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Und jetzt? Die wunderbaren Jahre!

Wie alle autoritären Regime konnte sich auch die DDR auf willige Helfer verlassen

Wie alle autoritären Regime konnte sich auch die DDR auf willige Helfer verlassen

Das wunderbare Antiquariat

Immer wenn wir am Samstag mit dem Bus aus der Stadt nach Hause fahren, kommen wir auf dem Weg zur Bushaltestelle an einem der letzten Antiquariate Tübingens vorbei.

Blick ins Paradies: Antiquariat Bader in der Tübinger Wilhlelmstraße

Blick ins Paradies: Antiquariat Bader in der Tübinger Wilhlelmstraße

Norbert Schuler heißt der stets freundliche Inhaber des legendären Antiquariats Bader, und er ist umgeben von tausenden von Büchern. Ein Paradies! Einige dieser Schätze stellt Herr Schuler immer in seine Stöberkästen vor die Tür. Ganz ehrlich, ich kann da nicht vorbeilaufen, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Und ich finde fast immer ein interessantes Buch.

Die wunderbaren Jahre

Reiner Kunze, Die wunderbaren Jahre, 1976Vor ein paar Wochen habe ich dort „Die wunderbaren Jahre“ von Reiner Kunze entdeckt und sofort gekauft. Ein Klassiker, und ich wollte das Buch schon lange mal lesen. Die schmale Sammlung von Prosatexten wurde 1976 erstmals in der Bundesrepublik veröffentlicht. Reiner Kunze hat die Texte zu seinem Buch 1975 in der DDR verfasst und dann in die Bundesrepublik schmuggeln lassen. Die DDR-Oberen waren nicht begeistert von dem, was sie da lesen mussten. Kunze wurde aus dem Schriftstellerverband der DDR geworfen, bekam jede Menge Schwierigkeiten und siedelte schließlich mit seiner Familie im April 1977 in die Bundesrepublik Deutschland über.

Die Schulbehöre in N. wies die Direktoren an, zu verhindern, daß Fach- und Oberschüler die Mittwochabend-Orgelkonzerte besuchen. Lehrer fingen Schüler vor dem Kirchenportal ab und sagten den Eltern: Entwederoder. Eltern sagten ihren Kindern: Entwederoder. Bald reichten die Sitzplätze im Schiff und auf den Emporen nicht mehr aus. (Meldung, die in keiner Zeitung stand)

Reiner Kunze beschreibt in dem Band in kurzen, prägnanten Texten alles andere als wunderbare Jahre für die jungen Menschen der DDR. Seine ummissverständliche Kritik am System der DDR, das gnadenlose Anpassung und strikten Gehorsam verlangte, kommt hier klar zum Ausdruck. Es wundert nicht, dass Kunzes Akte bei der Staatssicherheit, Decknahmen „Lyrik“ zum Ende der DDR mehr als 1000 Seiten umfasste.

„Na gut“, sagte der Direktor, „es waren keine ausgewaschenen Jeans, es waren hellblaue Cordhosen, einverstanden. Aber müssen es überhaupt Hosen sein? Wenn die Mädel so angetreten sind, alle in ihren kurzen Röcken, das gibt doch ein ganz anderes Bild.“ Dabei schnalzte er mit der Zunge.

In nüchternen Sätzen drückt Kunze aus, wie sehr der SED-Staat auf Unterdrückung, Homogenität, frühe Militarisierung und Gehorsam setzte. Und er macht deutlich, wie sehr dieser Unrechtsstaat Angst vor der individuellen Entfaltung seiner Bürgerinnen und Bürger hatte. Alles war diesem Staat verdächtig: Jeans, Orgelmusik, Bücher, Nickelbrillen und vieles mehr. Gerade für junge Menschen muss diese permanente Kontrolle und Gängelung kaum erträglich gewesen sein. Wie gut die sozialistische Erziehung schon bei den kleinsten DDR-Bürgern in der Grundschule funktioniert hat, zeigt der erste Text dieses sehr lesenswerten Buches.

SECHSJÄHRIGER
Er durchbohrt Spielzeugsoldaten mit Stecknadeln. Er stößt sie ihnen in den Bauch, bis die Spitze aus dem Rücken tritt. Er stößt sie ihnen in den Rücken, bis die Spitze aus der Brust tritt.
Sie fallen.
„Und warum gerade diese?“
„Das sind doch die anderen.“

„Die wunderbaren Jahre“ wurden schnell zu einem Beststeller, von westdeutschen Linken mit Betroffenheit gelesen, der in viele Sprachen übersetzt wurde. Das Buch ist ein eindrückliches, lesenswertes Zeitzeugnis, über das der Literaturchef der ZEIT und Autor Adam Soboczynski vor ein paar Jahren sagte:

„Wer noch oder wieder glaubt, die DDR sei ein an sich lohnendes Experiment gewesen, sollte diesen Klassiker zur Entgiftung lesen.“

Und jetzt? Wählen gehen, Demokratie stärken!

