Das Kameraauge
„Die besten Entdeckungsreisen macht man nicht in fremden Ländern, sondern indem man die Welt mit neuen Augen betrachtet.“
Hat Marcel Proust so oder so ähnlich gesagt, und der Mann ist wirklich nicht allzu weit rumgekommen. Sehr viel Zeit seines Lebens hat Proust nämlich in seinem abgedunkelten und schallisolierten Schlafzimmer verbracht: erinnernd, lesend und natürlich schreibend. Fast ausschließlich im Bett soll er sein monumentales Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ geschrieben haben, dazu tausende von Briefen und Notizen. Unfassbar, nicht wahr? Unsereins ist an vielen Tagen ja schon froh, wenn wir abends im Bett lesend nicht nach zehn Minuten einnicken.
Fotografieren lehrt einen, die Welt mit neuen Augen zu sehen, ganz im Sinne des Zitats von Proust. Und vielleicht ist es mit der Kamera so wie mit den Stäbchen beim Essen. Man richtet die Aufmerksamkeit voll und ganz auf das Objekt, das man fotografieren oder eben essen möchte. Das mit den Stäbchen hat Roland Barthes in seinem Buch „Reich der Zeichen“ viel ausführlicher analysiert und beschrieben.
Natürlich besteht die Gefahr, dass man nur noch auf der Suche nach Fotomotiven durch die Welt spaziert. Aber wenn man mit der Kamera unterwegs ist, und sei es zum hundersten Mal in der eigenen Stadt, entdeckt man halt immer wieder Dinge, die einem sonst vielleicht nicht aufgefallen wären. Zum Beispiel diese schöne Harley Davidson in der Tübinger Münzgasse, die dort nicht erst seit gestern so geparkt wird, dass sie leicht in die Gasse reinragt. Bis vor Kurzem ist uns das nicht aufgefallen, und ja, wir laufen oft durch die alten Gassen.
Proust selbst hat sich übrigens sehr für die zu seiner Zeit immer populärer werdende Fotografie interessiert. Der berühmte Fotograf Brassaï hat zu diesem Thema einen Essay geschrieben: „Proust und die Liebe zur Photographie“ (Suhrkamp, 2001). Das Buch steht bei uns im Regal – noch ungelesen.
So viel für heute, haltet die Augen auf.
NK | CK