweiter Weltkrieg und Nazizeit gar zum Hals heraus? Wenn ein Mitglied des Deutschen Bundestags in einer Rede die Nazizeit (und damit auch den Zweiten Weltkrieg) als „Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ bezeichnet, so scheinen weitere Arbeiten, weshalb es zu zwei schnell aufeinanderfolgenden Weltkriegen kommen konnte, nicht mehr gefragt. Immer häufiger darf rechtes, geschichtsverfälschendes Gedankengut hinausposaunt werden – ohne Konsquenzen. Ein Indiz, dass es mit dem Geschichtsgbewusstein in unserer Gesellschaft bergab geht? Und entsteht gerade nicht der Eindruck, dass sich immer mehr Menschen von der deutschen Pflichtaufgabe eines geschichtsbewussten Erinnerns am liebsten abwenden würden? Dabei wäre diese Erinnerungsarbeit gerade jetzt, wo Europa sich im Dauer-Krisenmodus befindet, wichtiger denn je.
Krieg, Gewalt und ihre Folgen
„Die Erbschaft der Gewalt: Über nahe und ferne Folgen des Krieges“ heißt das neue Buch von Kurt Oesterle. In acht klugen, lehrreichen und gut lesbaren Aufsätzen geht der in Tübingen lebende Autor der Frage nach, wie lange Kriege nachwirken, und zwar mental, im Geist wie in der Psyche. Obwohl hinlänglich bekannt ist, dass das Vermächtnis des Ersten Weltkriegs den Nährboden für den Zweiten Weltkrieg bildete, erstaunt den Autor, wie dieser Erste Weltkrieg „hinter den noch düstereren Horizonten von Hitlerkrieg und Holocaust beinahe unsichtbar geworden“ ist. Daher untersucht er in ganz unterschiedlichen Ansätzen, wie das Trauma der Überlebenden des Ersten Weltkriegs – und zwar explizit nicht nur das der deutschen Kriegsteilnehmer – nachfolgende Generationen geprägt hat.
Ohne jemals thesenhaft oder belehrend zu wirken, arbeitet Oesterle, der selbst Literatur, Geschichte und Philosophie studiert hat, heraus, was von der Traumaforschung bestätigt wird: dass das Trauma immer weiter fortwirkt, wenn es nicht aufgearbeitet wird. Die zum Teil sehr persönlichen Erzählungen ergänzt Oesterle um wissenschaftliche Erkenntnisse. Das liest sich lehrreich und erschütternd zugleich: Allein für Deutschland veranschlagt man 600 000 auf unterschiedlichste Weise traumatisierte Soldaten des Ersten Weltkriegs. Enorm wichtig für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen sind die Folgen dieser Traumen:
„Längst geht man davon aus, dass Traumatisierungen hochansteckend sind und sich durch Wort und Bild leicht in andere hineinsenken lassen, auch transgenerational.“
Den Begriff Trauma möchte der Autor übrigens keinesfalls als Entschuldigung verstanden wissen. Er schreibt:
„Trauma heißt heute fast immer reduzierte Verantwortung und moralisch eingeschränkte Zurechnungsfähigkeit. Für mich hingegen ist das Trauma vor allem eine Kategorie, um Täterschaft zu definieren, denn nichts schreibt Gewaltbereitschaft von Generation zu Generation leichter und eindringlicher fort als das Trauma, und zwar in jener aggressiv politisierten Form, die in Deutschland nach 1918 verheerend war.“
Britische Dichter in der Schlacht an der Somme
In „Erbschaft der Gewalt“ finden sich bekanntere, aber auch völlig neue Perspektiven zum Erbe der Gewalt: So befasst sich Oesterle fundiert und intensiv mit der britischen Kriegserfahrung an der Somme-Front. Eine Erfahrung, die in Deutschland von einer breiteren Öffentlichkeit bis dato nicht wahrgenommen wurde. Die Gedichte der britischen „War Poets“, darunter hier zum Teil fast gänzlich unbekannte Dichter wie Harry Patch, Charles Sorley, Robert Graves, Wilfred Owen oder Siegfried Sassoon, um nur ein paar zu nennen, gehen unter die Haut – auch noch nach 100 Jahren. Exemplarisch sei hier das von Joachim Utz übersetzte Gedicht von Wilfred Owen „Strange Meeting“ zitiert, in dem sich ein deutscher und britischer Soldat im Massengrab treffen. Es bleibt offen, wer von beiden spricht:
„Ich bin der Feind, den du erschlugst, mein Freund.
