Am 20. Januar 2025 wird der neue Präsident der USA vereidigt. Sein Schattenpräsident, der von der Demokratie nicht überzeugte Tech-Milliardär Musk wird vermutlich mit auf dem Podium sitzen. Am 23. Februar 2025 wählt Deutschland ein neues Parlament, die völkisch gesinnten Rechtspopulisten wittern Morgenluft. In Österreich wird womöglich bald ein Mann Kanzler, der auch vor rechtextremen und völkischen Aussagen nicht zurückschreckt.
Viel Stoff eigentlich für informative, gut recherchierte Sendungen, die Lügnern und Hetzern entgegentreten. Aber irgendwie befand sich Deutschland gefühlt in einem überraschend langen Winterschlaf. Zumindest wenn wir gelegentlich in den letzten Wochen den Fernseher eingeschaltet haben, hat uns die Fülle an belanglosen (Feiertags-)Reden und banalen bis stupiden Sendungen überrascht, von den Ablenkungen durch die ständigen Sportübertragungen ganz zu schweigen. Dabei wäre es höchste Zeit, den leisen und vernünftigeren Stimmen mehr Aufmerksamkeit zu widmen.
Demokratie setzt Rechtsstaatlichkeit voraus
Wir beziehen in unserem heutigen Beitrag politisch Stellung. Dazu wollen wir heute ein Buch vorstellen, das in jeder Hinsicht schwere Kost ist, absolut kein Wohlfühlbuch sozusagen. Aber vielleicht ein Buch der Stunde! Dazu gleich.
Denn ob die Staatsform der Demokratie in Deutschland und Europa weiter Bestand haben wird, entscheidet sich auch am 23. Februar 2025. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle sprach in einem lesenswerten Interview mit dem Soziologen Armin Nassehi (Kursbuch 220, 12/2024) davon, dass wir gerade die „Schicksalsjahre der Demokratie“ erleben.
Rechtsstaat und Demokratie hängen zusammen. Ohne Rechtsstaatlichkeit ist eine Demokratie nicht möglich. Deshalb: wer gegen Maßnahmen ist, die die Rechtsstaatlichkeit essentiell schützen, denkt und handelt undemokratisch. So geschehen im Dezember 2024, als die AfD sowie das BSW (letztere in Teilen) gegen die nun im Grundgesetz verankerten Regeln zum Schutz des Bundesverfassungsgerichts votierten. Alle anderen Parteien, CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke sowie FDP stimmten für das Gesetz.
„Nicht jeder, der AfD wählt, ist gleich rechtsextrem oder ein Nazi.“ Dieser Satz ist uns erst neulich wieder begegnet, und es ist nicht immer einfach, ihm zu entgegnen. Es mag Wähler geben, die (immer noch) aus Protest AfD wählen und sich nicht mit ihren Programminhalten und den immer hasserfüllteren Aussagen von AfD-Politiker*innen auseinandersetzen. Diese Protestwähler sollten sich klar machen, dass sie einer Partei, die sich nachweislich antidemokratisch verhalten hat (s. oben), ihre wertvolle Stimme geben. Dabei könnte jeder, der es für sinnvoll hält, seinen Protest auch bei der Wahl anders kundtun. Indem er nicht wählen geht, oder besser noch, wählen geht und eine ungültige Stimme abgibt, „voter blanc“ nennt man das in Frankreich, wo diese Stimmen extra ausgewiesen werden.
»Das Lied des Propheten«
Das Buch, das wir heute vorstellen, heißt Das Lied des Propheten des irischen Autors Paul Lynch. Es wurde 2023 mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnet und ist 2024 bei Klett-Cotta auf Deutsch erschienen.
„Dein ganzes Leben lang hast du geschlafen, wir alle haben geschlafen, und jetzt beginnt das große Erwachen.“
Dieser dystopische, von Beginn an fesselnde Roman spielt in Irland. Die Protagonistin ist Eilish Stack, promovierte Molekularbiologin, die im gehobenen Management arbeitet und mit ihrem Mann Larry vier Kinder hat: Mark, der im Laufe des Romans 17 Jahre alt wird, Molly 14jährig, Bailey 12jährig und das Nachzügler-Baby Ben.
Das Unheimliche, anfangs noch vage Bedrohliche, trägt kurze Zeit kafkaeske Züge – denn Eilish bekommt zu Hause Besuch von zwei Polizisten, die ihren Mann Larry sprechen wollen, ohne dass ihr in irgendeiner Weise erklärt wird, worum es geht. Sehr schnell wird jedoch klar, dass es der neuen faschistischen Macht um die Ausschaltung kritischer Stimmen geht – und Larry ist ein hochrangiger, engagierter Gewerkschaftsfunktionär. In dieser Funktion ist er eigentlich besonders geschützt, aber dieser Schutz wird, wie so vieles andere, auf das man sich in einer Demokratie einfach verlässt, im folgenden ausgehebelt durch eine sogenannte „Notverordnung“. So auch die Habeas-Corpus-Akte aus dem Jahr 1679, nach der kein Untertan der englischen Krone ohne gerichtliches Verfahren in Haft gehalten werden darf.