Vor ein paar Tagen habe ich in der Süddeutschen Zeitung ein Bild von einer AfD-Demonstration gesehen. Zu sehen ist ein mittelalter Mann mit schwarzer Wollmütze und  zwei großen Flaggen an einer Stange, die er über der Schulter trägt. Es sind die Flaggen Russlands und der DDR. Wenn man nach der Lektüre von Kunzes Buch so ein Bild sieht, versteht man die Welt nicht mehr. Die unverhohlen zur Schau getragene Ostalgie und die Sehnsucht nach einem autoritären Staat gehören aber offensichtlich zum Umdeutungsprogramm der DDR-Vergangenheit von rechts. So beschreibt es der Historiker Volker Weiß in seinem neuen Buch „Das Deutsche Demokratische Reich“, das Ronen Steinke gerade in der Süddeutschen Zeitung rezensiert hat.

Am Sonntag wird der Deutsche Bundestag neu gewählt, und man fragt sich, wie das alles zusammengeht? Auf der einen Seite der Ruf von rechts nach einem kompromisslosen, autoritären Staat mit einer völkischen Gesinnungspolizei, auf der anderen Seite dieses ständige verlogene Gejammere der rechten Populisten, dass man in Deutschland nicht mehr alles sagen dürfe.

Aber der Blick nach Westen über den Atlantik, für die Jugendlichen in Ost und West lange Zeit eine Art gelobtes Land, stimmt einen auch nicht hoffnungsfroh in diesen Tagen. Die Trump-Administration hat Meinungsfreiheit längst umdefiniert. Sie gilt nur noch für jene, deren Äußerungen zu Trumps irrem Plan des sogenannten Golden Age of America passen. Willkommen im Jahr 1984!

Ich wünsche uns allen eine gute, demokratische Wahl! Seien wir fürsorglich zu unserer liberalen Demokratie, sie hat lange gehalten, aber sie ist zerbrechlich. Dabei brauchen wir sie gerade jetzt!

NK | CK

Buchinformation

Reiner Kunze
Die wunderbaren Jahre
FISCHER Taschenbuch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-596-22074-8
Neuausgabe mit einem Vorwort von Ines Geipel

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Ausgediente DDR-Grenzanlagen in bei Meiningen

Ausgediente DDR-Grenzanlagen in bei Meiningen

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Am Valentinstag paaren sich die Vögel

Luftiger Balztanz der Tauben

Luftiger Balztanz der Tauben

Spazieren und Staunen

„Um die Februarmitte, am Valentinstag, paaren sich die Vögel. Aber die Vögel müssen aufpassen, daß die Bitternis der Welt ihre Liebe nicht zerreißt.“

Diese poetischen Zeilen schreibt der Schriftsteller Wilhelm Lehmann am 8. Februar 1928 in sein »Bukolisches Tagebuch«. 2014 hat Judith Scharlansky das Buch in der bibliophilen Reihe »Naturkunden« im Verlag Matthes & Seitz herausgegeben. Man kann die Herausgeberin und den Verlag für diese wunderbare Reihe gar nicht genug loben. Die Bücher zu den unterschiedlichsten Themen sind hervorragend gesetzt und gestaltet und sehr gut produziert. Inhalt, Satz, Papier, Bindung, Umschlag: da stimmt alles.

„Wer denkt, daß wir Menschenkinder auf einer Kugel hausen, die durch den unendlichen Raum kreist, wird sich mit Lichtenberg nicht darüber wundern, daß der Wind über die Erde geht, wohl aber, daß je Windstille bei uns gedeihen kann.“

Wilhelm Lehmann, Jahrgang 1882, wuchs in Hamburg als Sohn eines Kaufmanns und einer Arzttochter auf. Er studierte in Tübingen, Straßburg und Berlin Philosophie und Naturkunde. Im Ersten Weltkrieg desertierte er und geriet in englische Gefangenschaft. Später unterrichtete er bis 1947 als Lehrer in Eckernförde an der Ostsee Deutsch und Englisch. 1923 erhielt er, gemeinsam mit Robert Musil, den Kleist-Preis. Lehmann starb 1968 in Eckernförde.

