Im Spiegel der Seele
»Wenn man in den Geflüchteten oder den Ukrainern in ihrer Heimat nicht nur Opfer sieht, die man zutiefst bedauert, sondern Zeugen, dann wird auch dieser Krieg nicht als große Naturkatastrophe, sondern als kalkulierter Genozid wahrgenommen. Auch wenn das global gesehen nichts an der Tatsache ändert, dass mein Land ein Schlachtfeld ist und die Welt dieses schreckliche Sterben von Menschen innerhalb seiner Grenzen zugelassen hat.« (Kateryna Mishchenko)
Im Spiegel der Seele, so heißt der Essay der ukrainischen Essayistin, Übersetzerin und Verlegerin Kateryna Mishchenko. Es ist der Auftakttext des von ihr und der Suhrkamp-Lektorin und Spezialistin für Osteuropäische Literatur Katharina Raabe herausgegebenen Buches »Aus dem Nebel des Krieges«, erschienen im Frühjahr 2023 bei Suhrkamp.
18 Aufsätze versammelt dieser Band, und jeder einzelne hat das Potenzial, uns zu erschüttern und aufzurütteln. Die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren stammt aus der Ukraine. Es sind Schriftsteller, Künstlerinnen, Dokumentarfilmer, Fotografen, Aktivisten und Wissenschaftler. Sie alle sind Mishchenkos Bitte gefolgt, aufzuschreiben, was sie ganz persönlich seit dem Einmarsch der russischen Truppen am 24. Februar 2022 erlebt haben. In ihren bewegenden Texten beschreiben sie als Protagonisten ihre Situation und reflektieren gleichzeitig ihr Erleben – und das während russische Soldaten ihr Leben zerstören oder schon zunichte gemacht haben. Es ist ein Anschreiben gegen den Schrecken, gegen die Angst, gegen die Entwurzelung und die Vernichtung. Die Arbeit an ihren Texten ist für die Autorinnen und Autoren die wichtigste Möglichkeit, die Deutungs- und Verarbeitungshoheit in der Hand zu behalten. Wie Mishchenko schreibt, geht es darum, nicht Opfer zu sein, sondern Zeuge und daraus Stärke zu ziehen.
»Wenn ich könnte, würde ich jede abgefeuerte Kugel, jede Granate, jede Haubitze, jeden Schützenpanzerwagen, jeden Panzer, jede Drohne und jeden toten und lebenden russischen Soldaten auf unserem Gebiet aufzeichnen und beschreiben.« (Oksana Karpovych)
Nur exemplarisch und kurz können hier manche Texte skizziert werden. Man sollte sie alle lesen, sich anrühren und erschüttern lassen!
Kämpfen für ein gewöhnliches Leben
Artem Chapeye ist 1981 in Kolomyia in der Westukraine geboren und hat vor dem Krieg, der für die Ukrainer bereits vor 9 (!) Jahren mit der russischen Annexion der Krim begonnen hat, als Schriftsteller, Übersetzer und Reporter gearbeitet. Seine Bücher standen mehrfach auf der BBC-Liste für das beste ukrainische Buch des Jahres. Bis zum Einmarsch der russischen Truppen im Februar 2022 war der Dienst in der Armee für den Pazifisten Chapeye undenkbar.
»Es schien mir unmöglich und absurd, freiwillig an einem Krieg teilzunehmen. Ich hielt mich für einen Pazifisten. Vor allem nach der Revolution auf dem Maidan von 2014, als ich sah, wie Menschen wirklich sterben. Ungerechtigkeit sollte ausschließlich mit friedlichen Mitteln bekämpft werden.«
Noch am Vorabend des 24. Februar hat der Familienvater mit seinen beiden Söhnen in einem selbstgebastelten Zelt im heimischen Wohnzimmer übernachtet, alle eng aneinander gekuschelt. Die Idylle endet jäh am Morgen mit den ersten Explosionen in Kyiw. Chapeye, seine Frau Oksana und die beiden Kinder versuchen, mit ihrem gepackten »Notfall-Rucksack« die Stadt Richtung Westen zu verlassen. Ein Taxi muss organisiert, Checkpoints passiert werden. Beim Zwischenaufenthalt in einem Dorf westlich von Kyiw wird aus dem überzeugten Pazifisten Chapeye der Soldat Chapeye. Er meldet sich freiwillig zur Armee.
