„Vor einiger Zeit begegnete mir zum ersten Mal nach sehr langer Zeit jener Mensch wieder, der in der Kindheit mein Wunschbruder gewesen war und der mich damals fast umgebracht hätte.“
„Der Wunschbruder“
Wenzel Bogatz heißt er, dieser Wunschbruder. Und „Der Wunschbruder“ heißt auch der berührende, unbedingt lesenswerte Roman von Kurt Oesterle. 533 Seiten stark ist Oesterles Bildungs-, Entwicklungs- und Heimatroman, dabei keine Seite langweilig, moralisierend oder gar kitschig, wie man es beim dem Etikett „Heimatroman“ durchaus erwarten könnte. Doch zurück zu den ungleichen Brüdern.
Der Junge, der sich so sehnsüchtig einen Bruder wünscht, heißt Max Stollstein. Ein Einzelkind, geboren Mitte der fünfziger Jahre im fiktiven Rotach am Wald, einem Dorf in Nord-Württemberg fernab vom Schuss. Max wohnt mit seinen Eltern und Großeltern in
„einem hundertjährigen Haus an der Straße zum Friedhof, nahe dem Ortsrand. Straßennamen gab es in diesem Teil des Dorfs keine, nur Hausnummern, und unsere war auf einem wappenförmigen Stein über der Tür zu lesen: 79.“
Der Vater von Max ist Schreiner und arbeitet in der eigenen Werkstatt im Haus. Er schafft, wie es in der Wirtschaftswunderzeit nicht unüblich war, fast Tag und Nacht für ein bisschen Wohlstand und den Traum vom neuen Haus mit Zentralheizung und richtigem Klo.
Verwahrlostes Vertriebenenkind
Wenzel Bogatz, mit dem Max ab 1962 die örtliche Grundschule besucht, wohnt mit seinen Eltern zur Miete bei einer Bäuerin und Kriegerwitwe. Und wer zur Miete wohnte damals auf dem Dorf, konnte eigentlich nur heimatvertrieben sein. Bei den Alteingesessenen war es üblich, dass einem das Haus gehörte, in dem man lebte. Wenzel und seine Eltern sind Heimatvertriebene; und die hatten es nicht leicht in der Nachkriegszeit. Noch zu meiner Schulzeit in einer schwäbischen Kleinstadt in den sechziger und siebziger Jahren wurden Vertriebene häufig abfällig als Rucksackdeutsche bezeichnet. Die meisten dieser Flüchtlinge waren, zumindest in meiner Erinnerung, sparsam und fleißig und haben es nicht selten schnell zu einem eigenen Häuschen gebracht. Auch dank des Lastenausgleichs, mit dem man sie für den Verlust ihrer Häuser und Höfe finanziell zu entschädigen suchte.
„Doch man neidete ihnen ihren neuen Besitz, man behauptete, daß er mit falschen Angaben über Gehöfte und Güter erschwindelt sei, weshalb mitunter der Satz zu hören war: »Schau, der Mond ist auch ein Flüchtling, er hat einen Hof!«“
Dass der Verlust der Heimat mit keinem Geld der Welt aufzuwiegen war, wollten die meisten Alteingesessenen nicht verstehen, auch in Rotach nicht. Wie traumatisch neben den Schrecken des 2. Weltkriegs dieser Verlust für viele Menschen war, zeigt uns Kurt Oesterle gleich zu Anfang des Romans in der Person des Grundschullehrers Randolph Schumann. Der war Anfang der fünfziger Jahre mit seiner Familie aus der DDR nach Rotach geflüchtet. Schumann, der gebürtige Erzgebirgler, kommt im Unterricht schnell vom trennenden römischen Limes, zur trennenden Schandmauer, zum Todesstreifen, zu den Deutschen, die auf Deutsche schießen. Er gerät regelmäßig darüber in Wut und leidet schmerzlich daran.
Behütetes Einzelkind
Max Stollstein, das einsame, sensible und kunstsinnige Einzelkind hat diesem entwurzelten Randolph Schumann zwei Dinge zu verdanken. Zum einen ist es Schumann, der unbedingt dafür plädiert, Max auf die Oberschule zu schicken; und es ist Schumann, der Wenzel Bogatz einmal mit dem Stock so prügelt, dass das Blut läuft, worauf Max seinen zukünftigen Wunschbruder und Freund nach Hause begleiten muss. Dieses Zuhause besteht aus einem großen Zimmer mit einem Tisch, drei Stühlen und einem Bett. Fließend Wasser? Fehlanzeige. Wenzel freilich scheint die Gewalt des Lehrers nicht sonderlich zu beeindrucken. Ein frühes Anzeichen seiner Resilienz, seiner Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, statt in ihnen unterzugehen? Überhaupt Gewalt, damals durchaus noch üblich, nicht nur bei der Kindererziehung, sondern eben auch in der Schule. Oesterle schreibt:
„Gewalt war gut eingebürgert im Waldtal – ein uralters Erbe, älter als Viehzucht und Waldbau zusammen. Geprügelt wurde in den meisten Häusern, zu Straf- und Erziehungszwecken, oder einfach weil es Gewohnheitsrecht der Alten über die Jungen war, die immer noch Jüngere fanden, an denen sie üben konnten.“
Mit dieser Prügelepisode beginnt nun die Freundschaft und schließlich Pflegebruderschaft zwischen Max, dem behüteten Einzelkind, und Wenzel, dem stotternden Flüchtlingskind. Dessen Vater und Mutter sind schwere Alkoholiker, unfähig für das Kind richtig zu sorgen. Kurt Oesterle erzählt die Geschichte dieser beiden Freunde in einer wunderschönen Sprache. Selbst dann, wenn er die bordellartigen Zustände in Wenzels Elternhaus schildert, die schließlich dazu führten, dass die Eltern von Max den jungen Wenzel als Pflegekind aufnehmen. Damit geht für Max ein Traum in Erfüllung: der Traum von einem Bruder, an den er nicht mehr geglaubt hat. Dieser Traum allerdings nimmt im Verlauf des Romans alptraumhafte Züge an und steuert auf ein fatales Ende zu.
