Bis zu diesem Sommer gab es den Autor Norbert Scheuer nicht in unserem Bücherregal. Ja, vielleicht hatte man den Namen mal im Feuilleton gelesen, und vielleicht gab es eine kleine Erinnerung an den besonderen Titel seines letzten Buches, „Winterbienen“. Das war’s aber auch schon. Und Kall, der kleine Ort in der Eifel, wo Scheuers Romane spielen – nie gehört. Obwohl wir vor Jahren mal in der Eifel waren, in Langenbroich, da wohnte Böll, den heute leider fast niemand mehr liest.
Aber zurück zu Norbert Scheuer. Der hat nach der Hochwasserkatastrophe im Sommer 2021 einen Text für die Süddeutsche Zeitung geschrieben. „In den Trümmern von Kall“ hieß die Überschrift, man kann das noch online (hinter der Paywall) nachlesen. Scheuer beschreibt dort auf eindringliche Art, wie „die Wasser stiegen und auch die kleine Stadt in der Eifel einfach mit sich rissen.“ Dieser Text war der Impuls, sich mit dem Schriftsteller Norbert Scheuer auseinanderzusetzen.
Winterbienen
„Die Aufgabe der jetzt lebenden Winterbienen besteht darin, die im Frühjahr zu erwartende neue Generation der Larven warm zu halten, zu schützen und zu füttern und so das Überleben des Volkes zu sichern. In der kalten Jahreszeit halten sie die Temperatur in ihrem Staat konstant auf zwanzig Grad, das ist gerade warm genug, damit ihre Königin und sie selbst nicht erfrieren.“
Egidius Arimond, der Erzähler im Roman „Winterbienen“, schreibt diese Zeilen am Donnerstag, den 6. Januar 1944 in sein Tagebuch. So ungewöhnlich der Name, so ungewöhnlich ist auch dieser Mann, der uns aus seinem Leben in der Zeit zwischen Winter 1944 und Frühjahr 1945 berichtet.
Es ist das letzte Kriegsjahr, Nazi-Deutschland ist praktisch geschlagen, auch wenn es die großen und kleinen Anhänger noch nicht wahrhaben wollen. Die Angriffe der alliierten Bomber, die von Westen über die Eifel fliegen, werden zahlreicher und richten immer mehr Zerstörung an. Die Wehrmacht hat den Bomberverbänden nur noch wenig entgegenzusetzen. Der Endkampf, der noch so viele Opfer auf allen Seiten fordern sollte, hat begonnen.
Die Welt ist aus den Fugen geraten
Auch die Welt von Egidius Arimond, der als einer der wenigen Männer aus der Kleinstadt Kall nicht zur Wehrmacht einzogen wurde. Arimond, der früher als Lehrer alte Sprachen unterrichtet hat, leidet an Epilepsie, weshalb ihn die Nazis zuerst zwangssterilisiert und dann aus dem Schuldienst entfernt haben. Sein Leben ist für die Anhänger des Rassenwahns nicht lebenswert, das Damoklesschwert der Euthanasie schwebt ständig über ihm. Das hindert den etwas verschrobenen, aber liebenswürdigen und gebildeten Außenseiter nicht daran, sein Leben zu genießen – so gut es eben mit dieser Krankheit und angesichts der äußeren Umstände geht.
Egidius Arimond schildert uns sein Leben in einer unaufgeregten, leichten Sprache, die in deutlichem Kontrast zum Bombenhagel und den immer wieder stattfindenden Gewitterstürmen in Arimonds Kopf steht. Arimonds Leben dreht sich im Wesentlichen um vier Dinge: Bienen, Frauen, seine Krankheit und die Geschichte seiner Familie.
„Meine Erinnerungen gleichen denen der Winterbienen in ihrem dunklen Stock; ich weiß nicht, ob etwas erst gestern gewesen ist oder schon lange zurückliegt. Sie erscheinen mir wie ein winziger Punkt in einem unendlichen Raum.“
Die Geschichte der Arimonds beginnt mit dem Mönch Ambrosius Arimond, der Anfang des 16. Jahrhunderts aus dem Tessin in das Urftal gekommmen ist. Dort hat Ambrosius in einem Kloster gelebt und Bienen gezüchtet, so lange bis er aufgrund eines Verhältnisses mit einer Frau das Kloster verlassen musste. Die Bienen übrigens hat dieser erste Arimond von südlich der Alpen mitgebracht. Und diese Bienen spielen für Egidius Arimond, den Epileptiker, im letzten Kriegsjahr eine ganz zentrale Rolle: sie sind sein Lebensinhalt. Seine ganze Kraft zieht er aus dem Bienenstock, dieser summenden Energiequelle.
