Geduld
Am Neujahrstag 2020 sind wir in aller Frühe am Neckar entlang spaziert. Es war kalt, aber dies ist eine gute Zeit für Fotostreifzüge, weil sich die Stadt selten so ruhig und entspannt präsentiert. Die Kamera in den klammen Händen waren wir auf der Suche nach einem Eisvogel, der sich dort am Ufer in der Nähe eines Stauwehrs aufhalten sollte. Ich hatte noch nie einen Eisvogel gesehen und deshalb mit höchster Konzentration jeden einzelnen Ast des Ufergebüschs mit den Augen abgescannt. Alles Mögliche hing da im Gestrüpp: Plastikfetzen, alte Handschuhe, Getränkedosen. Vom Eisvogel keine Spur.
Uns wurde allmählich richtig kalt, übermüdet waren wir auch, so dass wir die Suche schon aufgeben wollten, als plötzlich in meinem Augenwinkel etwas bläulich aufschimmerte. Ich dachte zuerst an einen Lichtreflex, aber da war er, der Eisvogel. Viel kleiner als erwartet (ich bin kein erfahrener Birder!) und trotz seines blaugrün schimmernden Oberkleides nicht sofort zu sehen. Welch Anblick von zarter Schönheit!
Wenn man zum ersten Mal mit dem Fernglas einen Gimpel, einen Eisvogel oder auch einen Eichelhäher in den strahlenden Farben ihres Prachtkleides vor sich sieht, ist man wie betäubt. Was ist einem da entgangen!
Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung
Um es gleich vorweg zu sagen: Das Buch, das wir heute vorstellen, ist keine Anleitung zur Vogelbeobachtung und auch kein ornithologisches Bestimmungsbuch. Und es ist auch keine Einführung in den Zen-Buddhismus, wie der Titel suggeriert. Arnulf Conradi, früherer Chef des Berlin-Verlags und seit seiner Jugend passionierter Hobby-Ornithologe, hat mit „Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung“ ein Loblied auf die Vogelbeobachtung und auf das Innehalten geschrieben.
Wer sich auf die Vogelbeobachtung einlässt, und es gibt Länder, wo dieses Hobby viel verbreiteter ist als bei uns, der wird, so der Autor, mit einer gesteigerten Wahrnehmung der Natur belohnt. Wir können das nur bestätigen.
Die Vogelbeobachtung stärkt etwas in uns, was man das visuelle Gedächtnis nennen kann, aber nicht nur das – auch die Umgebung, in der man dieses Erlebnis gehabt hat, prägt sich ein, sodass auch kleine und scheinbar unbedeutende Dinge in der Erinnerung haften bleiben.
Davonfliegen
Dabei muss man nicht unbedingt in die Antarktis reisen, wo Conradi sich vom Anblick eines Wanderalbatros hinwegtragen lässt. Er schildert diese Begegnung im ersten Kapitel in so anschaulich, dass man als Leser*in das Gefühl hat, man wäre selbst dabei: frierend auf dem Heck des Schiffes, das sich in der Nähe von Cap Hoorn durch die Wellen kämpft und dann auf den Schwingen des Wanderalbatros. Dieser mächtige Vogel hat eine Flügelspannweite gut 350 cm und ist in der Lage, bis zu tausend Kilometer am Tag zurückzulegen. Conradi ist von diesem Erlebnis so ergriffen, dass er sogar die eisige Kälte vergisst, während er sich ganz in den Vogel versenkt:
Ich verschwand in dem magischen Gleiten des großen Vogels, der da langsam auf mich zukam. In der Beobachtung wurde ich für lange Minuten Teil seines Fluges, Teil dieser Leichtigkeit und Schönheit.
Aufmerksam sein
Aber was hat Zen mit Vogelbeobachtung zu tun, und muss man Zen-Buddhist sein, um Vögel zu beobachten? Muss man natürlich nicht. Aber es ist sehr geschickt, wie Conradi en passant eine kleine, verständliche Einführung in den Zen-Buddhismus mit der Kunst der Vogelbeobachtung verwebt. Er erläutert die kontemplative, also beobachtende Haltung von Zen und macht dann deutlich, dass es weder beim Zen noch beim Birding, wie die Engländer sagen, um ein absichtliches Wollen geht. Jeder Ehrgeiz wäre fehl am Platz!
