Erfroren
der letzte Mais –
wie die Sommerträume
Kranō
Haiku, gewidmet dem großen Bashô, der auf seiner Pilgerschaft durch das nördliche Japan im Jahr 1689 eines seiner berühmtesten Haiku schrieb:
Sommergras …!
von all den Ruhmesträumen
die letzte Spur
Bashô, in der Übersetzung G. S. Dombrady
Meisterwerk der Weltliteratur
Matsuo Bashô (1644 – 1694) hat dieses Haiku auf seiner Reise durch das nördliche Hinterland Japans im Jahr 1689 gedichtet, wie man in seinem literarischen Reisebericht „Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“ nachlesen kann. Das Sommergras-Haiku entstand in Hiraizumi, einem Schlachtfeld, das zu den berühmtesten Japans gehört. An diesem Ort, dem Bashô ein literarisches Denkmal setzt, ging nach einer verlorenen Schlacht die einst mächtigste Sippe der japanischen Nordlande unter, „und mit ihr fanden Japans gefeierte Helden Yoshitsune und Benkei mit vielen Tausenden von Kriegern den Tod.“ So schreibt G. S. Dombrady, der das Buch mit allen Prosatexten und den 62 Haiku übersetzt und mit klugen, hilfreichen Kommentaren und Ergänzungen versehen hat.
Wie viele Orte, die Bashô auf seiner Pilgerschaft besucht, ist auch das Schlachtfeld in Hiraizumi ein „uta-makura“, ein sogenanntes Gedichtskopfkissen, wie man solche Orte in Japan bezeichnet. „Dieser ungewöhnliche Begriff besagt, daß ein Ort, eine auffällige Landschaft als „Kissen“ (oder vielmehr Kopfstütze!) benutzt werden kann, weil es schon vielen als „Stütze“ oder Thema gedient hat.“ (Dombrady). Sprich: Es haben schon Dichter:innen zuvor Verse an dem berühmten Ort verfasst, die dann wiederum von anderen, hier Bashô, zitiert werden. Gebildeten Japaner:innen waren diese Orte bekannt und die Anspielungen sofort geläufig. Wir haben glücklicherweise G. S. Dombrady, der uns mit seinen verständlichen Erläuterungen auf die Sprünge hilft.
In seiner Einführung bezeichnet Dombrady das „Oku no hosomichi“ als eines der bedeutendsten Werke des wohl bekanntesten Haiku-Dichters überhaupt. Für Dombrady ist dieses Reisetagebuch „eine verschlüsselte Apotheose, ein Hohelied von Traum und Vergänglichkeit und somit ein Meisterwerk der Weltliteratur.“
Um die Blüten trauere ich
und die flüchtige Welt. – Vor mir:
nur trüber Wein und schwarzer Reis
Traumhaftigkeit und Vergänglichkeit
Aber warum sollte man im Jahr 2021 dieses schmale, schöne Buch über eine entbehrungsreiche Wanderung von fünf Monaten Dauer lesen, die Bashô mit seinem Gefährten Sora vor mehr als 300 Jahren unternommen hat? Zum einen, weil Lesen eine der besten, ja vielleicht die schönste aller Möglichkeiten ist, dem Alltag zu entfliehen. Zum anderen aber, weil uns Bashô immer wieder, mal mehr, mal weniger direkt, auf die Traumhaftigkeit und die Vergänglichkeit unseres eigenen Daseins hinweist. Und das passt dann doch gut in unsere mutantengeschüttelte Zeit.
„In der Traumhaftigkeit und in der Vergänglichkeit das Wesen des menschlichen Daseins zu erkennen, durch ständiges tätiges Bewußtsein das Unfaßbare des endgültigen Vergehens faßbar zu machen – darin lag Bashôs Anliegen.“ (Dombrady)
Das eigentliche Reisetagebuch besteht aus 55 kurzen Kapiteln. Einem knappen einleitenden Prosatext von Bashô folgt meist ein Haiku des Meisters, manchmal auch zwei, drei, in denen er seine Gefühle oder Erlebtes zum Ausdruck bringt. Das Buch ist so aufgebaut, dass auf den rechten Seiten die Übersetzung des Reisetagebuchs, Bilder und Kalligraphien stehen, auf der linken Seite finden wir die Anmerkungen. Im Anhang stehen weitere Erläuterungen und Interpretationen zu den Haiku.
Der wahren Poesie
Uranfänge – das sind die Pflanzerlieder
Eurer Hinterlande!
Alles in allem bietet dieser kleine, schön gestaltete, handliche Band einen faszinierenden Einblick in eine längst vergangene Kultur, die uns aber noch einiges zu sagen hat. Aber: dies ist kein Buch zum Runterlesen, sondern zum In-Etappen-Genießen.
Nichts als Flöhe und Läuse!
Und nah an meinem Kopfkissen
pisst auch noch ein Pferd!
Ja, auch weltberühmte Dichter haben bisweilen mit den Widrigkeiten und Entbehrungen des Alltags zu kämpfen, und seien es Läuse und Flöhe.
Haltet zusammen!
NK & CK
Buchinformation
Matusuo Bashô
Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland
Aus dem Japanischen übertragen, mit einer Einführung und Annotationen von G. S. Dombrady. Nachwort von Ekkehard May.
7. Auflage, Oktober 2021, 352 Seiten, Leinen
Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz
ISBN: 978-3-87162-075-1
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Sommergras …., wer sich mit dem japanischen Kurzgedicht auseinandergesetzt hat, wird sicherlich irgendwann auch über dieses von Bashô formulierte Haiku gestossen sein, welches von der Deutschen Haiku-Gesellschaft als Titel für ihre vierteljährlich erscheinende Mitgliederzeitschrift ab der Ausgabe Nr. 71 ausgewählt wurde. Wer dem hochgewachsenen Ekkehard May schon einmal mit in den Nacken gelegten Kopf in die äugen geschaut oder gar kennengelernt hat, weiß, dass er äußerst fundiert über das Haiku referieren kann und nicht ohne Grund für seine Übersetzungen aus dem japanischen ins deutsche den Orden „der aufgehenden Sonne“ verliehen bekommen hat …, wenn ich mich gerade nicht völlig aus der Spur gesprungen gerade auf einem Holzweg gelandet bin.
Martin Berner hat im minimart-verlag in 1999 unter der ISBN Nr. 3-933-213-13-4 ein winziges Büchlein mit dem Titel SOMMERGRAS (Variationen über ein Haiku von Matsuo Bashô) herausgegeben, das allenthalben noch antiquarisch zu haben ist.
Der Herausgeber hat drei Varianten beigesteuert, von denen eine
dreckverschmiert im Sommergras
träumt der Krieger
vom Sommergras
ein anderes von mir lautet:
Auch Gänseblümchen
sterben schuldlos beim Mähen
denkt sich der Soldat
Allen Lesern und natürlich auch höchstpersönlich dem „Reklamekasper“ wünsche ich besinnliche Feiertage und ein gutes Ankommen in 2021