Vor ein paar Tagen war Briefmarkentag in Hechingen, da sind wir beim Stöbern auch auf Briefmarken aus der Ukraine gestoßen. Auf einer ist der ukrainische Nationaldichter und Maler Taras Schewtschenko abgebildet. Schewtschenko wurde am 9. März 1814 in Morynzi in der Nähe von Kiew geboren und starb am 10. März 1861 in St. Petersburg.
Taras Schewtschenko ist der ukrainische Nationaldichter, seine Gedichte sind nationales Kulturgut. Während der Orangen Revolution 2004 in Kiew und während des Euromaidan 2013/2014 wurden Schewtschenkos Verse rezitiert. Der ukrainische Schrifsteller und Friedenspreisträger Serhij Zhadan sagt über Schewtschenko:
„Kaum, dass bei uns Ukrainern irgendetwas Bahnbrechendes passiert, tauchen Schewtschenko-Zitate auf.“
Aber so sehr Schewtschenko in der Ukraine verehrt wird, so wenig darf sein Name vermutlich in den von Russland völkerrechtswidrig besetzten Gebieten der Ostukraine erwähnt werden. Denn Ziel des Putin-Regimes ist die Auslöschung der selbstständigen ukrainischen Nation und ihrer Kultur.
„20 Tage in Mariupol“
Am 24. Februar 2022 begann der vollumfängliche Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine. Damit begann auch die Belagerung der strategisch wichtigen Stadt Mariupol am asowschen Meer. Drei Wochen dieser Belagerung zeigt der Dokumentarfilm „20 Days in Mariupol“, der in diesem Jahr den Oscar für den besten Dokumentarfilm erhalten hat.
Vor zwei Tagen wurde der Film in Tübingen im Rahmen der Reihe „Brennpunkt Ukraine“ des Osteuropa-Instituts und des Slavischen Seminars der Universität Tübingen gezeigt. Der renommierte Tübinger Osteuropa-Historiker Prof. Dr. Klaus Gestwa (dessen publizistischer, Einsatz für die Ukraine gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann) gab vor dem Film einen Abriss der Geschichte der kulturell und industriell einst so bedeutenden Stadt Mariupol. Nach dem Film berichtete die aus Mariupol stammende Ukrainerin Afina Albrecht, die schon lange in Stuttgart lebt, über die Zeit der Belagerung, die ihre teils noch in der Ukraine lebende Familie erleiden musste.
Der ukrainische Filmemacher Mstyslav Chernov und sein Team von Associated Press (AP) filmten 20 Tage während der Belagerung von Mariupol. Was diese brutale Belagerung und Eroberung durch die russische Armee für die Zivilbevölkerung bedeutet, hat Chernov in dramatischen Bildern dokumentiert, die er immer wieder via Internet oder Satellit an AP verschickt hat. Redaktionen auf der ganzen Welt haben die Bilder gezeigt.
Unter Einsatz ihres Lebens haben Mstyslav Chernov, der Fotograf Evgeniy Maloletka und die Videoproduzentin Vasilisa Stepanenko der Welt gezeigt, wie wenig ein ukrainisches Menschenleben den russischen Invasoren bedeutet. Die dramatischen, aufwühlenden Aufnahmen aus einer Geburtsklinik unter russischem Beschuss, aus der Notfallklinik, wo Ärzte im Gang operierten, schonen die Zuschauer nicht. Aber die Bilder sind wichtig! Den ganzen Film kann man noch bis 19. Mai in der ARD-Mediathek sehen. Hier der Trailer.
Kriegsverbrechen
Die Belagerung von Mariupol und das Vorgehen der russischen Armee wird von der EU als Kriegsverbrechen gewertet. Am 20. Mai 2022 verkündete die Regierung in Kiew die Kapitulation von Mariupol. Die genaue Zahl der Opfer ist bis heute nicht bekannt. Human Rights Watch, SITU Research und Truth Hounds gehen davon aus, dass mehr als 8.000 Zivilist*innen starben. Vermutlich ist die Opferzahl aber deutlich höher, weil die vielen Leichen in den Massengräbern (noch) nicht identifiziert werden können. Daneben wurden alle 19 Krankenhäuser zerstört, ebenso wie fast alle der 89 Bildungsreinrichtungen und 93 Prozent der knapp 500 mehrstöckigen Gebäude. (Quelle: Wikipedia).
Es wäre wünschenswert, dass diesen Film vor allem die anschauen, die den Krieg in der Ukraine einfrieren wollen und im deutschen Talkshow-Tingeltangel von Verhandlungen mit dem Kreml phantasieren. Kann man ernsthaft mit Kriegsverbrechern verhandeln, die, wie der russische Außenminister Lawrow, die Bilder von Mariupol als „Fake“ und „inszeniert“ bezeichnen?
NK | CK
PS: Der Schriftsteller Serhij Zhadan aus Charkiv, dessen Buch „Internat“ wir hier im Blog besprochen haben, hat sich übrigens vor kurzem an die Front gemeldet, auch aus Enttäuschung über die mangelnde Unterstützung des Westens für den ukrainischen Kampf um die Freiheit. Hier ein hörenswerter Beitrag von SWR 2 Kultur.
Weitere Informationen
Homepage Osteuropa-Institut der Uni Tübingen
Slavisches Seminar der Uni Tübingen