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„Nie werde ich das vergessen“ – Elie Wiesel: Die Nacht

Wachturm im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof im Elsass

Wachturm im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof im Elsass

Antisemitismus 1938

Vor 81 Jahren fanden im gesamten Deutschen Reich auf Anordnung Hitlers Aktionen gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger statt. Der Pole jüdischen Glaubens Herschel Grynszpan hatte am 7. November 1938 den deutschen Diplomaten Ernst Eduard vom Rath angeschossen, der einen Tag später starb. In den Novemberpogromen, die in der sogenannten Reichskristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938 ihren Höhepunkt hatten, wurden jüdische Geschäfte, Einrichtungen und Synagogen geplündert und zerstört. An den gewalttägigen Ausschreitungen beteiligten sich, neben den Nazi-Schergen der SA, auch ganz normale Passanten. 800 Juden wurden zwischen dem 7. und 13. November 1938 ermordet, allein 400 in der Nacht vom 9. auf den 10. November. Es wurden Synagogen, Betstuben, Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe zerstört, zum Beispiel auch in Baisingen im Landkreis Tübingen. 30.000 Juden wurden allein nach dem 10. November 1938 in Konzentrationslager verbracht. (Quelle: Wikipedia)

Antisemitismus 2019

Vor wenigen Tagen hat der Jüdische Weltkongress eine Studie veröffentlicht, nach der jeder vierte Deutsche antisemitisch denkt, so berichtete es unter anderem die Süddeutsche Zeitung. Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagte im Interview: „Antisemitismus war in bürgerlichen Kreisen in Deutschland immer vorhanden. Doch heute äußern sich die Menschen offener.“ Klein beklagt die Verrohung und die Ausbreitung von Hass im Internet. Meines Erachtens breitet sich die Verrohung aber nicht nur im Internet wie ein ekliger Virus aus, sondern auch in unseren Parlamenten, zu sehen etwa dann, wenn Politiker die Nazizeit als Vogelschiss in der deutschen Geschichte bezeichnen oder die Entsorgung einer Politikerin nach Anatolien empfehlen.

Nie vergessen

Vor ein paar Monaten habe ich gelesen, dass französische Schüler in Südfrankeich, die sich antisemitisch geäußert oder gar jüdische Friedhöfe geschändet hatten, zur Teilnahme an Workshops gegen Antisemitismus verpflichtet wurden. Im Zuge dessen wurde auch ausführlich über den Holocaust und das System der Konzentrationslager informiert, auch mittels Lager-Besichtigungen. Finde ich sehr gut! Ob es hilft? Der Artikel hat zumindest den Eindruck vermittelt.

Eingang zum Konzentrationslager Natzweiler-Struthof im Elsass

Ich habe im Frühjahr mit unserem Sohn das ehemalige Konzentrationslager Natzweiler-Struthof im Elsass besucht. Dieses Lager galt von 1941 bis 1945 als eines der brutalsten Arbeitslager des Naziregimes.  70 Außenlager von Natzweiler-Struthof gab es, darunter auch etliche auch in Baden-Württemberg. Natürlich kann ein solcher Besuch nicht einmal annähernd das Grauen widergeben, das die Häfltinge dort erleiden mussten, eindrücklich und bedruckend ist es trotzdem. Ein pädagogisch begleiteter KZ-Besuch sollte Pflicht an weiterführenden Schulen sein. Wir haben jedenfalls beobachtet, dass selbst anfänglich kichernde Schulklassen nach einer Weile dort sehr ruhig wurden.

Krematorium Gedenkstätte Konzentrionslager Natzweiler-Struthof

Krematorium Gedenkstätte Konzentrionslager Natzweiler-Struthof

Elie Wiesel: Die Nacht

Es gibt viele Bücher zum Holocaust, eines der eindrücklichsten ist für mich Die Nacht von Elie Wiesel (1928 – 2016). Auf knapp 160 Seiten schildert der spätere Friedensnobelpreisträger seine Erlebnisse als streng gläubiges Kind einer jüdischen Gemeinde zwischen 1941 und 1945: die von den Juden nicht für möglich gehaltene Deportation aus dem Geburtsort Sighet in Siebenbürgen; die Ankunft in Auschwitz-Birkenau, wo Mutter und Schwestern sofort ermordet werden; die gemeinsame Zwangsarbeit mit dem Vater im Lager Ausschwitz III (Arbeitslager Monowitz / Buna); den Todesmarsch im Januar 1945 ins Konzentrationslager Buchenwald, wo Wiesel erleben muss, wie sein schwer kranker Vater Schlomo in der Pritsche unter ihm von einem SS-Mann erschlagen wird. Wenige Wochen später werden Wiesel und seine Mitgefangenen im Lager Buchenwald zuerst von einer Widerstandsgruppe befreit und dann am 10. April 1945 endgültig von den Amerikaners gerettet.