Wie es zu dieser existenziellen Entscheidung kam, schildert Chapeye anschaulich, gleichzeitig reflektiert er sein eigenes Denken und Handeln. Sartre, Jaspers, Kurt Vonnegut, Heinrich Böll und Ernest Hemingway haben ihre Auftritte. In dessen Klassiker »Wem die Stunde schlägt« erkennt der Protagonist, dass seine Stunde geschlagen hat, zu kämpfen. Chapeyes Schilderung ist erschütternd, vor allem, wenn man im friedlichen Tübingen sitzt und sich fragt, ob man selbst in so einer Situation stark genug wäre, richtig zu handeln. Dabei sieht sich Artem Chapeye nicht als Held. Er gibt zu, noch nie so viel geweint zu haben, wie nach der Trennung von Frau und Kindern, die ins Ausland flüchten mussten.
»Wofür kämpfen wir? Natürlich nicht für das absolut Gute. Wir sind keine „Krieger des Lichts“, sondern ganz gewöhnliche Menschen mit all ihren Unzulänglichkeiten. Wir kämpfen für ein gewöhnliches, unvollkommenes Leben, zu dem ich einfach nur zurückkehren möchte.« (Artem Chapeye)
Mitleiden, Mitempfinden
Es geht nicht ohne Mitleiden und Mitempfinden, wenn wir die Ukraine und ihre Menschen verstehen wollen. Und dazu bietet dieses Buch Gelegenheit.
Zum Beispiel, wenn der Journalist Stanislaw Assejew über seine schreckliche Leidenszeit im russischen Foltergefängnis Isoljazija in Donezk berichtet. Er schreibt, wie er der Opferrolle und dem Wahnsinn entkam, indem er (unter schwierigsten Bedingungen) anfing zu schreiben und sich nach seiner Gefangenschaft persönlich für die strafrechtliche Verfolgung seiner Peiniger eingesetzt hat.
Oder wenn wir den Bericht der mehrfach prämierten Journalistin Angelina Kariakina über das Drama der Zerstörung von Mariupol lesen. Auch sie nehmen wir nicht als Opfer war, wenn sie für das Netzwerk »The Reckoning-Project – Ukraine Testifies« gegen das Vergessen der russischen Kriegsverbrechen anschreibt.
Von großer Kraft zeugt auch der Text der Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin Kateryna Iakovlenko, die in ihrer ausgebombten Wohnung in Irpin im August 2022 für einen Tag eine Ausstellung eröffnet. Się schreibt:
»Wir leben in einer visuellen Epoche, wir verfolgen den Krieg online, wir sehen den Tod fast in Echtzeit – da ist eine Ausstellung in einem ausgebrannten Raum an sich schon ein starkes emotionales und visuelles Statement.«
Bemerkenswert ist auch der Aufsatz des Osteuropahistorikers Karl Schlögel, der sich selbst eingestehen muss, die Ukraine lange Zeit durch die russische Brille betrachtet zu haben. Für ihn ist ganz klar, wo die Ukraine ab sofort zu stehen hat:
»Der Weg zu einem neuen Russlandbild führt über die Ukraine, die aufgehört hat, der Hinterhof, die Peripherie, die Provinz Russlands zu sein und die ins Zentrum Europas gerückt ist.«
»Aus dem Nebel des Krieges« ist eine herausgeberische Meisterleistung von Kateryna Mishchenko und Katharina Raabe. Das Buch ist ein Glücksfall für deutsche Leserinnen und Leser, weil es uns mehr als jeder Nachrichtenfilm oder Zeitungsartikel eine authentische, gleichzeitig reflektierte Bestandsaufnahme der aktuellen Situation der Ukraine liefert. Geschrieben inmitten der Trümmer ist jede Seite voll und ganz auf der Höhe der Zeit und zerreißt für uns den Nebel des Krieges. Mitherausgeberin Katharina Raabe gibt uns am Schluss diesen Satz mit auf den Weg:
»Die Gegenwart der Ukraine zu teilen, bedeutet, sich dem bisher Unvorstellbaren zu konfrontieren: dass der große Krieg in Europa ein Faktum ist, dem wir nicht ausweichen können.«
Wer über die Ukraine mitreden möchte, sollte dieses Buch lesen!
NK | CK
Buchinformation
Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine.
Herausgegeben von Kateryna Mishchenko und Katherina Raabe
edition suhrkamp, Suhrkamp Verlag Berlin, 2023
ISBN: 978-3-518-02982-4
Lesung in Tübingen
Kateryna Mishchenko wird am 23. September 2023, 13.00 Uhr beim Tübinger Bücherfest über ihr neues Buch sprechen. Das Gespräch wird die Tübinger Slavistik-Professorin Schamma Schahat moderieren. Infos hier.
Ein längeres Interview mit Kateryna Mishchenko kann man hier im SWR 2 Radio nachhören.
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