Im Dunkeln gar erkenn’ ich dich: So hat dein Haß
durch mich hindurchgestiert, gestern, beim Todesstoß.
Ich wehrte mich, doch meine Hände waren kalt und willenlos.
Laß uns jetzt schlafen …“
Europäischer als die Brexit-Briten
Erstaunlich für Oesterle (und den Leser) ist das Verständnis, ja Mitgefühl, das die englischen Dichter-Soldaten für ihre deutschen Feinde hatten. Diese saßen ja meist in Sichtweite in ihren Gräben: im gleichen Dreck und mussten auch Hunger, Kälte, Hitze, Läuse und Ratten aushalten. Wie die deutschen Frontkämpfer litten auch die War Poets unter ihren Kriegstraumen, jahrzehntelang zum Teil:
„Zehn Jahre hat es laut Graves gedauert, bis sich sein Blut erholte. Oder seine Psyche – zehn Jahre bis der Körper, die Nerven, das Unbewußte alle Eindrücke des Krieges an das bewußt zugängliche Gedächtnis weitergaben.“
Die meisten im Buch zitierten Gedichte hat Oesterle selbst übersetzt, weil sie – bedauerlicherweise – bisher nicht übersetzt sind. Hier gibt es Lyriker zu entdecken! Der überzeugte Europäer Oesterle kommt am Ende dieses Essays zu einer beeindruckenden Erkenntnis mit überraschend aktuellem Bezug: Diese mit einem politischen Verstand gesegneten britischen Dichtersoldaten, die zu so vielen ihr Leben geopfert haben,
„waren um ein Vielfaches europäischer als die heutigen Brexit-Briten! Und, vielleicht ohne es damals noch ganz begriffen zu haben, Vorkämpfer eines Europa von gleichberechtigten Nationen. Dieses Europa wäre mit den Deutschen des Ersten Weltkriegs nicht zu machen gewesen! Denn die Deutschen strebten nach einem Europa unter ihrer Hegemonie; noch ein zweiter, weit furchtbarerer Krieg sollte nötig sein, sie – vorläufig endgültig – von diesem Streben abzubringen, bis sie sich mit einer Rolle als Nation unter anderen Nationen zufrieden gaben: der ersten und wichtigsten Voraussetzung einer europäischen Gemeinschaft, die lebenswert ist.“
Damit benennt Oesterle nicht nur die Opfer, die für Europa erbracht wurden, sondern vielleicht auch ein zentrales Problem, an dem Europa nach wie vor nagt: Jedes Land denkt am liebsten nur an sich.
Das Einzelschicksal im Fokus
Mit der eigenen Familiengeschichte befasst sich Oesterle gleich zu Anfang. Nach dem nicht hinreichend verarbeiteten Trauma des Großvaters macht die geschichtsverfälschende Propaganda der Nazis auf diesen Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs keinen Eindruck mehr. Er kann jedoch nicht verhindern, dass seine beiden Söhne mit großer Begeisterung für Hitler und seine Schergen in den Zweiten Weltkrieg ziehen. Der eine Sohn wird nicht zurückkehren, der andere, Oesterles Vater, erst spät seinen Fanatismus erkennen und bitter bereuen.
