Das wunderbare Antiquariat
Immer wenn wir am Samstag mit dem Bus aus der Stadt nach Hause fahren, kommen wir auf dem Weg zur Bushaltestelle an einem der letzten Antiquariate Tübingens vorbei.
Norbert Schuler heißt der stets freundliche Inhaber des legendären Antiquariats Bader, und er ist umgeben von tausenden von Büchern. Ein Paradies! Einige dieser Schätze stellt Herr Schuler immer in seine Stöberkästen vor die Tür. Ganz ehrlich, ich kann da nicht vorbeilaufen, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Und ich finde fast immer ein interessantes Buch.
Die wunderbaren Jahre
Vor ein paar Wochen habe ich dort „Die wunderbaren Jahre“ von Reiner Kunze entdeckt und sofort gekauft. Ein Klassiker, und ich wollte das Buch schon lange mal lesen. Die schmale Sammlung von Prosatexten wurde 1976 erstmals in der Bundesrepublik veröffentlicht. Reiner Kunze hat die Texte zu seinem Buch 1975 in der DDR verfasst und dann in die Bundesrepublik schmuggeln lassen. Die DDR-Oberen waren nicht begeistert von dem, was sie da lesen mussten. Kunze wurde aus dem Schriftstellerverband der DDR geworfen, bekam jede Menge Schwierigkeiten und siedelte schließlich mit seiner Familie im April 1977 in die Bundesrepublik Deutschland über.
Die Schulbehöre in N. wies die Direktoren an, zu verhindern, daß Fach- und Oberschüler die Mittwochabend-Orgelkonzerte besuchen. Lehrer fingen Schüler vor dem Kirchenportal ab und sagten den Eltern: Entwederoder. Eltern sagten ihren Kindern: Entwederoder. Bald reichten die Sitzplätze im Schiff und auf den Emporen nicht mehr aus. (Meldung, die in keiner Zeitung stand)
Reiner Kunze beschreibt in dem Band in kurzen, prägnanten Texten alles andere als wunderbare Jahre für die jungen Menschen der DDR. Seine ummissverständliche Kritik am System der DDR, das gnadenlose Anpassung und strikten Gehorsam verlangte, kommt hier klar zum Ausdruck. Es wundert nicht, dass Kunzes Akte bei der Staatssicherheit, Decknahmen „Lyrik“ zum Ende der DDR mehr als 1000 Seiten umfasste.
„Na gut“, sagte der Direktor, „es waren keine ausgewaschenen Jeans, es waren hellblaue Cordhosen, einverstanden. Aber müssen es überhaupt Hosen sein? Wenn die Mädel so angetreten sind, alle in ihren kurzen Röcken, das gibt doch ein ganz anderes Bild.“ Dabei schnalzte er mit der Zunge.
In nüchternen Sätzen drückt Kunze aus, wie sehr der SED-Staat auf Unterdrückung, Homogenität, frühe Militarisierung und Gehorsam setzte. Und er macht deutlich, wie sehr dieser Unrechtsstaat Angst vor der individuellen Entfaltung seiner Bürgerinnen und Bürger hatte. Alles war diesem Staat verdächtig: Jeans, Orgelmusik, Bücher, Nickelbrillen und vieles mehr. Gerade für junge Menschen muss diese permanente Kontrolle und Gängelung kaum erträglich gewesen sein. Wie gut die sozialistische Erziehung schon bei den kleinsten DDR-Bürgern in der Grundschule funktioniert hat, zeigt der erste Text dieses sehr lesenswerten Buches.
SECHSJÄHRIGER
Er durchbohrt Spielzeugsoldaten mit Stecknadeln. Er stößt sie ihnen in den Bauch, bis die Spitze aus dem Rücken tritt. Er stößt sie ihnen in den Rücken, bis die Spitze aus der Brust tritt.
Sie fallen.
„Und warum gerade diese?“
„Das sind doch die anderen.“
„Die wunderbaren Jahre“ wurden schnell zu einem Beststeller, von westdeutschen Linken mit Betroffenheit gelesen, der in viele Sprachen übersetzt wurde. Das Buch ist ein eindrückliches, lesenswertes Zeitzeugnis, über das der Literaturchef der ZEIT und Autor Adam Soboczynski vor ein paar Jahren sagte:
„Wer noch oder wieder glaubt, die DDR sei ein an sich lohnendes Experiment gewesen, sollte diesen Klassiker zur Entgiftung lesen.“
Und jetzt? Wählen gehen, Demokratie stärken!
Vor ein paar Tagen habe ich in der Süddeutschen Zeitung ein Bild von einer AfD-Demonstration gesehen. Zu sehen ist ein mittelalter Mann mit schwarzer Wollmütze und zwei großen Flaggen an einer Stange, die er über der Schulter trägt. Es sind die Flaggen Russlands und der DDR. Wenn man nach der Lektüre von Kunzes Buch so ein Bild sieht, versteht man die Welt nicht mehr. Die unverhohlen zur Schau getragene Ostalgie und die Sehnsucht nach einem autoritären Staat gehören aber offensichtlich zum Umdeutungsprogramm der DDR-Vergangenheit von rechts. So beschreibt es der Historiker Volker Weiß in seinem neuen Buch „Das Deutsche Demokratische Reich“, das Ronen Steinke gerade in der Süddeutschen Zeitung rezensiert hat.
Am Sonntag wird der Deutsche Bundestag neu gewählt, und man fragt sich, wie das alles zusammengeht? Auf der einen Seite der Ruf von rechts nach einem kompromisslosen, autoritären Staat mit einer völkischen Gesinnungspolizei, auf der anderen Seite dieses ständige verlogene Gejammere der rechten Populisten, dass man in Deutschland nicht mehr alles sagen dürfe.
Aber der Blick nach Westen über den Atlantik, für die Jugendlichen in Ost und West lange Zeit eine Art gelobtes Land, stimmt einen auch nicht hoffnungsfroh in diesen Tagen. Die Trump-Administration hat Meinungsfreiheit längst umdefiniert. Sie gilt nur noch für jene, deren Äußerungen zu Trumps irrem Plan des sogenannten Golden Age of America passen. Willkommen im Jahr 1984!
Ich wünsche uns allen eine gute, demokratische Wahl! Seien wir fürsorglich zu unserer liberalen Demokratie, sie hat lange gehalten, aber sie ist zerbrechlich. Dabei brauchen wir sie gerade jetzt!
NK | CK
Buchinformation
Reiner Kunze
Die wunderbaren Jahre
FISCHER Taschenbuch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-596-22074-8
Neuausgabe mit einem Vorwort von Ines Geipel
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