„Ich lege mein Ohr an die Bienenkästen, höre meine Völker; ihre leisen Melodien erinnern mich an die Gesänge der Mönche, ich knie vor dem Altar einer unendlich großen Kathedrale.“
Helfer, aber kein Held
Aber die Bienen retten nicht nur das Leben des Imkers, sondern auch das Leben von jüdischen Flüchtlingen, die er im Auftrag einer unbekannten Hilfsorganisation aus dem Land schafft. Bei diesen gefährlichen Rettungsaktionen treffen die Bienen und die Frauen, die Arimond gleichermaßen liebt, zusammen – in Form von Königinnen und Lockenwicklerröllchen. Das ist so unglaublich wie spannend. Und Arimonds Tagebuchtonfall verhindert, dass wir Leser hier mit dramatischem Heldenpathos eingelullt werden.
„Man sollte sich nicht einbilden, sein Schicksal und das, was man denkt und fühlt, selbst bestimmen zu können.“
Wie Norbert Scheuer in diesem Roman auf rund 300 Seiten die zentralen Komponenten – Bomben und Bienen, Epilepsie und Erotik, Leiden und Lust, Vorfahren und Vernichtung – miteinander verknüpft, ist bemerkenswert und von einer Intensität, der man sich nicht entziehen kann. Klug und fast spielerisch deutet der Autor immer wieder die Verbindungen zwischen den verschiedenen Welten an: der Welt der Bienen und der Welt des Erzählers, zwischen dem Gewitter im Kopf des Epileptikers und dem realen Bombenhagel, zwischen dem Transport eines echten Menschenherzens über die Alpen und dem Transport der Flüchtlinge über die Grenze nach Belgien.
„Ich sitze am Nachmittag bei den Einfluglöchern. Die Bienen schwirren mit vollen Pollentaschen vorm blauen Stock, glitzern wie Bernsteintropfen in der Sonne. Sie lieben das Blau mehr als alle anderen Farben, landen auf den Einflugbrettchen und laufen im Kreis, berichten bestimmt, wo jetzt Schneeglöckchen, Huflattich und Weiden blühen.“
Wer in diesen zähen, bisweilen trüben Tagen und Wochen zu Beginn des Jahres eine Lektüre sucht, die ihn wegträgt vom Alltag und den Hauptnachrichten, dem empfehlen wir „Winterbienen“ von Norbert Scheuer, ein wundersames Buch, das lange nachhallt.
NK / CK
Buchinformation
Norbert Scheuer
Winterbienen
C. H. Beck, gebundene Ausgabe, 319 Seiten
978-3-406-73963-7
Postskriptum: Honigpanscher
Vor einigen Wochen hat uns die Leserin K. einen Artikel aus der FAZ zum Thema Bienen und Honig zukommen lassen, den wir hier empfehlen wollen. Es geht darin um gepanschten, mit Zuckersirup gestreckten Honig aus China, der zu Spottpreisen nach Deutschland importiert wird und unseren Imker:innen das Leben schwer macht.
Dabei ist die Imkerei schwer genug: Klimawandel, der Einsatz von Insektiziden in der Landwirtschaft, Bedrohung der Lebensräume der Bienen, um nur ein paar Probleme zu nennen. Die Honigpanscherei ist natürlich illegal, der Kampf gegen die Panscher ein Wettlauf gegen die Technik und die Zeit.
Aber: Bienen dürfen Honig erzeugen, und dem Endprodukt der Bienen, dem Honig, darf nichts hinzugefügt oder entzogen werden. Die Europäische Honigverordnung ist hier glaskar. Unser Fazit: Man sollte seinen Honig ausschließlich von einheimischen, möglichst regionalen Imkern des Vertrauens kaufen. Der Artikel ist hier online lesbar.
Ich habe dieses Buch mit größtem Vergnügen gelesen. Einfach genial, die jüdischen Flüchtlinge von Bienen bedeckt über die Grenze zu schmuggeln. Aber auch sonst ist es ein sehr lesenswertes Buch.
Gerne würde ich den Artikel in der SZ vom Juli 2021 lesen, aber wie komme ih über die „paywall“?