Es geht nicht darum, diesen oder jenen seltenen Vogel rund um den Erdball zu jagen (obwohl es natürlich solche „Birder“ auch gibt); es kommt auch nicht darauf an, jeden Vogel, den wir sehen oder hören, fehlerfrei zu bestimmen. Es geht um die bewusste Haltung der aufmerksamen, wachen Wahrnehmung der Umgebung, anderer Menschen und vor allem der Natur. Und genau hier liegt für den 1944 geborenen Autor der Schnittpunkt von Zen und Vogelbeobachtung.
Die Aufmerksamkeit, mit der man Vögel wahrnimmt, hat zugleich etwas Waches (die Vögel sind so lebhaft und schnell) und Meditatives an sich.
Was Conradi damit meint, wird deutlich, wenn er einen Waldgang mit Fernglas und Riesenschnauzer-Hündin Lolla beschreibt. Dieser Wald in der Nähe seines Hauses in der Uckermarck wird durchzogen von einem Fließ, einem drei Meter breiten Wasserlauf, der dem urwaldartigen Stück Land eine ganz besondere Atmosphäre verleiht. Conradi schafft es hier, wie auch an anderen Stellen im Buch, aufzuzeigen, wie aus der Vogelbeobachtung ganz nebenbei ein genaueres Beobachten und Wahrnehmen der Natur wird. Es macht Freude diese Naturbeschreibungen zu lesen, und motiviert, beim nächsten Spaziergang öfter stehen zu bleiben, zu lauschen und in die Runde zu schauen.
Blickduell im Grunewald
Neben der Antarktis und der Seenlandschaft der Uckermarck nimmt uns Conradi mit ins Allgäu, wo er beim Langlaufen an einem verschneiten Bachlauf eine Wasseramsel entdeckt, der einzige Singvogel, der taucht und schwimmt. Auf Helgoland beobachtet er den sogenannten Lummensprung junger, noch flugunfähiger Trottellummen, die sich, angefeuert von ihren Vogelvätern, von einer Klippe stürzen. Im Kapitel über Sylt erklärt er, wie die synchron wirkenden Bewegungen riesiger Vogelschwärme zustande kommen: von der Mitte der Vogelwolke aus, die keinen wirklichen Anführer hat. Und im Berliner Grunewald begegnet Conradi Schwarzspechten, Schwänen und Zeisigen und einmal einem großen Keiler, der sich ein High-Noon-Blickduell mit Hund Lolla liefert. Jeder, der schon mal einem Wildschwein im Wald begegnet ist, weiß, dass in solchen Situationen jede Menge Adrenalin durch die Adern aller Beteiligen fließt.
Senkrechte der Zeit
Conradis Abschweifungen in die Literatur, Philosophie und Musik (singen Amseln schöner oder Nachtigallen?) machen dieses sorgsam gestaltete, in Leinen gebundene Buch in meinen Augen besonders lesenswert.
So etwa in der Mitte des Buches macht uns der Autor mit dem französischen Philosophen Henri Bergson (1859 – 1941) vertraut, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts kluge Gedanken zum Thema Zeit machte. Conradi über Bergson:
Er unterschied dabei »temps« und »durée«, also Zeit und Dauer. Den Begriff der »temps« assoziierte er mit dem mechanischen Ablauf der Zeit, wie der Zeiger jeder Bahnhofsuhr sie ruckend anzeigt, den Begriff »durée« mit der subjektiven Erfahrung der Zeit, die eben so gar nicht nach Art der gleichförmig tickenden Uhr vergeht.
Über diesen philosophischen Exkurs landet Conradi wieder bei der Vogelbeobachtung. Denn, wenn wir stehenbleiben, um einen Vogel zu beobachten, dann ist das, so Conradi, wie ein Innehalten, eine Besinnung, ein Hier und Jetzt, bei dem die Zeit nicht mehr ruckend weiterläuft, sondern stehenbleibt. Diese »durée« nennt er die Senkrechte der Zeit.