Nicht auf Paarung sondern auf Beute aus, war dieser Bussard

Nicht auf Paarung sondern auf Beute aus, war dieser Bussard

Schöpfung in die Sprache retten

Sein «Bukolisches Tagebuch« hat dieser feine Autor in einer historisch dramatischen Epoche, zwischen Oktober 1927 und Oktober 1932, geschrieben. Ein Glücksfall für uns Leserinnen und Leser!

„Hinter dem leisen Gebirge des Feldes klirrt der Ruf der Rebhühner hervor. Es klingt wie das Wetzen von Messern. Denn der Winter stößt noch mit Eisdolchen.“

Hat man sich einmal auf den Lehmann-Sound eingelassen, folgt man ihm gerne auf seinen Spaziergängen im Verlauf der Jahreszeiten, immer hart am Wind, immer entlang der sturmgepeitschten Küste und der einsamen Wege im Hinterland Schleswig-Holsteins.

Wilhelm Lehmann, Bukolisches TagebuchAlles, was Lehmann sieht, und er übersieht nichts!, bringt ihn zum Staunen und ist ihm berichtenswert: Vögel im Sturm, neugeborene Schafe, Raupen, Mäuse, welke Blätter, von der Last der Arbeit gebeugte Menschen. Mit einem Wort: Dieser Dichter, der heute fast vergessen ist, lehrt uns sehen und staunen. Das ist Nature Writing in deutscher Sprache zu einer Zeit, als dieser Begriff in Deutschland noch nicht existierte.

»Jedes Tier, das vergeht, jede Art von Lebewesen, das ausstirbt, verdünnt das Weltvokabular, bringt uns weiter zurück von der Wahrheit, die nur aus dem Zusammenhang aller Wesen sich heraufarbeitet.«

Wilhelm Lehmann wollte, wie Hans Zischler im Nachwort schreibt, „die bedrohte Schöpfung in die Sprache retten“. Lehmanns »Bukolisches Tagebuch« zeigt uns die Schönheit und die Verletzlichkeit der Natur, von der wir nur ein Teil sind.

NK | CK

Buchinformation

Wilhelm Lehmann
Bukolisches Tagebuch
Paperback, 279 Seiten
Matthes & Seitz Berlin, 2022
ISBN: 978-3-7518-0116-4

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Beunruhigend: »Die Achse der Autokraten«

Schonungslose Analyse, eindringlicher Appell, klar formuliert: ein wichtiges Buch

Schonungslose Analyse, eindringlicher Appell, klar formuliert: ein wichtiges Buch

Autokratien im 21. Jahrhundert

„Jeder von uns hat ein Bild von einem autokratischen Staat im Kopf. An der Spitze steht der Schurke, ihm zur Seite Armee und Polizei, die den Bürgern mit Gewalt droht. Es gibt böse Mittäter und womöglich einige mutige Dissidenten.
Das ist jedoch eine Karikatur, die mit der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts wenig zu tun hat. Autokratien werden nicht von einem einzigen Bösewicht kontrolliert, sondern von raffinierten Netzwerken mit kleptokratischen Strukturen, einem komplexen Sicherheitsapparat aus Armee, Paramilitärs und Polizei sowie technischen Experten, die für Überwachung, Propaganda und Desinformation zuständig sind.“

So beginnt die »Achse der Autokraten« das aktuelle Buch der amerikanischen Historikerin und Journalistin Anne Applebaum, die im Herbst 2024 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat. Klingt ziemlich beunruhigend dieser erster Absatz, und das soll er auch sein. Denn die Lage ist beunruhigend. Weltweit geraten Demokratien immer stärker unter Druck, aktuell auch die älteste, seit 1776 bestehende Demokratie der Welt, die USA. Dort sind gerade ein paar Tech-Milliardäre dabei, mit Hilfe eines willfährigen Präsidenten einen Rechtsstaat in eine Firma exakt nach ihren libertären Vorstellungen umzubauen.

Die Historikerin Applebaum beschäftigt sich seit vielen Jahren mit autoritären Systemen. Für ihre Reportagen und Bücher wurde Applebaum, die in Polen lebt und mit dem polnischen Außenminister Sikorski verheiratet ist, vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Pulitzerpreis. In ihrem aktuellen Buch, das 2024 auf Deutsch erschien, befasst sich die mutige und extrem gut informierte Autorin mit Autokratien und Diktaturen im 21. Jahrhundert. Darunter ideologisch so verschiedene Länder wie Venezuela, China, Nordkorea, Russland, Simbabwe, Belarus, Iran, Syrien. Länder, die auf den ersten Blick wenig gemein haben – außer einer grenzenlosen Verachtung für unsere liberale westliche Ordnung und unsere freiheitliche Lebensweise.

