Nimm die wichtigsten Dinge
Nimm die wichtigsten Dinge. Die Briefe zum Beispiel.
Nimm die leichten Sachen, die wiegen nicht viel.
Nimm die Heiligenbilder, das Silberbesteck,
nimm die Kreuze, den Goldkram, wir gehen weg.
Nimmt ein bisschen Gemüse und vom Brot ein Stück.
Wir kommen nie wieder hierher zurück.
Wir werden die Städte nicht wiedersehn.
Nimm die Briefe, auch schlimme, dann lass uns gehn.
Wir müssen die Nachtkioske verlassen.
Die Gesichter der Freunde werden verblassen.
Aus dem trockenen Brunnen ist kein Wasser zu ziehn.
Wir zwei sind Flüchtling. Nachts müssen wir fliehn.
Wir laufen an Sonnenblumenfeldern vorbei.
Wir flüchten vor Hunden, schlafen im Heu.
Wir gieren nach Wasser, kampieren in Lagern
und quälen die Drachen auf Truppenfahnen.
Die Freunde sind fort, auch du bist verschwunden.
Es fehlen die Stellen, die Küchenrunden.
Nachts fehlt in den Orten das schläfrige Licht.
Grüne Täler und Brachen, es gibt sie nicht.
Schmierige Sonne gibt’s, die durch Zugfenster dringt,
die Choleragrube, zu der man Kalkpulver bringt.
Die Frauenfüße im blutigen Schuh,
Wachposten im Grenzschnee kommen dazu.
Ein verwundeter Briefträger mit leerem Sack,
ein Gehenkter, lächelnd, im Priesterfrack,
Friedhofsstille, Lärm auf Kommandanturen,
Totenlisten, gedruckte, ohne Korrekturen,
Namen, endlos aneinandergereiht,
den eignen zu suchen ist keine Zeit.
Serhij Zhadan | Übertragung: Esther Kinsky
Slawa Ukrajini
„Ruhm der Ukraine“ lautet die deutsche Übersetzung für den Gruß „Slawa Ukrajini“; die Antwort auf diese Grußformel heißt Herojam Slawa, auf Deutsch „Den Helden Ruhm“. Oft konnte man am vergangenen Montag diese Sätze auf dem Tübinger Holzmarkt hören, von Ukrainerinnen und Ukrainern mit Inbrust gerufen. Zum dritten Jahrestag des völkerrechtswidrigen, vollumfänglichen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hatten verschiedene Gruppen zur Solidaritäts-Kundgebung für die Ukraine aufgerufen, unter anderem: Tübingen hilft Ukraine, Sonnenblau und der Ukrainische Verein Tübingen.
Wie wichtig diese Unterstützung gerade jetzt ist, zeigt die Tatsache, dass der amerikanische Präsident die Fakten komplett verdreht, indem er der Ukraine die Schuld an diesem Krieg gibt und den ukrainischen Präsidenten einen Diktator nennt. Angsichts der pausenlosen, brutalen russischen Angriffe auf die Ukraine sind die Aussagen des amerikanischen Präsidenten ein zynischer Schlag ins Gesicht der Ukrainerinnen und Ukrainer. Dies haben die Rednerinnen und Redner am 24. Februar 2025 auf dem Holzmarkt klar zum Ausdruck gebracht.
„Namen, endlos aneinandergereiht“
Mit einem 2015 entstandenen Gedicht des ukrainischen Schriftstellers und Dichters Serhij Zhadan erinnnern wir diese Woche daran, dass der Angriff Russlands nicht erst im Februar 2022 begonnen hat, sondern bereits mit der russischen Annektion der Krim und dem russischen Angriff auf die Ostukraine im März 2014. Dieses Gedicht des vielfach ausgezeichneten Zhadan findet man in dem beeindruckenden Band „Warum ich nicht im Netz bin – Gedichte und Prosa aus dem Krieg“, der 2016 bei Suhrkamp erschienen ist. Übersetzt wurden die Gedichte und Prosatexte von Claudia Dathe und Esther Kinsky, und zwar so gut, dass Zhadans Worte auch im Deutschen ihre volle Wirkung entfalten.
Kerstin Holm nannte Zhadans Buch in ihrer Kritik in der F.A.Z. (21.2.2017) ein „Meisterwerk“. Der in Charkiw lebende Autor zeichnet mittels eindrucksvoller Porträts, Reisenotizen, Kriegseindrücke, Charakterstudien ein differenziertes, schonungsloses Bild der damaligen Situation in der Ostukraine. Wie sich diese Situation in der Ukraine heute darstellt, können wir jeden Tag in den Nachrichten, Zeitungsartikeln, Reportagen lesen, hören und sehen.
Die Ukraine braucht die volle Unterstützung Europas und keinen Diktatfrieden!
NK | CK
Buchinformation
Serhij Zhadan
Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte und Prosa aus dem Krieg
übersetzt von Claudia Dathe und Esther Kinsky
Broschur, 180 Seiten, edition suhrkamp, 2016
ISBN: 978-3-518-07287-5
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