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Vom Verrinnen der Zeit

Mit dem Verrinnen der Zeit geht meist das Verblassen der Erinnerungen einher. Foto: Norbert Kraas

Mit dem Verrinnen der Zeit geht meist das Verblassen der Erinnerungen einher. Foto: Norbert Kraas

Von der Erinnerung

„Doch wenn von einer weit zurückliegenden Vergangenheit nichts mehr exisitiert, nach dem Tod der Menschen und dem Untergang der Dinge, dann verharren als einzige, zarter, aber dauerhafter, substanzloser, beständiger und treuer der Geruch und der Geschmack, um sich wie Seelen noch lange zu erinnern, um zu warten, zu hoffen, um über den Trümmern alles übrigen auf ihrem beinahe unfaßbaren Tröpfchen, ohne nachzugeben, das unermeßliche Gebäude der Erinnerung zu tragen.“

Diese Gedanken über die Vergangenheit, die Vergänglichkeit und die Erinnerung legt Marcel Proust dem Ich-Erzähler seiner „Recherche“ ziemlich am Anfang des ersten Bands des Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ in den Mund. Ein paar Abschnitte zuvor lesen wir in der berühmten „Madeleine-Episode“, wie ein kleines Gebäckstück, das der Erzähler in seinen Lindenblütentee taucht, eine ganze Kaskade von Erinnerungen auslöst.

Solche Madeleine-Momente kennen wir alle. Ausgelöst durch einen vergessen geglaubten Geruch oder Geschmack. Das können die Abgase eines Zweitaktmopeds sein, die einen blitzschnell in die eigene Jugend zurückversetzen, oder der besondere Duft eines Gartenschuppens, wo es nach Rasenmäher, Gras, Werkzeug, Öl und Holz riecht, und wo man plötzlich das Gefühl hat, der Opa, dem der Schuppen gehört hat, müsste jeden Moment zur Tür reinkommen.

Was aber, wenn es selbst diese Madeleine-Momente nicht mehr gibt? Wenn die Erinnerungen mit dem Verrinnen der Zeit immer schwächer werden und schließlich ganz verschwinden? Und was, wenn dieser Vorgang des Verrinnens und Vergessens durch eine tückische Demenzerkrankung beschleunigt wird? Was bleibt dann noch?

Vom Verrinnen

Mit dem Thema Verrinnen und Zeit beschäftigt sich aktuell eine sehenswerte Ausstellung im Kunstmuseum Reutlingen | konkret, die wir sehr empfehlen können. „Vom Verrinnen. Zeitkonzepte der Gegenwart“ heißt die Schau, die noch bis zum 28. August 2022 in den Wandelhallen des Kunstmuseums zu sehen ist. Informationen hier.

Gezeigt werden Arbeiten von 13 internationalen Künstlerinnen und Künstlern, die sich intensiv und auf verschiedene Art mit dem Phänomen Zeit und ihrer Wahrnehmung auseinandergesetzt haben.

Besonders beeindruckend, vielleicht auch weil es einen an die eigene Kindheit und Jugend, die Großeltern und die Eltern erinnert, ist die Rauminstallation „Komm’ Heinz, wir gehen“ des Künstlers Timo Klos. Klos, Jahrgang 1983, hat zwei Wände im rechten Winkel gestellt und diese mit einer altmodischen Mustertapete aus den 1950ern oder 1960ern tapeziert. An diese beiden Wände hat er Fotografien in alten Rahmen in unterschiedlicher Größe gehängt. Klos schreibt dazu:

„Die Motive könnten alle aus dem Familienalbum eines verstorbenen Ehepaares stammen und zeigen, wie dieses auf ganz unterschiedliche Weise aus den Bildern verschwindet. Die Foto­grafien scheinen den Moment nicht festhalten zu können“

„Komm’ Heinz, wir gehen“ (Timo Klos), Ausstellungsdetail. Foto: Norbert Kraas

„Komm’ Heinz, wir gehen“ (Timo Klos), Ausstellungsdetail. Foto: Norbert Kraas

Die Fotos in den Bilderrahmen sind handwerklich bewusst nicht perfekt. Sie sind unscharf, über-, unter- oder mehrfach belichtet. Der ausgebleichte, verschwommene Effekt gibt dem Leben etwas Vages. Die Individualität des Menschen löst sich auf. Der Moment, das Abgelichtete, scheint flüchtig; die Arbeiten konterkarieren die eigentliche Intention des Fotografierens, nämlich den Augenblick festzuhalten. Nichts lässt sich auf ewig festhalten.