Autokratisches Netzwerk

Wie sich diese Verächter der Demokratie, der Menschenrechte und des Völkerrechts gegenseitig unterstützen – mit Geld, Überwachungstechnologie, Waffen, Trollfabriken, Desinformationskampagnen uvm. – zeigt Applebaum auf 200 Seiten an zahlreichen Fallbeispielen schlüssig auf. Die Autorin beschreibt detailliert, wie sich die brutalen und korrupten Machthaber maßlos bereichern und bei der Bekämpfung ihrer inneren und äußeren Feinde, zu denen auch unsere Demokratie zählt, vor nichts zurückschrecken.

Einmal angefangen, kann man dieses spannende Buch nicht mehr aus der Hand legen, weil es Seite für Seite aufdeckt, wie fantastisch geschmiert das weltweite autokratische Netzwerk funktioniert; leider nicht selten auch unter Duldung westlicher, demokratischer Staaten, die sich nicht energisch genug um dubiose „Geldwaschanlagen“ oder Sanktionsumgehungen kümmern. Die Antworten unserer liberalen Demokratien auf die dramatischen Bedrohungen durch das weltweite autokratische Netzwerk sind zu schwach und werden von Despoten und autokratischen Tech-Oligarchen allenfalls belächelt. Zu beobachten gerade jetzt wieder, wenn die EU offensichtlich nicht in der Lage ist, die sogenannten sozialen Netzwerke (X, Facebook, Instagram, Tiktok) dazu zu bringen, die massenhafte Verbreitung von Propaganda, Gewalt, Desinformation und Fakenews zu unterbinden.

„Freiheitliche Gesellschaften können zerstört werden, von außen genauso wie von innen, durch Kriege und Demagogen. Oder sie können geretten werden – aber nur, wenn die von uns, die in ihnen leben, sich die Mühe machen, sie zu retten.“

Die »Achse der Autokraten« ist ein wichtiges Buch in einer beunruhigenden Zeit. Es ist fundiert recherchiert, schonungslos in der Analyse, klar geschrieben und ein unmissverständlicher Appell an alle demokratischen Staaten und ihre Bürgerinnen und Bürger, aufzuwachen und zu handeln, bevor es zu spät ist.

NK | CK

Buchinformation

Anne Applebaum
Die Achse der Autokraten. Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten
208 Seiten, Hardcover
Siedler Verlag, München, 2024
ISBN 978-3-8275-0176-9

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Die Reden zum Friedenspreis 2024 kann man hier nachhören

Die ARD-Sondersendung vom 20.10.2024 zur Verleihung des Friedenspreises in der Mediathek

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Kostbar! Blumen im Winter

Lichtblick im Winter: Kleines Immergrün (Vinca Minor)

Lichtblick im Winter: Kleines Immergrün (Vinca Minor)

Der Garten im Winter

„Wie kostbar sind uns doch die Blumen des Winters.“ (Vita Sackville-West)

Anstrengende Zeiten sind das grade. Die Nachrichtenflut reißt nicht ab, und meistens sind es keine ermutigenden Nachrichten. Da tut es gut, zwischendurch mal die Pausetaste zu drücken und sich den schönen Dingen zu widmen: zum Beispiel einer kleinen Immergrün-Blüte am Wegrand. Eigentlich blüht das winterharte Kleine Immergrün (Vinca minor) von April bis Juni, in milderen Wintern aber auch, siehe Foto, im Januar.

Wir sind sicher, der großen Gartengestalterin und Schriftstellerin Vita Sackville-West (* 9. März 1892; † 2. Juni 1962) hätte das Kleine Immergrün gefallen. In dem Buch »Mein Garten« (nur noch antiquarisch erhältlich) sind zahlreiche ihrer lesenswerten, amüsanten und lehrreichen Kolumnen, die sie für den Observer schrieb, enthalten. Vita Sackville-West, die auch die Geliebte von Virginia Woolf war, hat gemeinsam mit ihrem Mann Harold Nicholson einen der schönsten Gärten Englands gestaltet: Sissinghurst. Ein Besuch dort lohnt sich immer.

NK | CK

Buchinformation

Im Insel-Verlag gibt es die Kolumnen von Vita Sackville-West nach Jahreszeiten in einzelnen Taschenbüchern. Infos dazu hier.

