Der «Holocaust»,
vor dem mir graust,
ein Wort wie fühllos durchgepaust
aus einem Fremdwortduden
Peter Rühmkorf
Das englische Wort Holocaust kommt ursprünglich aus dem Altgriechischen ὁλόκαυστος / holókaustos und bedeutet auf Deutsch „vollständig verbrannt“. Bezeichnet wird damit das Unfassbare: die Ermordung von 5,6 bis 6,3 Millionen europäischen Juden durch die Nationalsozialisten.
Für den Dichter Peter Rühmkorf (1929 – 2008) ist das Wort Holocaust, das uns oft nur allzu leicht über die Lippen geht, offensichtlich nicht in der Lage, das unsagbare Grauen auch nur annähernd zum Ausdruck zu bringen. Es bleibt für ihn eine Vokabel aus einem Fremdwortduden – oder eben heute aus Wikipedia.
Der in Reutlingen lebende Dichter Bernd Storz, lässt das Thema Shoa in seinem Gedicht „Buttenhausen“ konkreter werden. Buttenhausen ist ein kleiner Ort auf der Schwäbischen Alb, und auch dort haben die Nazis gewütet.
Buttenhausen
Die bemoosten Grabsteine. An der Auffahrt
stand die Synagoge.
Judenkinder, Christenkinder
Himmel und Hölle
und an Ostern
Eierrollen.
An der Lauter das Haus
flatternde Wäsche
dunkelhäutige Kinder.
Bernd Storz
Buttenhausen ist heute ein Ortsteil von Münsingen. Es gab dort seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine jüdische Gemeinde, die mit der Ansiedelung von 25 jüdischen Familien durch den Freiherrn Philipp Friedrich von Liebenstein begann. Im 19. Jahrhundert war Buttenhausen eine der wenigen jüdischen Landgemeinden in Württemberg, in denen mehr Juden als Christen lebten.
„Die aufblühende jüdische Gemeinde brachte technische Neuerungen ins Dorf und sorgte für wachsenden Wohlstand. Bemerkenswertes Zeugnis davon ist die Bernheimer’sche Realschule aus dem Jahr 1903. Kommerzienrat Lehmann Bernheimer (1841 bis 1918) erbaute sie zum Andenken an seine Familie.“ (Quelle: Gedenkstätten in Baden-Württemberg)
Während der Naziherrschaft emigrierte ungefähr die Hälfte der jüdischen Bevölkerung. Die 1933 noch in Buttenhausen verbliebenen 89 jüdischen Bürgerinnen und Bürger überlebten die Judenvernichtung durch die Nazis allesamt nicht. Die Bernheimer’sche Realschule ist heute ein kleines Museum und kann besucht werden (Informationen).
Bernd Storz, der auch Romane, Drehbücher und Theaterstücke schreibt, hat auch der Kleinstadt Hechingen am Fuße des Hohenzollern ein Gedicht gewidmet. In diesem Gedicht wird die Vertreibung und Vernichtung der Juden am Beispiel des Leon Schmalzbach so lakonisch wie erschreckend zum Ausdruck gebracht. Dazu zitiert Storz „aus der Behördlichen Anordnung zu der Deportation der letzten jüdischen Bücher aus Hechingen 1945.“
Hechinger Notiz
oder Was Leon Schmalzbach nach Riga mitnehmen durfte
Wasserdichter Waschbeutel.
Kamm Bürste Staubkamm.
Kopfwaschpulver.
Ohrenschützer.
Frostsalbe.
Läusesalbe.
Insektenpulver.
Sicherheitsnadeln.
Aluminiumteller.
Sockenhalter.
Hartwurst.
Trockengemüse.
Becker mit Henkel.
Haarschneidemaschine.
Rasierzeug mit Seife.
Ersatzklingen.
Transportnummer: 715.
Im Anhang seines Gedichtbands „Sommerspräche“ (2021, KrönerEditionKlöpfer) erläutert Bernd Storz, wer Leon Schmalzbach war. Schmalzbach, geboren 1882 in Jaroslaw im südlichen Polen, wirkte in Hechingen als Lehrer, Musiker und Rabbinatsverweser. Schmalzbach „gehörte zu den elf letzten Juden, die 1941 aus Hechingen deportiert wurden. Er starb 1942 im KZ Jungfernhof bei Riga/Lettland an Hunger, wie man auf der Homepage der Synagoge Hechingen nachlesen kann.
Storz hat den Hechinger Juden auch ein Theaterstück gewidmet: Sabbat. Die deutschen Juden in H., das 1988 in der Alten Synagoge in Hechingen uraufgeführt wurde. Auch die Hechinger Synagoge wurde in der Reichpogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 geplündert und zerstört. Niedergebrannt wurde sie wahrscheinlich deshalb nicht, weil die Nachbarhäuser sonst auch gefährdet gewesen wären. Von den 106 jüdischen Mitbürger:innen, die 1933 in Hechingen lebten, kehrte niemand zurück. Die Renovierung der Synagoge in den 1980er Jahren stieß übrigens in Hechingen mitnichten auf breite Zustimmung, wie man hier nachlesen kann. Die Geschichte der Hechinger Juden und der Synagoge kann man hier in in einem Artikel (pdf) nachlesen oder runterladen.
1938 – 2022
Vor 84 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, der Reichspogromnacht, fanden in Deutschland die Novemberpogrome der Nazis ihren Höhepunkt. Jüdische Geschäfte, Einrichtungen, Wohnungen, Schulen und Synagogen wurden geplündert und zerstört. In Deutschland und Österreich wurden rund 1400 Synagogen angezündet und etwa 7500 Wohnungen und Geschäfte jüdischer Bürgerinnen und Bürger verwüstet.
Der Autor und Journalist Dr. Nils Minkmar schreibt in seinem exzellenten Text „Wenn wir hassen“ in der Süddeutschen Zeitung (Ausgabe, 9. 11. 2022, aktuell hinter der Bezahlschranke) darüber, was uns diese Reichspogromnacht lehrt und was diesen 9. November so „furchtbar aktuell macht“. Er mahnt mehr Geschichtsbewusstsein an (schon in den Schulen!) und beschreibt klar, wie man sich unter den Nazis allmählich an Hass und Gewalt gewöhnte: „ – und ein wesentlicher Teil dieser Gewöhnung war die kulturelle Ausgrenzung.“ Und leider, so Minkmar, „ist die internationale und nationale Lage von einer Wiederkehr solcher Gedanken geprägt.“ Man kann diese Diagnose angesichts des Erstarkens rechter Kräfte in Europa gar nicht genug unterstreichen.
NK | CK