Was sieht ein Demenzkranker?

Während unseres Besuchs in der Ausstellung fragte ich mich, ob diese Aufnahmen wohl den Bildern im Gedächtnis meiner demenzkranken Mutter ähneln. Mal erkennt sie mich, mal sieht sie andere Personen in mir, mal vergisst sie während eines Besuchs ganz, dass ich da bin. Offensichtlich (und schmerzhaft für mich) verinnt mit der Zeit und dem Fortschreiten der Krankheit ganz langsam die Erinnerung an Personen, Ereignisse, Erlebnisse. Zuerst verschwindet das unmittelbar, ganz frisch Erlebte und nach und nach auch frühere Geschehnisse. Bleicht die Erinnerung schließlich so aus, dass man nur noch helle weiße Flecke hat? Wer öfter mit Menschen zu tun hat, die an Demenz erkrankt sind, kann diesen Eindruck durchaus gewinnen. Ob der Künstler bei der Konzeption an die Krankheit Demenz gedacht hat, die allein in Deutschland 900 Mal pro Tag diagnostiziert wird?

Endlich

Ausstellungsdetail aus der Serie „Good Old Germany“ des Künstlers Gosbert Gottmann. Foto: Norbert Kraas

Aus der Serie „Good Old Germany“ des Künstlers Gosbert Gottmann. Foto: Norbert Kraas

Mit dem Verrrinnen der Zeit werden wir älter, und mit dem Älterwerden zwickt es nicht nur überall, sondern auch unsere Handschrift wird undeutlicher und schlechter lesbar. Gosbert Gottmann, geboren 1955 im Schwarzwald, hat sich mit dem Phänomen der Handschrift alter Menschen befasst und aus vielen Schriftproben ein digitales Alphabet geschaffen, eine eigene Schrift mit einzelnen Buchstaben von A bis Z. Und mit diesen teils krakeligen, teils verkünstelten Buchstaben hat er dann geschrieben. Das Wort „endlich“ zum Beispiel, das unsere ganze kleine menschliche Existenz in nur sieben Buchstaben zusammenfasst. Ein hingekrakeltes Memento Mori, das einen besonders berührt, weil man um die Herkunft der Buchstaben weiß.

Das hätte auch Lucius Annaeus Seneca, dem großen römischen Stoiker gefallen. Wie alle Stoiker legte er großen Wert darauf, sich der eigenen Sterblichkeit immer bewusst zu sein und aus diesem Grund möglichst wenig Lebenszeit zu verschwenden. Er schrieb:

Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen.“

NK | CK

Informationen

Vom Verrinnen. Zeitkonzepte der Gegenwartskunst
Kunstmuseum Reutlingen | konkret
Eberhardstraße 14
Wandel-Hallen
72764 Reutlingen
noch bis zum 28. August 2022

Demenz

Wer sich dem Thema Demenz literarisch näher möchte, dem empfehlen wir zwei Romane:

Arno Geiger
Der alte König in seinem Exil
Hanser Verlag, 2011

David Wagner
Der vergessliche Riese
Rowohlt Verlag, 2019

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2 Kommentare

  1. Ingeborg Baacke 29. Juli 2022 um 19:54

    Danke für den Hinweis. Ich kann den Wunsch, noch einige könnten sie ansehen, gut nachvoll-ziehen.
    Wirklich eine ganz anregende Ausstellung mit einer ganzen Reihe beeindruckender Exponate, auch technisch ausgeklügelten.
    Vieles bleibt lebhaft in Erinnerung.
    Da kann bestimmt jede/r etwas finden, das zum Nachdenken anregt.

  2. Leider kann ich die Ausstellung nicht sehen !
    Aber schon eure Texte sind beeindruckend und der Verweis auf Proust , den ich vorgelesener Weise in Tübingen erleben konnte,regt an , sich wieder mal mit dem Metier zu beschäftigen.
    Ursula aus Hamburg

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