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Der Garten von Sissinghurst Castle wurde ab 1930 von Vita Sackville-West und ihrem Mann Harold Nicolson angelegt. Foto: Norbert Kraas

Der Garten von Sissinghurst Castle wurde ab 1930 von Vita Sackville-West und ihrem Mann Harold Nicolson angelegt

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Das Mädchenorchester von Auschwitz

Barackenfenster im Konzentrationslager Natzweiler im Elsass

Barackenfenster im ehemaligen Konzentrationslager Natzweiler im Elsass

Mach dir keine Illusionen

»Kannst du Klavier spielen? Dann geh an den Flügel und spiele und singe „Madame Butterfly“.«

23 Jahre alt ist die Sängerin Fania Fénelon, als ihr diese Frage kurz nach der Ankunft im Frauenlager Auschwitz-Birkenau im Januar 1944 gestellt wird. Sie kann Klavier spielen, und sie kann singen. Ihre musikalische Ausbildung am Pariser Konservatorium rettet der jungen Frau das Leben. Als Fanny Goldstein wurde sie am 2. September 1919 in Paris als Kind jüdischer Eltern geboren. Im Mai 1943 wurde sie in Paris von der Gestapo als Mitglied der Résistance verhaftet.

Fania Fénelon wird in das Mädchenorchester von Auschwitz-Birkenau aufgenommen, das von der brillianten Geigerin und extrem strengen Dirigentin Alma Rosé, Nichte des Komponisten Gustav Mahler, geleitet wird. Die Strenge hat einen Grund: die jungen Musikerinnen spielen buchstäblich um ihr Leben. Das Orchester verdankt seine Existenz der SS-Lagerführerin Maria Mandl und dem Lagerkommandanten von Birkenau, Josef Kramer, die beide Musik liebten. Maria Mandl war verantwortlich für den Tod von tausenden weiblichen KZ-Häftlingen und wurde 1948 in Krakau hingerichtet. Der SS-Führer Josef Kramer, Lagerkommandant von Auschwitz-Birkenau, brauchte die Musik, um sich von seiner menschenverachtenden Tötungsarbeit zu erholen. Kramer wurde im Dezember 1945 im Bergen-Belsen-Prozess zum Tode verurteilt und hingerichet.

»Meine Stimme ist nicht tot«

Das Konzentrationslager Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 befreit

Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 befreit

In ihrem Buch »Das Mächenorchester von Auschwitz« erzählt Fania Fénolon die erschütternde Geschichte von ihrer Gefangennahme in Paris im Mai 1943 bis zu ihrer Befreiung am 15. April 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Zu diesem Zeitpunkt hing Fénelons Leben in zweifacher Hinsicht am seidenen Faden. Zum einen litt sie bereits während des Transports von Auschwitz-Birkenau nach Bergen-Belsen an lebensbedrohlichem Typhus, zum anderen waren sie und ihre Mitgefangenen schon zur Vergasung bestimmt, als das Lager in letzer Minute von englischen Infanteriesoldaten befreit wurde. Fénelon schildert ihre Rettung so:

»Der Soldat meint, ich sterbe, reißt mich aus meinem Sumpf, hebt mich auf seine Arme, es ekelt ihn nicht! Wie wohl fühle ich mich da! Ich muß leicht sein, federleicht (ich wog achtundzwanzig Kilo). An diese Männerbrust gedrückt, auf sie gestützt, meine Kraft aus der seinen schöpfend, stimme ich die Marseillaise an. Meine Stimme ist nicht tot, ich kann singen, ich lebe! …«

Wer mehr über den Holocaust und den brutalen Irrsinn der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschine wissen möchte, sollte die persönliche Geschichte von Fania Fénelon und dem Mädchenorchester von Auschwitz lesen. Fénelon schildert das erlebte Grauen in einer nüchternen Sprache und reflektiert dabei immer wieder über Gründe und Folgen der Entmenschlichung und Erniedrigung.

NK | CK

Buchinformation

Fania Fénelon
Das Mädchenorchester von Auschwitz
Taschenbuch, dtv Verlag
ISBN: 978-3-423-13291-6

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»Das Lied des Propheten« – Ein literarischer Weckruf!

Demokratie ist kein Selbstläufer. Es kommt auf jede und jeden von uns an.

Demokratie ist kein Selbstläufer. Es kommt auf jeden Baustein, auf jede und jeden von uns an.

Am 20. Januar 2025 wird der neue Präsident der USA vereidigt. Sein Schattenpräsident, der von der Demokratie nicht überzeugte Tech-Milliardär Musk wird vermutlich mit auf dem Podium sitzen. Am 23. Februar 2025 wählt Deutschland ein neues Parlament, die völkisch gesinnten Rechtspopulisten wittern Morgenluft. In Österreich wird womöglich bald ein Mann Kanzler, der auch vor rechtextremen und völkischen Aussagen nicht zurückschreckt.