„Männer links raus! Frauen rechts raus!“ Vier Worte, ruhig und gleichgültig gesprochen, unbewegt. Vier schlichte, kurze Worte. Für mich zwar der Augenblick, in dem ich meine Mutter verlassen musste. Ich fand keine Zeit, nachzudenken, als ich schon den Druck der Hand meines Vaters fühlte: wir waren allein, getrennt. Den Bruchteil einer Sekunde lang konnte ich meine Mutter und meine Schwestern nach rechts raustreten sehn. Tsipora hielt Mamas Hand. Ich sah, wie sie sich entfernten. Meine Mutter streichelte die blonden Haare meiner Schwester, wie um sie zu beschützen. Ich ging mit meinem Vater, mit den Männern weiter. Ich wusste nicht, dass ich an dieser Stelle, in diesem Augenblick, Mutter und Tsipora für immer verließ.

So beschreibt Wiesel die Selektion an der Rampe im Mai 1944 nach der Ankunft der Familie in Auschwitz. Wenige Augenblicke später steht der 15-jährige dem KZ-Arzt Mengele persönlich gegenüber: „jener berühmte Dr. Mengele – ein typischer SS-Offizier, grausame Gesichszüge, aber nicht ohne Klugheit, Monokel im Auge, einen Taktstock in der Hand – im Kreise anderer Offiziere. Das Stöckchen bewegte sich ohne Unterlass, bald nach rechts, bald nach links.“

Elie Wiesel: Die Nacht - Erinnerung und Zeugnis, Herder Verlag FreiburgElie Wiesel ist das einzige Mitglied seiner Famile, das überlebt. Zur Niederschrift seiner Erlebnisse wird er ermutigt durch die Begegnung mit dem französischen Literaturnobelpreisträger François Mauriac im Jahr 1954. Mauriac schildert Wiesel, damals Journalist für eine israelische Zeitung, dass er nie den Anblick der jüdischen Kinder vergessen könne, die im August 1941 den Pariser Bahnhof Austerlitz in Richtung Deutschland verließen. Worauf ihm der junge Journalist Wiesel entgegnete: „Ich bin eines von ihnen“. Sein Buch „La Nuit“ erschien erstmals 1958.

Wiesel schildert seine Höllen-Odyssee durch drei Nazi-Lager in einer knappen, einfachen Sprache. Da ist kein Wort zu viel. Man liest dieses schmale Buch mit angehaltenem Atem und der Gewissheit, das man nicht aushalten würde, was Wiesel und Millionen anderer in den Konzentrationslagern der Nazis erleiden mussten.

Niemals werde ich diese Nacht vergessen, die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben einen siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat.
Nie werde ich diesen Rauch vergessen.
Nie werde ich die kleinen Gesichter der Kinder vergessen, deren Körper vor meinen Augen als Spiralen zum blauen Himmel aufstiegen.
Nie werde ich die Flammen vergessen, die Meinen Glauben für immer verzehrten.
Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich in alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat.
Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die Meinen Gott und meine Seele mordeten, und meine Träume, die das Antlitz der Wüste nahmen.
Nie werde ich das vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben. Nie.

Wer dieses Buch gelesen hat, wird es nicht vergessen. Es sollte Schullektüre sein.

N.K. | C.K.

Buchinformation

Elie Wiesel
Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis
Vorwort von François Mauriac
aus dem Französischen von Curt Meyer-Clason
ISBN 978-3-451-06014-4
Herder Verlag Freiburg, Neuausgabe 2008

Weiterführende Links

Lesenswerter Nachruf auf Elie Wiesel des Herder-Verlags, in dem es auch um die Frage geht, wo Gott war.

Rede von Elie Wiesel im Deutschen Bundestag am 27.1.2000

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