Zweihunderttausend Meilen
„Im Alter von einundsechzig Jahren komme ich mir an manchen Tagen vor wie ein Wagen mit zweihunderttausend Meilen auf dem Tachometer. Ein Klopfen meldet sich im Motor, die Heizung läßt sich nicht abstellen, das Fahrgestell ist rostig, die Sitzbezüge zerrissen und verfleckt, ein Scheibenwischer hat den Geist aufgegeben, der Auspufftopf sieht aus wie ein Salatsieb, und Öl verliert der Wagen auch.“
Charles Simic hat das geschrieben, der amerikanische Dichter, der 1938 in Belgrad zur Welt kam, und seit 1954 in den USA lebt. Simic gilt als einer der bedeutendsten Lyriker, aber seine Essays sind ebenso empfehlenswert wie seine Gedichte, für die er zig Auszeichnungen erhalten hat. Auch äußert er sich zu aktuellen Themen und nimmt dort genauso wenig ein Blatt vor den Mund, wie wenn er über das Altern spricht.
Wir haben dieser Tage Klassentreffen anlässlich des 42. Jahrestages unseres Abiturs. Kaum zu glauben ist das an manchen Tagen und in der Nacht zwischen drei und vier schon gar nicht. Aber wie es der Zufall will, ist mir beim melancholischen Stöbern im Bücherregal dieser Text von Charles Simic in die Hände gefallen.
Das Geheimnis des Glücks
So heißt der Aufsatz, in dem sich Simic mit seinem Alter und den Begebenheiten seines Lebens auseinandersetzt. Er berichtet von seiner jugoslawischen Oma, die den kleinen Jungen vor dem Erwachsenwerden warnt, erinnert sich an sein Klassenzimmer als Erstklässler, in dem Marx, Stalin und Tito an der Wand hingen. Er hadert mit einem Rezensenten, der ihm mit zunehmendem Alter eine zunehmende Düsterkeit in seinen Gedichten vorwirft, und er fragt sich, warum die Zeit nach dem sechzigsten Lebensjahr noch schneller vergeht, und wohin die „Faulenzersommer“ seiner Jugend entschwunden sind, in denen die Zeit nicht verging. Kennen wir dieses Gefühl, oder? Und genau da, in diesem Gefühl der gedehnten, nicht vergehenden Zeit verortet Simic das Geheimnis des Glücks.
„Damals bewegten sich die Uhrzeiger im Schneckentempo, und der Minutenzeiger machte lange Pausen, bevor er weiterzuwandern geruhte – nur um mich zu ärgern! Du Narr, denke ich heute, das waren reine Wonnen. Das Geheimnis des Glücks war in der Uhr verborgen. Die Zeit war so gnädig, deinetwegen innezuhalten; wie eine neue Geliebte öffnete die Ewigkeit die Tür zu einem Zimmer, von dessen Existenz du keine Ahnung gehabt hattest und das in weitere Zimmer führte, luftig und voll trägen, goldenen Sonnenlichts. Du verharrtest unschlüssig und zappelig auf der Schwelle, und in deiner Herzeneinfalt – kaum wage ich es auszusprechen – seufztest du erleichtert auf, wenn die Tür vor deiner Nase zugeschlagen wurde und der Uhrzeiger sich weiterbewegte.“
In diesem Sinne: haltet inne.
NK | CK
Buchinformation
Charles Simic
Das Geheimnis des Glücks
aus dem Amerikanischen von Melanie Walz, illustriert von Kurt Löb
2007, Verlag Thomas Reche, Neumarkt
Hardcover, Leinenbindung
ISBN: 3-929566-53-6
sehr ansprechend gestaltet und handwerklich exzellent gemachtes Buch