Viel Stoff eigentlich für informative, gut recherchierte Sendungen, die Lügnern und Hetzern entgegentreten. Aber irgendwie befand sich Deutschland gefühlt in einem überraschend langen Winterschlaf. Zumindest wenn wir gelegentlich in den letzten Wochen den Fernseher eingeschaltet haben, hat uns die Fülle an belanglosen (Feiertags-)Reden und banalen bis stupiden Sendungen überrascht, von den Ablenkungen durch die ständigen Sportübertragungen ganz zu schweigen. Dabei wäre es höchste Zeit, den leisen und vernünftigeren Stimmen mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Demokratie setzt Rechtsstaatlichkeit voraus

Wir beziehen in unserem heutigen Beitrag politisch Stellung. Dazu wollen wir heute ein Buch vorstellen, das in jeder Hinsicht schwere Kost ist, absolut kein Wohlfühlbuch sozusagen. Aber vielleicht ein Buch der Stunde! Dazu gleich.

Denn ob die Staatsform der Demokratie in Deutschland und Europa weiter Bestand haben wird, entscheidet sich auch am 23. Februar 2025. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle sprach in einem lesenswerten Interview mit dem Soziologen Armin Nassehi (Kursbuch 220, 12/2024) davon, dass wir gerade die „Schicksalsjahre der Demokratie“ erleben.

Rechtsstaat und Demokratie hängen zusammen. Ohne Rechtsstaatlichkeit ist eine Demokratie nicht möglich. Deshalb: wer gegen Maßnahmen ist, die die Rechtsstaatlichkeit essentiell schützen, denkt und handelt undemokratisch. So geschehen im Dezember 2024, als die AfD sowie das BSW (letztere in Teilen) gegen die nun im Grundgesetz verankerten Regeln zum Schutz des Bundesverfassungsgerichts votierten. Alle anderen Parteien, CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke sowie FDP stimmten für das Gesetz.

„Nicht jeder, der AfD wählt, ist gleich rechtsextrem oder ein Nazi.“ Dieser Satz ist uns erst neulich wieder begegnet, und es ist nicht immer einfach, ihm zu entgegnen. Es mag Wähler geben, die (immer noch) aus Protest AfD wählen und sich nicht mit ihren Programminhalten und den immer hasserfüllteren Aussagen von AfD-Politiker*innen auseinandersetzen. Diese Protestwähler sollten sich klar machen, dass sie einer Partei, die sich nachweislich antidemokratisch verhalten hat (s. oben), ihre wertvolle Stimme geben. Dabei könnte jeder, der es für sinnvoll hält, seinen Protest auch bei der Wahl anders kundtun. Indem er nicht wählen geht, oder besser noch, wählen geht und eine ungültige Stimme abgibt, „voter blanc“ nennt man das in Frankreich, wo diese Stimmen extra ausgewiesen werden.

»Das Lied des Propheten«

Das Buch, das wir heute vorstellen, heißt Das Lied des Propheten des irischen Autors Paul Lynch. Es wurde 2023 mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnet und ist 2024 bei Klett-Cotta auf Deutsch erschienen.

„Dein ganzes Leben lang hast du geschlafen, wir alle haben geschlafen, und jetzt beginnt das große Erwachen.“

Dieser dystopische, von Beginn an fesselnde Roman spielt in Irland. Die Protagonistin ist Eilish Stack, promovierte Molekularbiologin, die im gehobenen Management arbeitet und mit ihrem Mann Larry vier Kinder hat: Mark, der im Laufe des Romans 17 Jahre alt wird, Molly 14jährig, Bailey 12jährig und das Nachzügler-Baby Ben.

Das Unheimliche, anfangs noch vage Bedrohliche, trägt kurze Zeit kafkaeske Züge – denn Eilish bekommt zu Hause Besuch von zwei Polizisten, die ihren Mann Larry sprechen wollen, ohne dass ihr in irgendeiner Weise erklärt wird, worum es geht. Sehr schnell wird jedoch klar, dass es der neuen faschistischen Macht um die Ausschaltung kritischer Stimmen geht – und Larry ist ein hochrangiger, engagierter Gewerkschaftsfunktionär. In dieser Funktion ist er eigentlich besonders geschützt, aber dieser Schutz wird, wie so vieles andere, auf das man sich in einer Demokratie einfach verlässt, im folgenden ausgehebelt durch eine sogenannte „Notverordnung“. So auch die Habeas-Corpus-Akte aus dem Jahr 1679, nach der kein Untertan der englischen Krone ohne gerichtliches Verfahren in Haft gehalten werden darf.