„(…), tatsächlich hat der Staat nun Sonderrechte und hat die Gerichte mundtot gemacht.“
Widerstand zu leisten, wenn es bedrohlich wird, dazu ist der Gewerkschaftsanwalt Michael Given – Eilish nennt ihn feige Zunge – nicht bereit. Zum Helden sind, wenn es ernst wird, nur ganz wenige geboren.
Eilish ist bereits in ihrem normalen Alltag als vierfache Mutter und berufstätige Frau, die sich zudem noch um ihren allein lebenden, langsam dement werdenden Vater kümmern muss, sehr gefordert. Nach Larrys Verhaftung und ohne jede Information über seinen Verbleib bricht das Organisationskonstrukt der Familie schnell zusammen. Das Sich-Verlieren oder Sich-Festhalten an Details, das Nicht-Sehen-Wollen von dem, was passieren wird, ist für geschichtsbewusste Leser fast unerträglich. Dabei wird die Replay-Taste der Geschichte so eindeutig gedrückt, denn:
„Wieder wird in den Nachrichten eine Verordnung verkündet, das Hören oder Lesen jedweger ausländischer Medien ist verboten worden, Nachrichtensender aus dem Ausland werden blockiert, mit dem heutigen Tag beginnt auch eine Internetsperre.“
Was stimmt noch, was nicht?
In kürzester Zeit weiß niemand mehr, was stimmt. Die Durchschnittsmenschheit macht Panikkäufe, schnell gibt es viele Güter nicht mehr, es kommt einer dramatischen Inflation. Jede Aufgabe im Alltag wird zu einer Überforderung. Mal gibt es Strom, dann wieder nicht. Das Leben scheint eine einzige Willkür zu sein. Misstrauen macht sich breit, auch unter Menschen, die sich lange kennen.
Eilishs Schwester, die in Kanada lebt, rät ihr dringend zur Flucht. Eilish widerstrebt dies, und man kann sie verstehen: Sie hat das Gefühl, ihren Vater, ihren Mann und dann auch ihren ältesten Sohn, der sich entschlossen hat, mit den Rebellen Widerstand zu leisten, im Stich zu lassen. Zudem wird ihr der Reisepass für das Baby Ben verweigert.
It could be worse. So lautet eine gängige irische Redewendung, die eigentlich tröstlich gemeinst ist. Aber für Eilish nimmt das Drama seinen Lauf. Sie verliert ohne Angaben von Gründen ihre Arbeit. Schulen schließen. Die Tochter Molly will nichts mehr essen, Bailey spricht ständig von einem Wurm. In den Straßen kommt es immer häufiger zu kriegsähnlichen Zuständen mit Detonationen, Scharfschützen stehen an vielen Ecken. Die existenzielle Bedrohung ist alltäglich. Wir wollen es von der Handlung her hierbei belassen. Denn es kommt noch schlimmer, viel schlimmer.
Wie hätte man wissen können?
Alle Dialoge, und davon gibt es viele, sind in einem Fließtext geschrieben, was etwas gewöhnungsbedürftig ist, aber von Beginn an einen unglaublichen Sog erzeugt. Ab Kapitel 8 (mit Beginn der Straßenkriege) wird das Lesen dann noch ein wenig mühsamer, weil schwer zu unterscheiden ist, was tatsächlich passiert, und was sich nur in Eilishs Vorstellungen abspielt. Es ist das – vom Autor bewusst gewollte – Chaos, das sich auf die Leser überträgt.
Mona, eine Frau, die Eilishr auf der viel zu späten Flucht begegnet, spricht aus, worin das Problem besteht:
„Wie hätte überhaupt jemand wissen können, was noch passiert, andere haben es anscheinend ja gewusst, aber ich hab nie verstanden, wie die so sicher sein konnten, also das hätte man sich niemals vorstellen können, im Leben nicht, was da noch alles passiert, und ich hab die, die fort sind, nie verstanden, wie die einfach so gehen konnten, alles zurücklassen, ihr ganzes Leben, wie sie gelebt haben, für uns war das damals vollkommen ausgeschlossen, (…)“
„Das Lied des Propheten“ ist das Buch für unsere Zeit und erschreckend aktuell, wenn man sich vor Augen führt, wie gerne Rechtsextreme und Rechtspopulisten in Deutschland und ganz Europa die Axt an demokratische Institutionen wie zum Beispiel Verfassungsgerichte oder den öffentlich-rechtlichen Rundfunk legen wollen.
Wenn wir gerade die „Schicksalsjahre der Demokratie“ erleben, sollten wir alle die Chance nutzen, am 23. Februar 2025 für die Demokratie und gegen die Feinde der Demokratie zu stimmen. Denn kein vernünftiger Mensch von heute will das erleben, was Eilish Stack und ihre Familie erleben müssen.
NK | CK
Buchinformation
Paul Lynch
Das Lied des Propheten
Aus dem Englischen von: Eike Schönfeld
Klett-Cotta-Verlag, 2024
320 Seiten, gebunden,
ISBN: 978-3-608-98822-2
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