Wenzel Bogatz, das verwahrloste Vertriebenenkind, ist kein einfaches Kind für die bemühten Stollsteins und kein einfacher Wunschbruder für Max. Von Beginn an entzieht sich Wenzel immer wieder der Zuneigung von Max und der liebenden Fürsorge von dessen Eltern. Die Stollsteins, fleißige, grundehrliche Menschen, die für ihren Sohn Max nur das Beste wollen, leiden ebenso wie dieser an den Eskapaden Wenzels. Vor allem die Mutter, die sich bis zum Schluss Vorwürfe macht, das Pflegekind nicht genug zu lieben. Max bekennt als Erwachsener:
„daß dieser Wenzel es gewesen war, der mir als erster die Augen für menschliches Leiden geöffnet hatte, er hatte mich Mitgefühl und Respekt für den anderen gelehrt sowie Furcht um ihn; es war gleichgültig, ob er das gewollt hatte, niemand will unser Bestes, wir bekommen es immer geschenkt. Nie, nie wieder fühlte ich die Wucht des Lebens so wie in der Zeit mit ihm. Eine Geschichte, die fast auf den Tod hinausgelaufen wäre; das einzig Tragische, das mich jemals anrührte.“
Gefühlsachterbahn zweier Jungen
Kurt Oesterle nimmt uns aber nicht nur mit auf eine zehnjährige Fahrt in der Gefühlsachterbahn zweier heranwachsender Jungen. Dieser begnadete Erzähler lädt uns auch ein, mit ihm in eine längst untergangene dörfliche Welt einzutreten. Es ist die Welt der 50er und 60er Jahre. Wir nehmen Teil am Leben der alteingesessenen Bauern und Handwerker, von denen viele mit den zugezogenen Vertriebenen ebensowenig zurechtkommen wie mit dem Untergang der Hitler-Diktatur.
Oesterle schildert die Zeit des Wirtschaftswunders in einer klaren, bilderreichen Sprache ohne jedes „Wir-sind-wieder-wer-Pathos“ – dafür mit allen Härten. So sind die ewig langen Arbeitstage der Stollsteins der Preis für den Vorankommen. 16 Stunden, sechs Tage in der Woche laufen die Maschinen in der Werkstatt des Vaters. Die Mutter arbeitet im Betrieb mit, ebenso der kleine Max und der Großvater. Alle haben ihre Aufgaben auf dem Weg in eine bessere Zukunft. In den Neubaugebieten schießen die Häuser nur so aus dem Boden.
„Als um 1965 überall das massenhafte Bauen begann, sagte mein Vater: »Jetzt kommt die Stunde des kleinen Mannes.« Diese Stunde wollte er auch für sich und seine Familie nutzen. Der neuen Werkstatt würde in wenigen Jahren ein neues Wohnhaus folgen.“
Die Schreinerei brummt, denn für die meisten Bauherren macht Maxens Vater die Fenster. Schaffer, nennt man solche Leute auf Schwäbisch: ein großes Kompliment. Aber:
„Nach Feierabend saß er oft fahl und schweigend in unserer Küche wie in einem Wartesaal und lockte – Zigaretten rauchend, Most trinkend, vor sich hin murmelnd – den nächsten Arbeitstag herbei.“
Während in der Schreinerei die Maschinen unablässig kreischen, entwickelt sich über einen Zeitraum von rund zehn Jahren die ungleiche, dramatische Freundschaft zwischen Max und Wenzel. Hier Max, der sich vor Sehnsucht nach dem Freund verzehrt und alles für ihn tun würde. Dort Wenzel, der davon unbeeindruckt immer wieder abhaut, auch zu seiner alkoholkranken, verantwortungslosen Mutter. Ein ums andere Mal wird Max vor den Kopf gestoßen, ein ums andere Mal riskiert er seine eigene Zukunft, um seinem Wunschbruder seine Liebe zu beweisen. Ein packendes, mit viel Empathie erzähltes Drama, das schließlich mit der zweiten Vertreibung Wenzels endet.
Jahre später treffen sich die ungleichen Brüder als Erwachsene zufällig wieder. Oesterle beginnt seinen spannenden Roman mit diesem ersten Wiedersehn. Wir Leser folgen ihm gefesselt und häufig gerührt Seite um Seite. Mit dem erwachsenen Max nehmen wir Teil an der dramatischen Lebensgeschichte des erwachsenen Wenzel, der sich später Wolfgang nennt, und der trotz existenzieller Krisen nicht untergangen ist.
„Wenzel nahm freiwillig Abschied von uns und begab sich auf eine unfreiwillige Reise, zuerst hinunter in seinen allertiefsten Kummer, um danach vielleicht doch noch zu erreichen, was seine Mutter, seine Eltern niemals erreicht hatten: den Neuanfang“
Hat dieses wunderbare Buch auch einen Fehler? Ja, ich hätte gerne noch mal hundert Seiten von dieser melancholisch-schönen Sprache genossen.
Infos zum Buch
Kurt Oesterle: Der Wunschbruder
Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen, 2014
ISBN 978-3-86351-081-7
Erhältlich in jeder guten analogen Buchhandlung
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