„(…), tatsächlich hat der Staat nun Sonderrechte und hat die Gerichte mundtot gemacht.“

Widerstand zu leisten, wenn es bedrohlich wird, dazu ist der Gewerkschaftsanwalt Michael Given – Eilish nennt ihn feige Zunge – nicht bereit. Zum Helden sind, wenn es ernst wird, nur ganz wenige geboren.

Eilish ist bereits in ihrem normalen Alltag als vierfache Mutter und berufstätige Frau, die sich zudem noch um ihren allein lebenden, langsam dement werdenden Vater kümmern muss, sehr gefordert. Nach Larrys Verhaftung und ohne jede Information über seinen Verbleib bricht das Organisationskonstrukt der Familie schnell zusammen. Das Sich-Verlieren oder Sich-Festhalten an Details, das Nicht-Sehen-Wollen von dem, was passieren wird, ist für geschichtsbewusste Leser fast unerträglich. Dabei wird die Replay-Taste der Geschichte so eindeutig gedrückt, denn:

„Wieder wird in den Nachrichten eine Verordnung verkündet, das Hören oder Lesen jedweger ausländischer Medien ist verboten worden, Nachrichtensender aus dem Ausland werden blockiert, mit dem heutigen Tag beginnt auch eine Internetsperre.“

Was stimmt noch, was nicht?

In kürzester Zeit weiß niemand mehr, was stimmt. Die Durchschnittsmenschheit macht Panikkäufe, schnell gibt es viele Güter nicht mehr, es kommt einer dramatischen Inflation. Jede Aufgabe im Alltag wird zu einer Überforderung. Mal gibt es Strom, dann wieder nicht. Das Leben scheint eine einzige Willkür zu sein. Misstrauen macht sich breit, auch unter Menschen, die sich lange kennen.

Eilishs Schwester, die in Kanada lebt, rät ihr dringend zur Flucht. Eilish widerstrebt dies, und man kann sie verstehen: Sie hat das Gefühl, ihren Vater, ihren Mann und dann auch ihren ältesten Sohn, der sich entschlossen hat, mit den Rebellen Widerstand zu leisten, im Stich zu lassen. Zudem wird ihr der Reisepass für das Baby Ben verweigert.

It could be worse. So lautet eine gängige irische Redewendung, die eigentlich tröstlich gemeinst ist. Aber für Eilish nimmt das Drama seinen Lauf. Sie verliert ohne Angaben von Gründen ihre Arbeit. Schulen schließen. Die Tochter Molly will nichts mehr essen, Bailey spricht ständig von einem Wurm. In den Straßen kommt es immer häufiger zu kriegsähnlichen Zuständen mit Detonationen, Scharfschützen stehen an vielen Ecken. Die existenzielle Bedrohung ist alltäglich. Wir wollen es von der Handlung her hierbei belassen. Denn es kommt noch schlimmer, viel schlimmer.

Wie hätte man wissen können?

Alle Dialoge, und davon gibt es viele, sind in einem Fließtext geschrieben, was etwas gewöhnungsbedürftig ist, aber von Beginn an einen unglaublichen Sog erzeugt. Ab Kapitel 8 (mit Beginn der Straßenkriege) wird das Lesen dann noch ein wenig mühsamer, weil schwer zu unterscheiden ist, was tatsächlich passiert, und was sich nur in Eilishs Vorstellungen abspielt. Es ist das – vom Autor bewusst gewollte – Chaos, das sich auf die Leser überträgt.

Mona, eine Frau, die Eilishr auf der viel zu späten Flucht begegnet, spricht aus, worin das Problem besteht:

„Wie hätte überhaupt jemand wissen können, was noch passiert, andere haben es anscheinend ja gewusst, aber ich hab nie verstanden, wie die so sicher sein konnten, also das hätte man sich niemals vorstellen können, im Leben nicht, was da noch alles passiert, und ich hab die, die fort sind, nie verstanden, wie die einfach so gehen konnten, alles zurücklassen, ihr ganzes Leben, wie sie gelebt haben, für uns war das damals vollkommen ausgeschlossen, (…)“

„Das Lied des Propheten“ ist das Buch für unsere Zeit und erschreckend aktuell, wenn man sich vor Augen führt, wie gerne Rechtsextreme und Rechtspopulisten in Deutschland und ganz Europa die Axt an demokratische Institutionen wie zum Beispiel Verfassungsgerichte oder den öffentlich-rechtlichen Rundfunk legen wollen.

Wenn wir gerade die „Schicksalsjahre der Demokratie“ erleben, sollten wir alle die Chance nutzen, am 23. Februar 2025 für die Demokratie und gegen die Feinde der Demokratie zu stimmen. Denn kein vernünftiger Mensch von heute will das erleben, was Eilish Stack und ihre Familie erleben müssen.