Das Lob des Stehenbleibens ist auch deshalb so berechtigt, weil das Verharren zu etwas führt, was man »Umsicht« nennen könnte, die plötzliche Wahrnehmung der Umgebung, in der man sich befindet. Es ist als öffne sich ein Vorhang (…).
Etliche Vorhänge öffnet auch dieses feine, kluge Buch, und es lohnt sich, bei der Lektüre immer wieder innezuhalten, oder – noch besser – das Fernglas zu schnappen und auf Entdeckungstour zu gehen. Vögel beobachten lehrt Demut und Geduld im Hier und Jetzt, und hat, wie wir mit dem Eisvogel gesehen haben, auch viel mit Glück zu tun.
Buchinformationen
Arnulf Conradi
Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung
Verlag Antje Kunstmann, München, 2019
ISBN 978-3-95614-289-5
240 Seiten, Hardcover mit Leinenumschlag
20 Euro
Weitere Informationen
Vogelbestimmung
Lars Svensson, Killian Mullarney, Dan Zetterström
Der Kosmos Vogelführer
Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, 2017
400 Seiten, Hardcover
29,99 Euro
Vogelstimmen
Eine interessante App ist Vogelstimmen ID von Sunbird. Gibt’s für iPhone und Android für 4,99 Euro
Ferngläser
Ferngläser gibt es viele, in allen Qualitäten und Preisen. Fakt ist, man braucht kein Profi-Fernglas, um in die Vogelbeobachtung einzusteigen. Die Süddeutsche hat vor einem Jahr mal einen kleinen Vergleichstest gemacht, den man hier online nachlesen kann
Vögel im Internet
Auch hier gibt es viele Seiten. Eine gute, seriöse Anlaufstation ist auf jeden Fall die Website des NABU Deutschland.
Wir danken Frau R. vom legendären Tübinger Teeladen Hinrichs Teehus für den Buchtipp!
N.K. | C.K.
Es ist viele Jahre her, dass ich mich in Budapest einem Mann näherte, der mit ausgestreckter Hand vor einem Busch stand, in welchem zahlreiche Vogelstimmen zu hören, aber keiner zu sehen war. Und dann saß da plötzlich ein winziger Spatz auf seiner Hand, der mit dem Schnäbelchen eifrig etwas daraus aufpickte … Der Mann bemerkte mich, winkte mich herbei, legte mir ein paar Körner auf die Hand und gab mir zu verstehen, diese ebenfalls weit von mir zu strecken. Und wirklich: es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich einer auf meine Fingerspitzen setzte und vorsichtig einige Körner in seinem Schnabel verschwinden ließ. Es war ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Meine Frau hat mal einen gefiederten Winzling aufgehoben, der gegen das Terrassenfenster geflogen war und benommen liegen blieb. Sie hat diesen in die Hand genommen und mit einer Pipette Wasser ins Schnäbelchen verabreicht, was diesem offenbar aus der Benommenheit geholfen hat. Es schaute sekundenlang meiner Frau ins Gesicht und flog dann davon. In jungen Jahren kann ich mich erinnern, dass mir mal ein Vögelchen aufs Knie geflogen war, mich dort ein zwei oder drei Sekunden lang ungläubig betrachtete, bevor es dann ebenfalls Reißaus nahm … In der Tat, sollte man sich mehr Zeit nehmen und den Gefiederten öfter mal zuschauen, wie z.B. den immer weniger werdenden Amseln. Oder dem Gezwitscher der Spatzen lauschen, wenn sich diese in einer lang gestreckten Hecke über dies und das „unterhalten“. All das versetzt mich oft in eine Wunderwelt, aus der man sich kaum lösen mag. Wollen wir hoffen, dass uns und den nächsten Generationen solche Erlebnisse erhalten bleiben und man sich dabei immer wieder daran erinnert, wie vielfältig und schön diese Welt ist. Ein Eisvogel …, da kann ich nur gratulieren, weil ich diese nur aus Naturfilmen kenne …
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