Im zweiten Essay beschreibt Oesterle, warum die Schlacht um Verdun und ihre Folgen auf keinen Fall in Vergessenheit geraten darf. Er befasst sich ausführlich mit dem Schlachtverlauf und dem Umgang mit der Erinnerung an diese größte Schlacht des Ersten Weltkriegs. Für diesen klugen Autor ist klar, „daß der Gesamtkomplex »Verdun« sehr viel Anschauungsmaterial zum Thema Zivilisationsgefährdung enthält“. Oesterle lässt dabei neben französischen Denkern auch den deutschen Frontsoldaten und Schriftsteller Arnold Zweig zu Wort kommen und empfiehlt dessen Roman „Erziehung von Verdun“ ausdrücklich als Reisebegleiter nach Verdun.Sensibles Sprachgefühl
Auch in den anderen fünf Essays zieht Oesterle den Leser mit seiner sprachlichen Erzählkraft sehr rasch in den Bann. Ob er nun die „heimliche deutsche Hymne“, nämlich das volkstümliche Kriegslied „Der gute Kamerad“ beleuchtet oder an sehr persönlichen Porträts wie jenem von Gregor Dorfmeister, dem Autor des Romans „Die Brücke“, deutlich macht, wie schwierig die Bewältigung unaussprechlicher Erlebnisse sein kann. Sehr bewegend ist auch das Bild, das Oesterle auf gerade mal fünf Seiten von Lothar Pfeiffer zeichnet. Pfeiffer war Wehrmachtssoldat, der sich 1942 vor Kiew weigerte, russische Frauen und Kinder zu erschießen: er schoss in den Boden und riskierte sein eigenes Leben. Noch Jahre nach dem Krieg war er so traumatisiert, dass er nicht darüber sprechen konnte.
Für Tübinger, die historisch interessiert sind, ist dieses Buch geradezu ein Muss. Denn im letzten Aufsatz geht Oesterle dem Schicksal von Soldaten aus Lustnau nach, einem Teilort von Tübingen. Mit diesen führt er den Leser noch einmal an die Fronten des Ersten Weltkriegs und bettet auf sehr nachdrückliche, berührende Weise lokale Geschichte ins Weltgeschehen ein.
Das Buch überzeugt: der Autor präsentiert genau recherchierte Fakten mit sensiblem Sprachgefühl und einer erzählerischen Lebendigkeit, die gerade bei historischen Stoffen keine Selbstverständlichkeit ist. Nach der Lektüre wird es wohl kaum jemanden geben, der nicht davon überzeugt ist, dass wir uns weiter mit der Kriegsgewalt und ihren Folgen zu beschäftigen haben. Sie gehört, so Oestele, immer wieder „kommuniziert, sprich: in irgendeiner Form weitererzählt und von einem zuhörenden anderen mit Anteilnahme aufgenommen und lebhaft widergespiegelt“.
Diesem Buch sind viele Leserinnen und Leser zu wünschen. Und es bleibt zu hoffen, dass es Oesterles Buch in naher Zukunft auch in französischer und englischer Sprache geben wird. „Die Erbschaft der Gewalt“ leistet einen wichtigen Beitrag zur Völkerverständigung.
Informationen zum Buch
Kurt Oesterle
Die Erbschaft der Gewalt. Über nahe und ferne Folgen des Krieges
Klöpfer und Meyer Verlag, Tübingen, 2018
204 Seiten, Hardcover mit Lesebändchen
ISBN: 978-3-86351-469-3
Wer sich über den Autor informieren möchte, kann dies auf seiner Homepage hier tun. Und, liebe Lehrerinnen und Lehrer, Kurt Oesterle liest auch an Schulen.
N.K, C.K.
Danke für diesen wichtigen Beitrag!
Liebe Grüße, Ava
…dem kann ich mich nur anschließen – nach der unfassbaren Gauland-Ungeheuerlichkeit erst recht…
Herzliche Grüße von Conny Reese
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