CK | NK

Buchinformation

Paul Lynch
Das Lied des Propheten
Aus dem Englischen von: Eike Schönfeld
Klett-Cotta-Verlag, 2024
320 Seiten, gebunden,
ISBN: 978-3-608-98822-2

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Goethe hat gegendert

Sprachen von „Studirenden“: Goethe und Schiller

Sprachen geschlechergerecht von „Studirenden“: Goethe und Schiller in Weimar

„Jeder von uns muss noch ein bisschen was dazu lernen“

Dieses Zitat stammt vom ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt (1918 – 2015), dessen Klugheit, Scharfsinn und Klarheit heute schmerzlich vermissst werden. Das Zitat wäre auch ein gutes Motto für das Jahr 2025. Denn man hat doch den Eindruck, dass aus dem Land der Dichter und Denker das Land der Nörgler und Besserwisser geworden ist. Man werfe nur einen Blick in die so genannten Sozialen Medien oder auf den bundesdeutschen Talkshow-Tingeltangel. Aber wir waren beim Dazulernen.

Ich habe grade jedenfalls beim Radiohören ziemlich viel dazugelernt, und zwar zum Thema geschlechtergerechte Sprache. Eitle Populisten wie Markus Söder oder Hubert Aiwanger malen ja beim Gendern gerne den Untergang des Abendlandes oder zumindest das Ende Bayerns an die Wand – und zeigen damit nur ihre Bildungslücken. Gendern ist nämlich mitnichten eine Erfindung der Grünen.

„Bereits in der deutschen Klassik wurde kräftig gegendert“, schreibt die Autorin Dr. Angela Steidele in einem sehr empfehlenswerten, messerscharf argumentierten Beitrag im Deutschlandfunk vom 29.12.2024, den man hier nachlesen und nachhören kann. Da lernen wir, dass Goethe, Lessing oder Gottsched schon im 18. Jahrhundert unzufrieden mit „grammatikalisch sächlichen Frauen“ waren. Begriffe wie „Bekanntin“ und „Verwandtin“ waren damals keine Seltenheit, sondern eher die Regel.

„Die Korrektur der deutschen Grammatik im Sinne von Geschlechtergerechtigkeit oder auch nur im Dienste der Logik, ist also wahrlich kein neuer Einfall. Lessing, Goethe und Co. sind uns vorausgegangen und inspirieren uns, ihren Faden wieder aufzugreifen, einen Faden, den man im Lauf des 19. Jahrhunderts zerrissen hat.“ (Angela Steidele)

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Wintermorgen im Rilkejahr

Eiskalte Kunst am Wintermorgen

Eiskalte Kunst am Wintermorgen

Wintermorgen

Der Wasserfall ist eingefroren,
die Dohlen hocken hart am Teich.
Mein schönes Lieb hat rote Ohren
und sinnt auf einen Schelmenstreich.

Die Sonne küßt uns. Traumverloren
schwimmt im Geäst ein Klang in Moll;
und wir gehn fürder, alle Poren
vom Kraftarom des Morgens voll.

Rainer Maria Rilke, 1895

Zum Beginn dieses Rilke-Jahres zitieren wir ein sehr frühes Gedicht, das der Dichter im im Alter von nur 20 Jahren veröffentlicht hat. Rainer Maria Rilke wurde vor 150 Jahren am 4. Dezember 1875 in Prag geboren und starb am 29. Dezember 1926 in einem Sanatorium in der Nähe von Montreux.

Rilke kann man immer wieder lesen, aber nicht zu viel auf einmal. Der bisweilen hohe Ton kann auch anstrengend sein. Man darf gespannt sein, wie viele neue Bücher über Rilke in diesem Jahr veröffentlich werden. Eine schöne Schilderung von Rilke lesen wir in Stefan Zweigs lesenswertem Buch »Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers«. Zweig schrieb über seine Begegnung mit Rilke in Paris unter anderem dies:

»Nie gab Rilke etwas aus der Hand, was nicht ganz vollkommen war.«

Gibt es ein schöneres Lob?

NK | CK

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Neujahrstag

„und dann und wann ein weißer Elephant“ – Karussell in Honfleur, Normandie

„Und dann und wann ein weißer Elephant“ – Karussell in Honfleur, Normandie

Am Neujahrstag –
wieder ein Kind zu sein,
das wünschte ich mir.

Zum neuen Jahr ein Haiku von Kobayashi Issa (1763 – 1828).

Alles Gute für 2025!

CK | NK

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